Herman Melville

Die Encantadas
oder
Die Verzauberten Inseln

Erste Skizze
Die Inseln. Aufs Große Gesehen

– Das darf nicht sein, hub da der Fährmann an,
Sonst ist es unversehns um uns geschehn;
Denn jene Inseln auf dem Meeresplan
Sind schwankes Land, sie fließen und zergehn
Und treiben trughaft auf endlosen Seen.
Wandernde Inseln sind sie drum genannt,
Und wie genarrt von hinterlistigen Feen
Hat mancher Arme sie zu spät erkannt
Und tief in Not und Elend sich verrannt.
Wer nämlich einmal seinen Fuß gesetzt
Auf jenen Strand, der geht nicht sicher mehr
Und wandert selber schwank und wirr einher.

Dunkel und Öde: nimmersatte Gruft,
Die immer neu nach Aas und Leichen ruft.
Die Eule hat allhier ihr Wohngebiet
Und stößt ihr ekles Kreischen in die Luft,
Indes Singvogel diese Stätte flieht
Und Geisterklage hohl die Luft durchzieht.

Man nehme fünfundzwanzig Haufen Kohlenschlacke, draußen vor der Stadt auf einem Grundstück wahllos ausgekippt. Man stelle sich dann vor, einige von den Haufen wären zu Bergen vergrößert, und was vom Grundstück frei geblieben ist, das bedecke die See – dann hat man eine geeignete Vorstellung vom allgemeinen Eindruck der Encantadas, der Verzauberten Inseln. Eine Gruppe eher von erloschenen Vulkanen als von Inseln, dem Aussehen vergleichbar, das die Welt im ganzen bieten würde, wenn ein feurig Strafgericht vom Himmel gefallen wäre.

Füglich zu bezweifeln, ob ein zweiter Fleck auf Erden, was trostlose Verlassenheit betrifft, mit dieser Gruppe wetteifern kann. Aufgelassene Friedhöfe aus alter Zeit, alte Städte, die mählich verfallen – ja, das sind wahrlich traurige Bilder. Immerhin: wie jedes Ding, das dermaleinst mit der Menschheit zu tun gehabt, erwecken sie in uns Gedanken der Sympathie, seien sie noch so trauervoll. So ruft selbst das Tote Meer, was für Empfindungen es sonst auch wecken mag, beim Pilger doch unwillkürlich Gefühle wach, die er nicht unbedingt als unangenehm empfindet.

Und was die Verlassenheit angeht: die großen Wälder des Nordens, die unbefahrenen Wasserflächen, die Gletscherfelder in Grönland – das sind wohl die tiefsten Einsamkeiten, die der Mensch erleben kann. Aber der Zauber des Wandelbaren, der Gezeiten und Jahreszeiten, mildert ihre Schrecken; denn mag auch kein Mensch zu ihnen kommen, so besucht die Wälder doch der Mai, im weltenfernen Meer spiegeln sich vertraute Sterne, nicht anders als im Erie-See, und in der klaren Luft eines schönen Tages am Polarkreis blinkt das lichtverzauberte azurene Eis schön wie Malachit.

Den besonderen Fluch der Encantadas, wenn man es so nennen darf, und das, was sie an Verlassenheit über Edom und den Pol noch hinaushebt, macht eben dies aus: daß nie der Wechsel zu ihnen kommt, nicht der Wechsel der Jahreszeiten und nicht der Wechsel der Sorgen. Vom Äquator durchschnitten kennen sie weder Herbst noch Frühling, und da sie schon zerglüht sind wie die letzte Hefe des Feuers, wirkt auch der Verfall nicht mehr groß auf sie ein. Die Wüste erfrischt der Regen; aber auf diesen Inseln regnet es nie. Wie geborstene syrische Kürbisse, die man in der Sonne welken läßt, sind sie sprüngig geworden von einer immerwährenden Dürre unter sengendem Himmel. »Erbarme dich mein«, scheint der klagende Geist der Encantadas zu schreien, »und sende Lazarus, daß er das Äußerste seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge, denn ich leide Pein in dieser Flamme.«

Eine weitere Besonderheit der Inseln ist ihre in die Augen springende Unbewohnbarkeit. Man empfindet es als hinlänglichen Ausdruck hoffnungsloser Zerstörung, daß in den Schlüften des vom Unkraut überwucherten Babylon der Schakal haust; aber die Encantadas dulden nicht einmal den Abhub des Tierreichs. Mensch und Wolf haben hier gleichermaßen verzichtet. Kaum mehr als Reptilienleben findest du: Schildkröten, Eidechsen, riesige Spinnen, Schlangen und die seltsamste Widersinnigkeit der fremdländischen Natur, den Aguano. Keine Stimme, kein Blöken, kein Heulen vernimmt man; der vordringlichste Lebenslaut hier ist das Zischen.

Auf den meisten Inseln, wo überhaupt Pflanzenwuchs gedeiht, ist er undankbarer als in der Ödnis von Aracama. Wirres Dickicht von zähen Ruten, ohne Frucht und namenlos, schießt empor zwischen tiefen Spalten im verkrusteten Fels und tarnt sie arglistig. Vielleicht auch ein hitzedürrer Bestand mißwachsener Kaktusbäume.

An vielen Stellen ist die Küste felsumlagert oder sagen wir besser schotterumlagert. Ineinander verquollene Massen schwärzlichen oder grünlichen Zeugs, der Schlacke aus dem Hochofen ähnlich, bilden bisweilen dunkle Klüfte und Höhlen, in die das Meer unruhvoll Gischtgewitter entlädt. Die hängen darüber als ein wogender grau-niesliger Nebel, und kreischende Schwärme unheimlicher Vögel flattern dazwischen und verstärken den schändlichen Lärm. Mag die See draußen noch so ruhig sein, für die Dünung und das Felsgestein hier am Strand gibt es keine Ruhe. Sie peitschen und werden gepeitscht, auch wenn draußen der Ozean mit sich in vollem Frieden liegt. An den drückenden Wolkentagen vollends, wie sie in jener Gegend des wasserreichen Äquators häufig sind, bieten die dunklen, glasig verbackenen Gesteinsmassen, da und dort in weißen Strudeln und Brechern gefährlich aus dem Wasser ragend, einen durchaus unterweltlichen Anblick. Nur in einer ins Bodenlose gestürzten Welt könnte es solche Landschaft geben. Wo der Strand nicht vom Feuer wie ausgebrannt scheint, breitet er sich in weitem, flachem Geröll mit zahllosen leeren Muschelschalen, dazwischen dann und wann vermodertes Zuckerrohr, Bambus auch und verfaulte Kokosnüsse, angeschwemmt ans Gestade einer dunkleren Welt von den lieblichen Palmeninseln im Westen und Süden, aus dem Paradies geradewegs in den Tartarus – und mittendrin unter den Überresten ferner Schönheit findest du wohl auch einmal ein Stück verkohltes Holz und faulende Rippen eines gestrandeten Schiffs. Das wird keinen erstaunen, wenn er sich erst die gegeneinander anstürmenden Strömungen betrachtet hat, wie sie in der ganzen Inselgruppe fast jede der weiten Durchfahrten mit Strudeln und Wirbeln sperren. Und in der Luft gehen Gezeiten um, nicht weniger willkürlich als in der See. Nirgends ist der Wind so leicht, so unstet, so unverläßlich durch und durch, so häufig von lästigen Flauten unterbrochen wie auf den Encantadas. Schier einen Monat hat es oft schon gedauert, bis ein Schiff von einer Insel zur anderen kam, obwohl nur neunzig Meilen dazwischen lagen. Die Gewalt der Strömung ist dabei so groß, daß die als Schlepper arbeitenden Boote eben hinreichen, das Schiff vom Stranden zu bewahren, zu einer Beschleunigung der Fahrt aber nichts beitragen können. Es kommt auch vor, daß ein Schiff von draußen die Gruppe schlechterdings nicht ansteuern kann, wenn nicht schon, bevor sie überhaupt nur in Sicht kommt, reichlich die später zu erwartende Abtrift mit in Rechnung gestellt wird. Dafür gibt es in anderen Fällen eine geheimnisvolle nach innen ziehende Strömung, so daß manchmal ein vorübersegelndes Schiff, das gar nicht nach den Inseln möchte, unwiderstehlich herangezogen wird.

Es ist richtig: zu früherer Zeit (und bis zu einem gewissen Grad ist es heute noch so) haben große Flotten von Walfängern über dem von den Seeleuten so genannten Verzauberten Grund nach Spermazeti gefischt. Das spielte sich aber, wie später noch zu zeigen sein wird, auf der Höhe der weit außen gelegenen großen Insel Albemarle ab und nicht in dem Wirrsal der kleineren Inseln. Dort außen gibt es reichlich Platz und freie Fahrt, und deshalb gilt dort das bisher Gesagte nur in bedingtem Ausmaß. Freilich entwickelt auch dort die Strömung mitunter eine eigentümliche Kraft und wechselt auch auf seltsam willkürliche Weise.

So kommt es zu gewissen Zeiten tatsächlich vor, daß völlig unerklärliche Strömungen auf einen weiten Umkreis um die gesamte Inselgruppe bestimmend werden, und zwar sind sie mitunter so stark und unregelmäßig, daß ein Schiff, das vielleicht vier oder fünf Meilen Fahrt macht, trotzdem von dem eingehaltenen Kurs abgebracht wird. Aus diesem Grunde haben sich in die nautischen Berechnungen der Seefahrer allerlei Ungenauigkeiten eingeschlichen, und da überdies die schwachen und unsteten Winde dazukamen, hat sich ziemlich lang die Ansicht erhalten, es gebe zwei voneinander unterschiedene Inselgruppen auf dem Breitengrad der Encantadas, in einer Entfernung von etwa einhundert Seemeilen. Die früheren Besucher der Inseln, die Seeräuber, hegten diesen Glauben, und noch um 1750 tragen die Karten aus jener Gegend des Pazifik dem seltsamen Irrtum Rechnung. Der Anschein der Unbestimmtheit und Unwirklichkeit, was die Lage der Inseln betrifft, hat denn wohl auch mit dazu beigetragen, daß die Spanier sie als die »Encantada«, die Verzauberte Gruppe, bezeichneten.

Der Reisende von heute wird unter dem Eindruck ihrer Beschaffenheit, so wie sie nun unbestritten existieren, eher zu der Auffassung neigen, daß man ihnen wohl auch deshalb den Namen gegeben hat, weil Merkmale des Verhexten, Unbewohnbaren die ganze Gruppe so deutlich kennzeichnen. Nirgends empfängt man deutlicher den Eindruck des einstmals Lebensvollen, das sündhaft aus der Fülle in die Dürre zerkrümelt ist. Sodomsäpfel, wenn man sie berührt hat – so scheinen diese Inseln.

Mögen auch die Strömungen ihre Lage von außen unbestimmt erscheinen lassen, vom Gestade aus gesehen wirken die Inseln ganz unwandelbar und unveränderlich: in eine leichenhafte Todesgestalt gebannt, gegossen, geprägt.

Noch in einem weiteren Sinn, muß man sagen, ist die Bezeichnung »Verzaubert« nicht übel angebracht. Im Hinblick auf das eigentümlichste Kriechtier, das die sonst so wilde Gegend bewohnt – und das der Gruppe deshalb auch ihren zweiten spanischen Namen, Galapagos, gegeben hat – im Hinblick auf die dort häufig anzutreffenden Schildkröten hat sich bei den meisten Seeleuten ein Aberglaube eingebürgert, den man ebensowohl schauderhaft wie groteskkomisch finden kann. Sie glauben nämlich allen Ernstes, daß die gottlosen Seeoffiziere, und insbesondere die Kommodoren und Kapitäne, bei ihrem Tod (und manchmal auch schon vor ihrem Tod) in Schildkröten verwandelt werden und hinfort jene heißen Sanddürren bevölkern, einsame Alleinherrscher in einem Asphaltreich.

Kein Zweifel, ein Einfall, wunderlich und schmerzhaft wie dieser, ist ursprünglich der leiderfüllten Landschaft selber entsprungen. Doch haben ihn im einzelnen wohl die Schildkröten durch ihren Anblick entstehen lassen. Abgesehen von ihrer äußeren Erscheinung im engeren Sinn haben sie auch etwas seltsam Verdammtes, aus eigenem Entschluß Verstoßenes in ihrem kreatürlichen Ausdruck. Ewiger Kummer, hoffnungslose Verdammnis drücken sich in keiner Tiergestalt so zwingend aus wie in der ihren, und der Gedanke an ihre wunderbare Langlebigkeit paßt nur zu gut in dieses Bild.

Es wird mir den verdienten Vorwurf eintragen, daß ich in einer ganz dummen Weise an Zaubergeschichten glaube, aber ich kann das Geständnis nicht unterdrücken: noch jetzt, wenn ich die Menschenfülle der Stadt verlasse und mich im Juli und August in den Adirondacks sattwandere, ganz losgelöst vom Städtischen und umso näher den heimlichen Zaubern der Landschaft – wenn ich mich auf einer solchen Wanderung niederlasse auf der moosigen Höhe einer baumverwachsenen Schlucht, unter dürren, gestürzten Föhrenstämmen, und mir wie im Traum meine alten, langvergangenen Wanderfahrten im glutversengten Inneren der Verzauberten Inseln überlege; wenn mir da jählings die dunklen Panzerschalen vor Augen treten und die langen, müden Hälse, die sich vorrecken aus dem blattlosen Gestrüpp; wenn ich die glasiggebrannten Felstrümmer vor mir sehe, zerrieben und tief ausgefurcht vom jahrhundertelangen Hinundhergewälztwerden durch die Schildkröten, die sich kümmerliche Wasserpfützchen suchen – dann kann ich mich des Gefühls kaum erwehren, daß auch ich zu meiner Zeit einmal auf bösem, verhextem Land geschlafen habe.

Ja, so lebendig ist die Erinnerung in mir oder soll ich sagen die verzaubernde Wirkung meiner Phantasie, daß ich nicht recht weiß, ob ich nicht vielleicht manchmal im Gedanken an die Galapagos einer optischen Täuschung unterliege. In gesellschaftlich heiterer Umgebung und am meisten bei Festlichkeiten unter Kerzenschimmer in altmodischen Herrenhäusern, wo die Schatten tief in die Winkel eines rechteckig gebauten, geräumigen Saals fallen und die Illusion eines spukhaft durchwachsenen Waldesdickichts erwecken, ist es mir oft widerfahren, daß meine Festgenossen über meinen starren Blick und meine plötzlich veränderte Miene stutzig geworden sind, weil mir jählings war, als sähe ich es langsam aus den Einsamkeiten meiner Traumwelt hervortauchen und schwerfällig über den Fußboden kriechen: das Geisterbild einer Riesenschildkröte mit der Flammenschrift » Memento« breit auf ihrem Rücken.

Zweite Skizze
Zwei Seiten einer Schildkröte

Widrig dem Blick und gräßlich ungeschlacht,
Daß Frau Natur sich selbst davor entsetzt,
Beschämt, weil sie derlei hervorgebracht,
Die sonst als Schöpferin so hoch ergötzt,
Doch hier mit Zerrgestalt den Blick verletzt.
Wie sehr muß erst ein Menschenaug erschrecken,
Denn was es je Entsetzliches geschaut,
Muß sich wie eitel Kinderspiel verstecken
Vor den Geschöpfen, die dies Land bedecken.

Seid ohne Furcht, der fromme Pilgrim spricht,
Denn was an Ungetier ihr vor euch seht,
Ist Mummenschanz – in Wahrheit lebt es nicht.

Und seinen Zauberstab reckt er empor,
Worauf das Schreckbild sich in Nichts verlor,
Ins Ungeschaffne, Dunkle wie zuvor.

Im Hinblick auf die bisher gegebene Schilderung ist zu fragen: kann man überhaupt fröhlich sein auf den Encantadas? Ja – das heißt, es muß einer natürlich zunächst einmal einen Anlaß zur Fröhlichkeit haben,