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Erster Band der Lepso-Trilogie

 

Totentaucher

 

von Wim Vandemann

 

 

 

 

Pabel-Moewig Verlag KG, Rastatt

Kleines Who is Who

 

 

Atlan – der Tod des Lordadmirals wird zum interstellaren Medienereignis

Decaree Farou – Atlans engste Mitarbeiterin

Perry Rhodan – der Großadministrator des Solaren Imperiums sieht fern

Chrekt-Chrym – ein Topsider im Dienst der USO

Benech-ril-Hon und Hachtcha-Hon – Mitbewohner von Chrekt-Chrym, die sich um den Fortbestand ihres Volkes verdient machen wollen

Pchorr-Chrym – Despot von Topsid

Olip a Schnittke – der Marsianer der a-Klasse hält sich für eine positive Mutation

Yeraan Quamara – ferronischer Analytiker der USO

Enogir Drafal – ein Maskenbildner

Aartemis Giiv – die überragende USO-Spezialistin spielt eine Schlüsselrolle

Kapitän Mamczak – ein Sternenskipper, der noch echte Bücher liest

Blasch Hünerfeld – ein seltsamer Zeitgenosse

Aerticos Gando – Thakan von Lepso

Sini Paikkala – ein Mann, den Frauen einfach lieben müssen

Wendel Tomtok – Paikkalas Vorgesetzter

Petrisse Madenko – begleicht Spielschulden

Dodo da Sralan – Trividdirektorin mit einem Herz für leichte Unterhaltung

Heydi – Künstlername einer weddonischen Bedienung

Imperator Dabrifa – Herr über ein ganzes Sternenreich

Artemio Hoffins – ein Feingeist, in den Imperator Dabrifa große Erwartungen setzt

Briseis und Ghogul – Hoffins’ verspielte Gehilfen

Dr. Vaatwan – ein Naat, der die Stürme liebt

Direktor Scheck – sowohl Inhaber als auch Leiter des Paukentheaters von Orbana

Tipa Riordan – Piratin

Kampt Ruyten – deren Erster Wesir

Valjynyn – ein Trox

Die Sozietät – ein Haufen Juristen

Gevatter Dudschor – ein Oupanko im Showbusiness

Corronko – ein Unither, der sich für einen Nichtsnutz hält

Dibo Degaynor – der Wissenschaftler von Kopernikus ist alles andere als ein Freund des Solaren Imperiums

Tamara Knorr – Hypertorikerin, und

Godehard Roppetimor – Kryptolinguist, seine Kollegen

Madam Phlagotckis – Betreiberin einer kommerziellen Strafgaleere

Bruder Alexander – Gewährsmann in Sachen Zeit und Ewigkeit

Dr. Frehma – der Arzt hat nur einen einzigen, allerdings sehr privaten Patienten

Odysseus – ein traumatisiertes Raumschiff

Penzar da Onur – ein Arkonide in einem defekten Haus

Der Hökerer – ein Hökerer

Prolog

 

Perry Rhodan erschien im Holovidwürfel. Er trug ein schlichtes, lindgrünes T-Shirt und hielt ein Glas frisch gepressten Orangensaft in der Hand. Sein Holobild war in Anbetracht der 28.444 Lichtjahre, die zwischen ihm auf Terra und mir im Center lagen, erstaunlich exakt. Man konnte die winzigen Stückchen Fruchtfleisch im Saft schweben sehen. Ich hob erwartungsvoll die Brauen und schaute ihn an. Er musterte mich.

»Ich wollte nur kurz kondolieren«, sagte Perry, »mein aufrichtiges Beileid, Lordadmiral.« Jetzt verzog er seine Lippen zu einem schuljungenhaften Grinsen. Dass er einen Hang zu makabren Scherzen hatte, war mir neu.

Und ich kannte ihn immerhin schon über tausend Jahre.

»Wer ist denn gestorben?«, fragte ich.

»Du.«

»Oh«, sagte ich. Dabei hatte mein Tag auf Quinto-Center eigentlich ganz gut begonnen …

 

 

Erstes Buch
 
 
 
Lepso

Unser aufrichtiges Beileid, Lordadmiral

 

 

Obwohl Quinto-Center um keine Sonne kreiste, sondern fern aller Gestirne im interstellaren Leerraum seine Bahn zog, gab es hier, in diesem riesigen ausgebauten Asteroiden, doch einen geordneten Tagesablauf. Wir redeten von Morgen, Mittag, Abend und Nacht, und glichen die Lichtverhältnisse diesen künstlichen Tageszeiten ein wenig an.

Vielleicht wäre es rationaler, wenn jede Schicht das Gefühl hätte, am Tag zu arbeiten, unabhängig davon, was die Uhr zeigte.

Aber die Psychologen der USO meinten, es sei sinnvoll und der seelischen Gesundheit der Mitarbeiter zuträglich, wenn wir diesen uralten Rhythmus simulierten, der uns ja, wie die Chronobiologen nicht müde werden zu erwähnen, angeblich in den Genen steckt. Unser Stammhirn verlangte nach Tag und Nacht, also gaben wir es ihm. Also leisteten wir Tag- und Nachtschichten und begrüßten uns entsprechend.

An diesem Morgen – an diesem so genannten Morgen – war ich sehr früh auf. Ich wollte vor der Tagesroutine – dem Aktenstudium der Agentenberichte – ein wenig im Japanischen Garten meditieren, den ich vor langer Zeit selbst hatte anlegen lassen. Die Atmosphäre in der Gartensphäre war auf kühl, das Licht unter der Kuppel auf dämmerig geschaltet. Eine leichte Brise durchzog die Anlage.

Der kleine Fluss schlängelte sich in Form eines S. Dort, wo der obere Bogen des S das Land von drei Seiten umschloss, lag der Steingarten. Den Bauch des Drachens nennen die Japaner dieses von Wasser umflossene Areal, einen günstigen Ort. Der Fluss strömte so langsam, dass sich die grünen Hügel an seinem Ufer darin spiegelten. Die Lotosblüten standen weit offen.

Aus einer entfernten Kiefer hörte ich einen Vogel rufen. Allerdings saß dort kein Vogel, es war nur eine akustische Projektion der Positronik, die für den Garten zuständig war. Wieder rief der Vogel. Es hörte sich an wie ein lautes, einsilbiges »Krohk, Krohk«. Ich stutzte.

Der Stimmfühlungsruf eines Felsenpinguins, erkannte mein Extrasinn.

»Irrtum, Positronik«, sagte ich halblaut, »in Japanischen Gärten nisten keine Pinguine.«

»Nicht?«, erklang eine freundliche Stimme mit weiblichem Timbre von irgendwo her. »Schade. Man lernt nie aus. Aber im Ernst: Ich wollte mal etwas kreativ sein. Welche Tierstimmen darf ich Ihnen einspielen, Lordadmiral? Eine Nachtigall? Eine Lerche? Ein bellendes Krokodil?«

Ich winkte ab und sagte: »Lass gut sein. Gar keine Geräusche, bitte. Die Stille hat einen wunderbaren Klang.«

»Interessante Theorie«, hauchte die positronische Stimme.

Ich setzte mich an den Rand des Steingartens und versuchte, mich in das Wellenmuster zu versenken, das in den Sand geharkt war.

Aber an diesem Morgen gelang es mir nicht. Ich räusperte mich, versuchte es noch einmal.

Nur der Narr sucht Unerzwingbares zu erzwingen, kommentierte mein Extrasinn.

Welchen alten Zen-Meister zitierst du?

Zen-Meister Extrasinn, gab der Logiksektor zurück.

Ich war unruhig, wenn auch aus keinem ersichtlichen Grund. Es gab solche Tage. Ich hatte im Laufe meines Jahrtausende langen Lebens viele erlebt.

Ich erhob mich, verließ den Garten und begab mich in Richtung Zentralkugel. In der Mitte des ausgehöhlten, 62 Kilometer durchmessenden Asteroiden, dessen Innenraum von einem Skelett aus bläulich schimmernden Terkonit-Verstrebungen stabilisiert wurde, befand sich eine fast ein Kilometer große Kugel, das eigentliche Schaltzentrum der USO, der United Stars Organisation. Die Schale der Kugel bestand ebenfalls aus Terkonit, das hier sogar fünf Meter dick war. Inmitten der Kugel befand sich der Zentralbunker, und dort, im Allerheiligsten der USO, hatte ich meinen Arbeitsbereich, ebenso wie Decaree.

Decaree Farou war mir über die Jahre mehr geworden als eine persönliche Assistentin und gelegentliche Stellvertreterin. Viel mehr sogar. Sie war einer der wenigen Menschen, auf deren Anblick ich mich wirklich freute. Und zwar mit jener melancholischen Freude, die wir Unsterbliche empfinden, wenn wir mit Menschen umgehen, die unsere Zuneigung haben und von denen wir wissen, dass wir sie möglicherweise um Jahrtausende überleben werden, dass sie eine Tages nicht mehr sein werden als eine vage Erinnerung.

Ich passierte die letzte Identifizierungsschleuse mit ihren Anlagen zur paramechanischen IV-Schwingungs- und Bewusstseinssondierung. Der Vorgang kostete mich ein paar Sekunden; die Schleusenpositronik unternahm einen Versuch, die kurze Zeit mit Small Talk zu füllen, registrierte aber meinen Unwillen und wünschte mir nur einen schönen und erfolgreichen Tag.

Ich unterdrückte den Wunsch, die Maschine nach ihrer Definition für »einen schönen und erfolgreichen Tag« zu fragen; wer sich auf Diskussionen mit diesen künstlichen Wächter-Intelligenzen einließ, brauchte einen besonderen Humor.

Es war noch früher Morgen nach Terrastandardzeit, als ich in meinem Büro saß und Decaree sich mittels Holovid aus dem Nachbarzimmer meldete.

»Da bist du endlich. Ich dachte, Aktivatorträger brauchen wenig Schlaf?«

»Aktivatorträger, die in der Nacht – ach, denk dir selbst eine spitze Bemerkung aus …«

Sie schüttelte tadelnd den Kopf, die kurzen schwarzen Haare glänzten bläulich im Licht. »Übrigens will dir noch jemand guten Morgen sagen, Lordadmiral, und der hängt schon ein Weilchen in der Leitung. In der langen Leitung von Terra«, sagte sie lächelnd. »Auch auf Terra scheint man früh an die Arbeit zu gehen. Ein gewisser Herr Rhodan will dich sprechen.«

Ich musste innerlich grinsen. Decaree ließ den immer noch mächtigsten Mann der Galaxis einige Minuten im Hyperkanal hängen, um mit mir zu plaudern. Aber wenn es allzu dringend wäre, hätte sie entsprechend reagiert.

Ich seufzte. »Dann stell den gewissen Herrn Rhodan durch, Deca.«

Im nächsten Moment erschien Rhodan im Trividwürfel. Das Hologramm zeigte ihn am Schreibtisch, er trug ein schlichtes T-Shirt, das von seinem Zellaktivator ausgebeult wurde. Rhodan im T-Shirt – etliche Medien, die sich der Hofberichterstattung widmeten, hätten für dieses Bild eine Menge Solar bezahlt: »Der Großadministrator ganz privat – in einer Hand ein Glas gesunden Orangensaftes, mit der anderen Hand leitet er die Geschicke des Solaren Imperiums in dieser schwierigen Zeit …«

In der Zeit der kämpfenden Reiche, sozusagen.

Aber selbstverständlich würde kein Magazin, das von Enthüllungen aus der Sphäre der High Society lebte, Kenntnis von diesem Gespräch erhalten. Ebenso wenig wie die Geheimdienste der anderen Sternenreiche der Menschheit, die nach dem Dolan-Krieg aus dem Solaren Imperium hervorgegangen waren.

Oder besser: aus ihm heraus gebrochen wurden – die Geheimdienste des Carsualschen Bundes, der Zentral-Galaktischen Union oder des Imperium Dabrifas. Was immer zwischen Terra und Quinto-Center, der Zentrale der USO, hin und her gesendet wurde, war zuvor mehrfach chiffriert worden. Die Hypersendung wurde positronisch aufgesplittet, die einzelnen Datenpakete wurden über unterschiedliche Relaisstränge und in jeweils individueller Zeittaktung transmittiert und erst in den Dechiffrierzentralen von Imperium Alpha oder hier in Quinto-Center entschlüsselt.

Wenn es in dieser Galaxis eine abhörsichere Verbindung gab, dann war es diese.

Und vielleicht noch die zu Olymp, der Handelswelt, mit der Perry so große Pläne hegte.

»Guten Morgen«, begrüßte ich den Schmied solcher großen Pläne.

»Ich wollte nur kurz kondolieren«, sagte Perry; »mein Beileid.« Er grinste.

»Wer ist denn gestorben?«, fragte ich.

»Du.«

»Oh!« Ich lachte. »Ich hatte vor ein paar Tagen nach einem – nennen wir es einmal: diplomatischen Gelage mit dem Springer-Patriarchen Meroschav und seiner Sippe ein wenig Magenschmerzen. Die Gewürze, die die Springer für ihren Trottasch benutzen, sind sogar für meinen Zellaktivator nur schwer zu verkraften, aber dass ich tot wäre, halte ich nun doch für eine gelinde Übertreibung.«

Rhodan nickte und sah mich prüfend an. »Du lebst? Bist du ganz sicher?«

Decaree war ins Büro getreten und hatte sich hinter mich gestellt.

»Er ist sehr lebendig, Großadministrator. Ich kann es bezeugen, kann es aber auch gerne noch einmal überprüfen. Wenn es der Sicherheit des Solaren Imperiums dient, das uns so großzügig mit Finanzmitteln ausstattet.«

Rhodan lachte. »Dann muss es wohl doch eine Fehlmeldung sein, was das Wohlfahrtsfernsehen von Lepso heute am Vormittag berichten wird: dass Lordadmiral Atlan in der Nacht einem Attentat zum Opfer gefallen ist.«

»Woher weißt du, was ein Nachrichtensender auf Lepso bringen wird? Hast du das dortige Programm abonniert?«

»Die SolAb hat einen Verbindungsmann zum dortigen Sender.«

Ich musste lachen. »Die Solare Abwehr? Galbraith Deighton lässt Informationen aus dem Fernsehen sammeln? Da sind meine USO-Agenten etwas wählerischer. Man darf nämlich«, sagte ich mit pädagogisch erhobenem Zeigefinger, »nicht alles glauben, was im Fernsehen läuft. Vielleicht sind Deightons Leute an ein Programm geraten, das ›Was ich mir für die Zukunft wünsche‹ heißt oder ›Wovon der Thakan träumt‹ und das vom lepsotischen Wohlfahrtsdienst betrieben wird.«

Lepso und sein Staatlicher Wohlfahrtsdienst, der SWD – was für eine Bezeichnung! Lepso hat einen Regierungschef, sein Titel lautet Thakan, aber in Wirklichkeit hat der SWD das Heft in der Hand. Und diese Organisation einen Wohlfahrtsdienst zu nennen, zeugte von einem ganz eigentümlichen Sinn für Humor. Genauso gut könnte man einen ihrer Folterkeller als Ort für aussageermunternde Leibesertüchtigungen bezeichnen. Der SWD beherrschte Lepso, und seine Herrschaftsinstrumente waren perfider als alles, was diese Galaxis sonst aufzubieten hatte.

Aber vielleicht braucht ein Planet wie Lepso eine derartige Regierung, dachte ich zynisch. Lepso – was immer diese Welt war: Hauptumschlagplatz für alle Drogen der Galaxis von A wie arkonidisches Adrimohn bis Z wie tefrodisches Zeupeptum, Asyl für Schwer- und Schwerstkriminelle, Spielhölle, Hexenkessel und die erste Adresse für alle, die Befriedigung für ihre Süchte und Laster suchten – was immer Lepso war, eine Welt, die dem Solaren Imperium und seinen Gesetzen und also auch der USO, Rhodan und mir freundlich gesinnt war, eine solche Welt war Lepso nicht.

Und der Tag, an dem ich auf Lepso sterben würde, hätte gute Chance, vom SWD – oder seiner Handpuppe, dem Thakan – als Nationalfeiertag ausgerufen zu werden: »Meine Damen und Herren, verehrte Intelligenzwesen dieser Galaxis und der angrenzenden Sternenregionen: Versäumen Sie nicht, auch in diesem Jahr den ATLAN-Gedenktag auf Lepso zu verbringen. War es doch hier, dass der Lordadmiral am 1. März 3102 zu seinen arkonidischen Ahnen gerufen wurde. Nicht enden wollende Lustbarkeiten und unvorstellbare Vergnügungen garantiert!«

»Träumst du, alter Mann?«, fragte Rhodan und nippte vom Orangensaft.

Decaree hatte ihre schmale Hand auf meine Schulter gelegt. Ich schüttelte sie sanft ab. Der Tod war für Rhodan ein elendes Thema. Er hatte einst eine Familie gehabt, eine Frau, Mory, und zwei Kinder, Suzan und Michael. Und er hatte sie verloren, alle, der Reihe nach. Michael – der wunderbar verrückte, eigensinnige Michael, der es liebte, in der Maske des Freihändler-Königs Roi Danton aufzutreten – Michael war nun bereits seit über 660 Jahren tot, gefallen im Dolan-Krieg; Mory und Suzan waren vor 171 Jahren beim Panither-Aufstand von 2931 getötet worden. Und sein erster Sohn, Thomas Cardiff, den er mit der Arkonidin Thora hatte – manchmal schien etwas wie ein Fluch über der Rhodan-Familie zu liegen.

Als müssten die, die ihm am nächsten stehen, für seine kosmische Karriere zahlen …

»Ja«, antwortete ich, »manchmal träume ich. Aber du willst nicht wissen, wovon, oder?«

Er schüttelte lächelnd den Kopf.

»Nicht heute. Gelegentlich können wir uns ja über unsere Träume austauschen, Arkonidenfürst. Immerhin: eine gute Nachricht, dass die Nachricht von Lepso nur eine Medienente ist. Aber du schaust dir die Sendung trotzdem an, ja?«

»Natürlich«, erwiderte ich, »alle Arkoniden liegen doch, wenn man nicht aufpasst, meist tagelang vor den Fiktivspiel-Monitoren, glotzen, verdummen und schlaffen ab, weißt du das nicht mehr?«

Rhodan blickte an mit vorbei, Decaree in die Augen.

»Sie passen auf, dass er nicht abschlafft, ja?«

»Er wird sich hüten«, lachte sie.

LepsoLive
-
denn das Leben ist nicht zu überbieten

 

 

Der Topsider Chrekt-Chrym lag tief in der Schlafmulde; sein kräftiger Stützschwanz ruhte in der Senke der Bettmitte, sein Oberkörper bäumte sich auf und wälzte sich hin und her. Das echsenähnliche Wesen träumte.

Chrekt-Chrym träumte den selben Traum, der ihn verfolgte, seit sein Bewusstsein wenige Jahre nach dem Schlupf unter der Doppelsonne Orion-Delta erwacht war, unter dem weißen Licht der einen und dem violetten Licht der anderen Sonne.

»Das Höhere gibt dem Niederen Sinn«, erklärte eine Stimme von weit her, »das Sinnlose erniedrigt das Hohe. Das Höchste von allem ist die Ganzheit.« Erster Satz der sozialen Weisung.

Er war eines von drei Männchen im Gelege seiner Mutter gewesen; zwei Weibchen. Die Hälfte der Männchen stirbt. Er war der Schwächste.

»Stärke das Starke. Wer das Schwache stärkt, schwächt die Ganzheit.« Zweiter Satz der sozialen Weisung.

Seine Mutter hätte ihn sterben lassen sollen. Denn seine Brüder waren stark. Aber sie schwächte die Ganzheit, die Ganzheit des Geleges, die Ganzheit des Ganzen. Sie stärkte ihn.

Warum?

Chrekt pfiff klagend. Ein schwerer Traum.

Seine Gelegebrüder erkannten seine Schwäche. Und sie schützten ihn. Tkohhr-Chrym ließ sein Leben für ihn, als es Gelege gegen Gelege ging.

Der starke Tkohhr starb. Chrekt-Chrym überlebte.

Er träumte von der Sonne. Schon als Junges träumte er von diesem Riesengestirn, dieser Sonne fern von Orion-Delta und seiner Heimatwelt Topsid.

Er träumte, er stände in der Zentrale eines topsidischen Schiffes. Er sah das Schiff von innen und von außen zugleich: Der schlanke Leib des Schweren Kreuzers war über 300 Meter lang; aus den vier Triebwerksgondeln traten Impulsstrahlen aus und beschleunigten den Riesen. In der Mitte des Schiffsleibes befand sich die Kommandokugel, die fast 50 Meter durchmaß – ein elegantes, zweckmäßiges Schiff, ausbalanciert und kräftig.

Chrekt-Chrym stand in der Zentrale. Der Transitionsoffizier las die Zahlenkolonnen auf dem Monitor des Rechners mit. Es waren die Daten, die die Rebellen von Ferrol ihnen gegeben hatten. Nein: Es waren Daten, die die angeblichen Rebellen Chren-Tork zugespielt hatten. Chren-Tork saß in der Zentrale. Chrekt-Chrym rief: »Die Daten sind falsch! Sie führen euch ins Verderben!« Aber Chren-Tork hörte ihn nicht. Sah ihn nicht.

Warum konnten sie ihn nicht sehen? Er erkannte alles so deutlich, so genau, so wirklich. Er spürte die angenehme, anregende Hitze der Zentrale, er spürte das animalische Beben des Schiffes, dessen Triebwerke zur Transition durch den Hyperraum ansetzten, er roch den sauren Duft der Erregung.

Nicht die Ferronen haben euch diese Daten gegeben, rief Chrekt-Chrym dem Offizier zu, sondern Terraner! Die Daten sind falsch, kehrt um! Niemand nahm es zur Kenntnis.

»Transition in zehn Sekunden«, las der Offizier den Countdown ab. Das eine seiner Kugelaugen blickte starr auf die Transitionsdaten, das andere wanderte zwischen den Sprungdaten und dem Chronometer hin und her.

Sie locken euch nicht nur fort aus dem Wega-System, rief Chrekt-Chrym, sie locken euch nicht nur fort ins Capella-System …

Aber es hörte ihn niemand.

»Fünf Sekunden …«

Die Topsider in der Zentrale pfiffen erregt zwischen den verhornten Lippen.

Sie locken euch … Er schrie es mit aller Kraft, die er im Traum hatte. Niemand reagierte.

»Sprung!«

Die etwa dreihundert Schiffe der topsidischen Flotte sprangen synchron, eine logistische Meisterleistung. Jetzt kam wie jedes Mal der grauenvollste Moment des Traums.

Die Flotte trat ohne Zeitverlust in den Normalraum zurück.

Aber es war kein Raum da – nur schiere Energie.

Die gefälschten Sprungdaten hatten die Flotte ins Innere der Sonne Capella geführt. Jedes Schiff war mit 150 Besatzungsmitgliedern bemannt, daneben die Landungstruppen für die Aktion im Wega-System, insgesamt 120.000 Topsider und wenige hundert Konkubinen der Kommandanten und Subkommandanten. Es war die größte Niederlage der topsidischen Militärgeschichte.

Und sie hatte sich vor über einem Jahrtausend zugetragen.

Warum also träumte Chrekt fast jede Nacht davon, seit er denken konnte?

Warum musste er wieder und wieder dabei sein? Warum richteten die Toten diese Botschaft an ihn?

Der Energieschlag im Herzen der Capella war zu gewaltig, zu total und zu schnell, als dass er sich den Nerven und Hirnen der Topsider als Schmerz hätte vermitteln können. Das einzige, was Chrekt-Chrym wahrnahm, war ein grenzenloses, gegenstandsloses, hunderttausendfaches Erstaunen. Und dann hörte er eine mütterliche Stimme flüstern: »Zeit, zu gehen.« Und Chrekt zog sich erschöpft und gequält zurück aus diesem zähen Inferno aus flüssigem Feuer.

»Suche das Profunde, meide, was dich verwundert, der Starke braucht festen Stand«, siebenter Satz der sozialen Weisung.

Langsam erwachte Chrekt. Er richtete sich auf, stemmte sich aus dem Bett und zog den Schwanz nach. Die braunschwarzen Schuppen waren etwas zu trocken, er befeuchtete sie mit dem Sprengel. Der Morgendurst war groß, er trank aus dem Kaltbottich.

Aus dem Nachbarraum erklangen Paarungsgeräusche. Chrekt-Chryms Konkubine Benech-ril-Hon ließ sich, kühl vom Schlaf, von seinem Mitbewohner Hachtcha-Hon begatten. Die beiden stammten, wie ihr Herkunftsname zeigte, aus der selben Provinz, Hon am Gun-Ki-See.

Ob sie auf diese Weise ihr Heimweh bekämpften?

Chrekt hätte dafür Verständnis; ihn selbst plagte manchmal eine Sehnsucht nach dem violetten Himmel von Topsid und den Schlieren des Immertagnebels über der Schrägen Ebene von Klokvour.

Vielleicht war es aber auch nur Benech-rils verzweifeltes Bemühen, es endlich zu einem Gelege zu bringen. Chrekt-Chryms Befruchtungsversuche waren erfolglos geblieben. Aber auch Hachtcha-Hons Bemühungen blieben bislang fruchtlos. Eine große Auswahl blieb Benech-ril nicht; die Topsider-Population auf Lepso war sehr klein, und fertile Männchen hatten mit ihren kleinen Harems hinreichend zu tun.

Chrekt-Chrym pfiff klagend.

Kurz nach dem Frühstück summte der Türmelder; die Hausverwaltungspositronik meldete Olip. Olip winkte in die Überwachungskamera und rief. »Mach schon, Krekt, mach schon, heb deinen Echsenschwanz aus seiner Wiege und lass Hatscha machen, los, du Lüstling, mach auf! Wir müssen fernsehen.«

Er fragte sich zum wiederholten Male, ob der Marsianer die topsidischen Namen absichtlich verballhornte, oder ob er an einem Sprachfehler litt, der ihm die Aussprache der für ihn ungewohnten Lautfolgen erschwerte.

Zum Ausgleich nannte Chrekt-Chrym den Marsianer stets nur Olip und nicht, wie es ihm seiner Meinung nach zugekommen wäre, Olip a Schnittke – wobei das betonte »a« zwischen den Namen angab, dass sich Olips Vorfahren unter den ersten Terranern befunden hatten, die auf dem Mars siedelten.

»Ich schaue mir keine Holos mehr mit dir an, auf denen deine Artgenossen miteinander kopulieren. Ich finde Terraner und ihr Sozialverhalten zwar außerordentlich interessant, aber die Dramaturgie dieser Filme ist ein wenig vorhersehbar, und die Dialoge sind so – unartikuliert und …«

Olip sprang vor der Kamera auf und ab. »Mach auf, Krekt, es geht um deinen Nebenverdienst!«

Er öffnete die Tür und nutzte die kurze Zeitspanne, die Olip brauchte, um mit dem Antigravlift nach oben zu kommen. Er zog eine kurze, lederne Hose an, ein farbenfrohes Hemd und band sich eine Krawatte dazu. Olip erschien, grüßte nicht, sondern sprang sofort in den Medienraum, wo er das Trivid einschaltete.

Wie alle Marsianer der a-Klasse besaß auch Olip a Schnittke einen bemerkenswert großen, tonnenförmigen Brustkorb. Die Marsianer zählten zu den ersten ernsthaft umweltangepassten Terranern. Sie benötigten kaum Wasser und zogen es vor, das wenige an Flüssigkeit über ihre Nahrung aufzunehmen. A Schnittkes dunkelgelbe Augäpfel mit der grünen Iris leuchteten. Er kratzte sich nervös die bronzefarbene Haut an den Unterarmen.

»Fängt gleich an!«, verkündete er und wies auf den Holokubus.

Chrekt erkannte das Logo von LepsoLive. »Dein Geschmack welkt dahin, Olip«, lästerte der Topsider.

»Halt die Klappe, du Klatschtante«, entfuhr es Olip a Schnittke.

»›Marsianer zeichnen sich durch ihre außerordentliche Höflichkeit aus‹«, deklamierte Chrekt-Chrym. »Das ist ein Zitat aus einem populären Reiseführer durch das Solsystem. ›Besonders Marsianer der A-Klasse sind liebenswürdig, nett und hilfsbereit‹.«

»Ich nicht. Ich bin eine positive Mutation«, entgegnete a Schnittke breit grinsend. Dann fuhr er sich mit der Hand durch das lackschwarze Haar: »Etwas forsch, aber gut aussehend.«

»Hast du schon gefrühstückt?«

»Hast du Popcorn im Haus? Nein? Dann nichts, danke. Schau!« Olip wies auf den Holowürfel.

Eine junge, dunkelhäutige Tuglanterin mit grün phosphoreszierenden Haaren lächelte in den Raum und kündigte an: »… und nach dem Werbeblock sehen Sie nun die Aufzeichnung einer spektakulären Jagd, die heute Nacht in den Straßen von Orbana statt gefunden hat. Sie werden sich wundern: warum bedient uns LepsoLive mit einer Konserve? Schließlich sendet LepsoLive nur Live, denn das Leben ist nicht zu überbieten.

Nun: Wir haben das Material dieses Mal vorab vom SWD überprüfen lassen, um zu gewährleisten, dass wir keiner Fälschung aufgesessen sind. Denn was Sie jetzt sehen – und was Sie jetzt exklusiv nur bei uns sehen, ist eine Sensation!« Sie machte eine Kunstpause und lächelte charmant in die Kamera. »Aus bislang unbekannten, aber sicher guten Gründen hielt sich gestern Nacht offenbar Lordadmiral Atlan, der Chef der USO, auf Lepso auf, und geriet dabei in einen Hinterhalt.

Erleben Sie nun live und exklusiv auf LepsoLive die erregende Jagd auf den unsterblichen Arkoniden – oder darf ich sagen: auf den bislang unsterblichen Arkoniden, auch wenn es die Pointe fast ein wenig vorweg nimmt?«

 

Um 10.30 Uhr terranischer Standardzeit begann die Sendung des lepsotischen Holotrividfunks. Nach der Anmoderation sah man eine der grell bunt beleuchteten Straßenschluchten von Orbana, der Hauptstadt Lepsos.

Las Vegas ist überall, dachte ich.

Orbana war schon bunt beleuchtet, als du noch auf dem drittklassigen Planeten am Rand der Milchstraße Barbaren beigebracht hast, wie man Kupfer zu Bronze legiert.

Und natürlich hatten sich zur Blütezeit von Las Vegas sehr viel weniger Fremdwesen dort aufgehalten als hier in Orbana, ergänzte ich. Orbana – ich kannte die Mega-Metropole; ich war häufiger dort gewesen, als mir lieb war. In Orbana hatte Ronald Tekener eine Filiale seiner UHB eröffnet, seiner Unabhängigen Hilfsorganisation für Bedrängte.

Unabhängige Hilfsorganisation für gut betuchte oder gut aussehende weibliche Bedrängte, korrigierte mich mein Extrasinn. UHfgbogawB.

Klingt eingängig, lobte ich.

Das Bild schwankte leicht; ich vermutete, es war von einer Kameradrohne aufgenommen, wie sie zu Zehntausenden über und in der Stadt lauerten; selbst gesteuerte, faustgroße Geräte, die mit einem Antigravgenerator ausgerüstet waren. Sie standen mit der größeren Redaktionspositronik einer der lepsotischen Holovidbetriebe in Kontakt. Diese Positronik entschied, ob die übermittelten Bilder einem Mitarbeiter zur Auswahl vorgelegt wurden.

Im Holo sah man Fahrzeuge in drei Ebenen verkehren. Am Grund der Straßenschlucht bewegten sich tief fliegende Gleiter und Schwebeplattformen auf Sightseeing-Tour, möglicherweise auch einige Wagen auf Rädern, Oldtimer, wie sie von manchen Exzentrikern geschätzt werden. Dreißig oder vierzig Meter darüber glitten Last- und Gemeinschaftsgleiter dahin, vereinzelt auch Personengleiter. In der obersten Region, vielleicht siebzig Meter über dem Boden, strömte der Schnellverkehr.

Die Drohne erfasste einen Gleiter, der aus dieser obersten Schicht abhob, das niederenergetische Begrenzungsfeld durchbrach und sich auf diese Weise auch der Kontrolle der Verkehrsleitpositronik von Orbana entzog. Der ausgebrochene Gleiter beschleunigte, pendelte, dann stieß er auf einen tiefer fliegenden Gleiter herab.

Und feuerte.

Der Schuss leuchtete schwach grünlich auf und traf den Gleiter in der Antriebssektion. Fast sofort begann das Flugzeug zu trudeln, und der Pilot drehte ab. Der Gleiter stürzte aus der obersten Fahrschicht ab und jagte auf die mittlere zu; sein Jäger schoss zwei-, dreimal kurz hintereinander. Er traf mit jedem Schuss.

Das Bild wurde brillanter. Zweifellos waren nun auch andere Drohnen auf den Vorfall aufmerksam geworden und lieferten ihre Datenmengen zur Zentrale, die daraus ein technisch erstklassiges Bild zusammenstellte.

Die Glaskuppel des schwer beschädigten Gleiters wurde abgesprengt. Eine humanoide Gestalt schleuderte aus dem abstürzenden Wrack hervor. Sie hatte sich zur Kugel zusammengerollt und überschlug sich mehrfach. Das lange, weiße Haar flatterte im Wind wie eine Flagge.

Vom Boden stieg ein schwerer Gleiter des SWD auf und fing das auseinander brechende Wrack mit einem Fesselfeld ab.

Die stürzende Gestalt breitete ihre Arme aus und stabilisierte ihre Bewegung in der Luft. Der Mann musste einen Schutzanzug mit Mikrograv tragen. Lichtreflexe zeigten, dass sich eben auch der Folienhelm ausgerollt hatte. Der Mann kurvte zwischen den Gleitern der zweiten Schicht herum, was kein großes Risiko war, solange die Mehrzahl der Gleiter dort mit Ausweichautomatiken arbeitete.

Sein Jäger hatte ihn längst entdeckt und den Gleiter gewendet. Allerdings schoss er nicht mehr. Das SWD-Fahrzeug hing noch in der Luft, das Wrack im Fesselfeld, und sank nur langsam und unter Aussendung von grüngelben Warnsignalen in Richtung Boden.

Weiteres Feuer, das einen unbeteiligten Gleiter gefährdete, hätte riskiert, dass der SWD intervenierte. Private Jagdveranstaltungen wurden häufig toleriert, besonders, wenn sie beim SWD angemeldet worden waren und der zuständige SWD-Offizier mit einem kleinen Beitrag zum großen, lepsotischen Wohlfahrtssystem davon überzeugt worden war, dass die Veranstaltung einem guten Zweck diente.

Der Flüchtling hetzte nun in Bodennähe dahin. Einige Kameradrohnen hatten zu ihm aufgeschlossen und flogen in Kopfhöhe neben ihm her. Zwar verspiegelte der Helm und das leichte Flirren eines Individualschirms, den der Mann eingeschaltet hatte, den Kopf ein wenig, aber die Gesichtszüge waren markant genug: Es waren meine.

Der Verfolger tauchte auf. Der Gleiter nahm den anderen Atlan unter Feuer. Der Schirm leuchtete unter dem Beschuss auf. Atlan strauchelte. Der Gleiter rauschte heran, Atlan drehte sich zur Seite, wurde von dem wuchtigen Fahrzeug am Schutzschirm getroffen und in hohem Bogen gegen eine Glasfassade geschleudert. Das große Fenster bebte, brach aber nicht. Hinter dem Glas sprangen drei oder vier fast unbekleidete junge humanoide Frauen erschrocken von ihren Schwebeschalen, auf denen sie sich und ihre übernatürlich langen Beine präsentiert hatten. Für einen Moment rückte die rosarote Reklametafel des Hauses groß ins Bild, als hätte sie das besondere Interesse der Drohne gefunden: »Everybody loves to be IN FLAGRANTI«.

»Wow«, entfuhr es Decaree, »Werbung in einer altterranischen Sprache. Shakespeare, was?«

»Eher nicht«, sagte ich.

Mein Doppelgänger hatte sich aufgerafft. Der Gleiter glitt rückwärts auf Atlans Absturzstelle zu und wendete seine Schnauze zur Fassade der IN FLAGRANTI-Bar. Für einen kurzen Moment pendelte der Gleiter, um sein Opfer ins Visier der Bordkanone zu nehmen. Atlan ließ sich nach hinten fallen, der Schutzanzug beschleunigte und jagte ihn wie ein Projektil durch die Glasfassade. Die Frauen duckten sich und versuchten sich mit den Armen gegen den Scherbenregen zu schützen. Atlan warf sich herum und rannte in den Innenraum der Bar.

Der Gleiter rückte an das zerstörte Schaufenster heran, als wollte der Pilot ins Gebäude eindringen. Der Laden war zu klein. Das Fahrzeug landete auf einem Prallfeldkissen. Die Tür öffnete sich.

Niemand stieg aus. Im mittlerweile verlassenen Schauraum wirbelten Glasscherben auf.

Deflektorschilder, dachte ich, die Verfolger möchten gerne unerkannt bleiben. Hast du erkannt, wie viele Leute da unsichtbar unterwegs sind?, fragte ich meinen Logiksektor.

Mindestens zwei, vielleicht drei, antwortete er.

Das Holobild teilte sich. Einige Drohnen waren meinem fliehenden Doppelgänger gefolgt, andere hielten sich dort auf, wo die Verfolger im Schutz ihres Deflektorschildes operierten. Aber in diesem Teil war nicht viel zu sehen außer gelegentlich wirbelnden Scherben, und so huschten auch diese Drohnen in Richtung des Flüchtlings, der wieder den ganzen Bildschirm füllte.

Nun wurde ein Standbild eingeblendet, das das Gesicht meines Doppelgängers in Großaufnahmen zeigte. Es wirkte nass, von einem Schweißfilm überzogen, geradezu wässrig.

Eine Stimme aus dem Off sagte: »Wir denken, Sie haben mittlerweile erkannt, wer da vor unbekannten Häschern flieht und um sein Leben rennt: Es ist – wie versprochen – der allseits beliebte, von seinem Volk zu den Terranern übergelaufene Lordadmiral Atlan. Nach einer kurzen Werbepause werden Sie das Ende der Jagd erleben – und wir versprechen nicht zuviel, wenn wir sagen, dass Sie ein spektakuläres Ende erwartet. Bleiben Sie dran. LepsoLive – denn das Leben ist nicht zu überbieten!«

»Tja«, sagte Decaree. »Du hältst dich tapfer.«

Ein Spot pries Gelontifad an, »das wahrscheinlich wirksamste Abführmittel der Galaxis«, erfunden von einem der führenden Ara-Pharmakologen. Danach wurde Ansotrac beworben, ein Stimulans für parabegabte Mutanten. Ich vermutete, dass die Nachfrage eher gering ausfiel. Schließlich sah man eine Gruppe wunderschöner, junger Humanoider, die einander nackt und fröhlich lachend in den Armen lagen: »Inkrosin endlich wieder auf dem Markt! – Für alle, denen hundert Prozent Lebenslust nicht genug ist!« Wenn ich mich recht erinnerte, stammte diese Droge ursprünglich von der Venus; Inkrosin euphorisierte und vermittelte ihrem Anwender das Gefühl, großartig, phantastisch, unbesiegbar, der Erbe des Universums zu sein. Nach nicht einmal einem Jahr Inkrosinkonsum setzte geistige Zerrüttung ein. Entzug wirkte tödlich.

Die Produktion dieser Droge war im Solaren Imperium vor siebenhundert Jahren verboten worden. Aber dies hier war Lepso.

»Es geht weiter«, sagte Decaree.

Die Jagd war nicht so spektakulär, wie die Moderation versprochen hatte. Mein Doppelgänger wurde schlicht zur Strecke gebracht. Zwar dauerte es noch ein wenig, Atlan stürzte einen Gang entlang, sprang in riesigen Sätzen, flog durch den Tanzsaal des IN FLAGRANTI – wobei die Tänzer alles andere miteinander taten als zu tanzen –, kassierte einige Treffer aus den Strahlern seiner Verfolger, stürzte sich in einen engen Antigravschacht nach unten, geriet in ein Kanalsystem, die Verfolger (und die Drohnen) ihm nach.

Dort unten, in einer engen Röhre, setzen die Verfolger Blaster ein, großkalibrigere Strahlenwaffen. Das hocherhitzte Plasma bringt die Wände des Tunnels zum Glühen. Atlan fliegt, aber die Röhre läuft geradeaus, ohne Abzweigung, ohne Ausgang nach unten oder oben. Drei Plasmastrahlen treffen sich in seinen Schutzschirm. Der Schirm kollabiert. Der nächste Treffer verbrennt einen großen Teil seines Leibes und zerstört die technische Ausrüstung seines Schutzanzuges. So ist er schutzlos, als die Unsichtbaren – man sieht nur ihre Abdrücke im flachen Wasser am Boden des Kanals – auf ihn zu stapfen.

Atlans Augen suchen etwas, und finden es offenbar: Sie heften sich auf das Objektiv einer der Kameradrohnen. Er starrt in die Kamera, unentwegt. Der Schweiß bildet Rinnsale in seinem Gesicht. Dann trifft ihn ein Blasterschuss mitten in die Brust. Der Leib wird zurückgeschleudert und bleibt liegen. Die Arme sind ausgestreckt und zittern noch einige Sekunden, dann sinken sie zu Boden. Aus dem Unsichtbaren jagt noch ein Feuerstrahl hervor und trifft den Kopf.

Ende.

Es war vorbei.

Unwillkürlich fiel mein Blick auf den kleinen Monitor meines All-Galaktischen Kalenders am Rand des Arbeitstisches. Neben dem Datum in Arkon-Standardzeit waren etliche terranische Zeitrechnungen eingeblendet. Ich wäre demnach in den frühen Morgenstunden gestorben, am Samstag, dem 1. März des Jahres 3102 n.Chr. Am 19 Ramadan 2556 A.H. Am Yom Shabbat, 18 Adar I 6862 A.M.

Und in der Dekade II, Primidi de Ventose des Jahres 1310 der Französischen Revolution.

Ein gutes Datum für das Ableben eines Lordadmirals aus altem arkonidischem Adel.

 

»Na? War das was?«, fragte Olip. Chrekt-Chrym konnte die Mimik eines Humanoiden noch immer nicht mit letzter Sicherheit entschlüsseln, aber entweder blickte der Marsianer nun verlegen drein oder sehr zufrieden.

Er ist zufrieden, legte der Topsider sich fest.

»Natürlich war das nicht wirklich der Chef, oder?«, fragte er a Schnittke.

»Höchst wahrscheinlich nicht. Wenn Atlan tatsächlich nach Lepso gekommen wäre, hätte ich es erfahren. Oder du. Irgendwie.«

Chrekt-Chrym imitierte mit seinem langen Schädel ein Nicken. »Dennoch sollten wir Meldung an USO-1 geben«, schlug er vor.

»An Quinto-Center? Habe ich schon getan. Mein Haus hat die Sendung aufgezeichnet und nach Quinto überspielt.«

»Woher wusstest du, dass dieser Film ausgestrahlt werden wird?«

»Ich bin Agent«, sagte a Schnittke mit tiefer Stimme, »es ist mein Beruf, so etwas zu wissen.« Er lachte. »Ich habe keine Schwierigkeit, Lebewesen zu bezirzen, die zu bezirzen dir eher schwer fallen würde.«

Chrekt-Chrym fragte: »Warum hast du den Chef nicht vorab informiert?«

»Ich bitte dich«, lachte a Schnittke, »ich rufe doch nicht in aller Frühe den Lordadmiral an und teile ihm mit: Gleich läuft auf LepsoLive eine Sendung, in der Sie erschossen werden. Ich bin doch kein Depp. Er hat ja auch nichts verpasst, die Aufzeichnung liegt ihm vor. Und wir Zwei können jetzt ein wenig recherchieren, um was es bei dieser ganzen Angelegenheit geht. Ist dir das Recht, Echsenmann, oder hast du andere Pläne?«

In diesem Moment lief Chrekt-Chryms Konkubine Benech-ril-Hon durch den Raum, unbekleidet. Sie pfiff überrascht, als sie a Schnittke entdeckte, und flüchtete in eine Hygienekammer. A Schnittke schnupperte. Die Topsiderin zog ein auffallendes Aroma nach sich. »Oder musst du dich um die Befruchtung eines Geleges kümmern?«

»Sexualität spielt in deinem Leben eine ziemliche Rolle, was?«, fragte Chrekt.

»Ist dir das aufgefallen? Du bist ein feiner Beobachter.«

»Ich bin Agent«, erklärte Chrekt, »es ist mein Beruf, so etwas zu bemerken. Und? Was tun wir? Warten wir, ob USO-1 reagiert, oder werden wir aktiv?«

»Du bist der Chef, Agent Chrekt-Chrym«, sagte a Schnittke, reckte die Arme und gähnte ausgiebig.

»Dann schlage ich vor, wir gehen mal zur Leichenschau.«

»Gute Reise, Eli Pattri!«

 

 

»Sehr dramatisch«, kommentierte Decaree die Sendung. »Besonders dein letzter Blick in die Kamera.«

Ich legte das Kinn auf die gefalteten Hände. »Kann man in die Kamera schauen, ohne zu wissen, dass eine Kamera da ist?«

»Worauf willst du hinaus?«

»Gehen wir davon aus, dass der Gejagte – mein Ebenbild –, wusste, dass eine Kamera ihn filmt.«

»Gewöhnliche kommerzielle Drohnen, also nicht-militärische Geräte, sind selten miniaturisiert. Sie sind daumengroß, faustgroß, die älteren sogar noch größer. Er hat sie gesehen, sehr wahrscheinlich.«

»Warum blickt er direkt in die Kamera? Wann würdest du in die Kamera blicken, Deca?«

Sie überlegte. »Wenn ich den Betrachter des Films ansprechen möchte. Mein Publikum.«

»Wen wollte er ansprechen?«

Decaree zuckte mit den Schultern. »Wer weiß? An wen denkt man im Augenblick des Todes?«

»Eine Frage für unseren Echsenfreund auf Lepso«, sagte ich.

Wenn es beliebig viele Adressaten sind: Von wem konnte unser Doppelgänger sicher sein, seinerseits angestarrt zu werden? Und zwar mit dem größten Interesse?, mischte sich mein Logiksektor ein.

»Ich gehe in meiner Eitelkeit mal davon aus, dass jeder, wenigstens aber ein großer Teil der lepsotischen Bevölkerung ein Interesse hat, zu sehen, wie Atlan stirbt«, meinte ich laut.

Decaree erkannte am Tonfall, dass ich mit meinem Extrasinn im Gespräch war.

»Mir«, sagte ich nachdenklich. »Du meinst, er hat mich angesehen?«

Er hat dich gemeint, urteilte der Extrasinn.

»Atlan an Atlan«, nahm Decaree meine Anmerkung auf.

Ich nickte und fragte sie: »Und was hätte er mir sagen sollen, dieser Atlan?«

Decaree zog ihre Stirn kraus und lachte dann: »Für mich ist der Fall klar: Dieser Atlan kommt aus der Zukunft. In dieser Zukunft steht die Galaxis unter dem Regiment des Imperiums Dabrifa. Dabrifa hat sich aller Konkurrenten der Reihe nach entledigt. Perry Rhodan ist tot, ebenso Bull, Tifflor, auch der Imperator von Arkon. Nur Atlan ist ihm bis jetzt entkommen und organisiert den Widerstand. Aber er wird von den Schergen des Imperators gejagt, und wenn Dabrifa ihn erst einmal zur Strecke gebracht hat, wird die ganze Milchstraße zum Territorium dieses Größenwahnsinnigen.

Da sieht Atlan einen letzten Ausweg: Er baut sich eine Zeitmaschine und reist zurück in die Vergangenheit, um sich Hilfe von seinem früheren Ich zu holen. Zusammen mit diesem früheren Ich tritt er Dabrifa zu einer Zeit entgegen, als der noch ein kleiner Provinzdiktator und also mit Erfolg zu bekämpfen ist: heute. Er wird aber von Agenten Dabrifas, die ihm in die Vergangenheit gefolgt sind, umgebracht.«

»Den Schergen, vergiss nicht, dass es immer irgendwelche Schergen sein müssen«, stellte ich klar.

»Also, was meinst du?« Decaree blickte mich an und spitzte die Lippen. Ich nickte ihr zu: »Du solltest Schriftstellerin werden. Abteilung: Utopisch-phantastische Literatur.«

»Schon die Meisterin der Insel setzte Zeitmaschinen ein«, verteidigte Decaree ihre Theorie. Sie fuhr sich mit ihren schlanken Fingern durch die nachtschwarzen Haare. »Mirona Thetin, Faktor Eins.«

»Ja. Aber was hat die Zeitmaschine ihr genutzt? Nichts. Die Zeit ist sehr beharrlich, wenn sie einmal vergangen ist.«

»Was ist es also dann?«, fragte Decaree.

»Ich weiß es nicht. Aber ich werde hinfliegen und es überprüfen. Wen, wenn nicht mich, sollte es angehen? Ich will mir die Leiche einmal ansehen.«

»Und wenn man dich keinen Blick darauf werfen lässt?«

Ich grinste. »Dann nehme ich wenigstens an meiner eigenen Beerdigung teil. Wer hat dazu schon Gelegenheit?«

»Und zwar bei lebendigem Leib«, ergänzte Decaree. »Dennoch: Eine Ermittlung in eigener Sache ist immer etwas heikel, hast du mir beigebracht. Geradezu egoistisch.«

Ich musste lachen. »Und jetzt sag mir noch: Außerdem ist Lepso ein riskanter Planet.«

»Außerdem ist Lepso ein riskanter Planet.«

Ich bedankte mich für die Warnung. »Trotzdem: Ich möchte wirklich nicht eines Tages wie Perry enden, mit einem Symbionten.«

»Von welchem Symbionten redest du?«

»Von seinem Bürosessel. Ist dir das nicht aufgefallen? Er verwächst langsam mit ihm.«

Jetzt musste sie lachen. »Ich stelle mir ein zeitweiliges Zusammenleben mit dem Hintern des Großadministrators eigentlich ganz reizvoll vor. Also fliegst du nach Lepso. Komme ich mit?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich werde allenfalls ein kleines Team mitnehmen, ein oder zwei Leute, keinen Pomp, keine prominenten Agenten, die vielleicht vom SWD oder von unseren Freunden von den Geheimdiensten des Carsualschen Bundes, der ZGU oder von der Schwarzen Garde bereits aufgedeckt wurden, ohne dass wir es wissen.«

»Und ohne dass sie wissen, dass wir es nicht wissen«, sagte Decaree.

Decaree Farou war für die Koordination von Agenteneinsätzen verantwortlich. Zu ihren Aufgaben gehörte es, Daten abzugleichen und Wahrscheinlichkeiten dafür zu berechnen, welche USO-Spezialisten – wie wir unsere Agenten nannten – möglicherweise welchem gegnerischen Dienst bekannt sein könnten, und in welchem Maße.

Auch im Agentengeschäft gab es Schichten, Sphären, Regionen: Nicht immer verlautbarte eine Zentrale all ihre Kenntnisse über gegnerische Aktivitäten allen ihren Mitarbeitern. Decaree hatte dafür zu sorgen, dass das Risiko eines Einsatzes für jeden Agenten tolerabel war. Sie musste erkennen, wenn Spezialisten verbrannt waren, und sie versetzte diese Agenten gegebenenfalls in den inneren Dienst von Quinto-Center oder anderer USO-Stationen.

Manche der enttarnten Spezialisten quittierten den Dienst, manche schulten um und blieben als Technos im Dienst der USO. Ich wusste nicht, wie viel Terraner und Angehörige anderer Spezies, die für die USO arbeiteten, in letzter Konsequenz dem guten Geist und brillanten Urteilsvermögen von Decaree Farou ihr Leben verdankten.

Aber es mussten Hunderte sein.

»Du gehst also in einer Charaktermaske?«

Ich nickte. Charaktermasken waren künstliche Identitäten mit einem akzeptablen Hintergrund: Namen, die auf irgendeiner Welt des Solaren Imperiums oder eines anderen Reiches als reale Bürger geführt wurden und die mittels Kontoüberweisungen, Leserbriefe, Teilnahmen an Holovidforen und so weiter Spuren legten, die es glaubhaft machten, dass ein Träger dieses Namens existierte.

»Wenn ich mit Leuten vom Kaliber Farou, Tekener, Azouzou auf Lepso auftauche, können wir gleich eine Blaskapelle engagieren, die mir vorweg läuft und unter Fanfarenstößen verkündet: Atlan ist wieder da!«

Decaree amüsierte sich. »Als was gehst du? Als Gefolgsmann von Dabrifa? Als Referent eines Kalfaktors der ZGU? Als Siganese?«

»Siganese?« Ich lachte. Es gab tatsächlich zahllose Möglichkeiten. »Ich werde darüber nachdenken und mich mit dem Einsatzplanungsstab besprechen.«

»Was soll ich inzwischen tun?«

»Du könntest inzwischen ein offizielles Gespräch mit dem Thakan von Lepso führen …«

»… der sowieso machtlos ist …«

»… eben, und ihn offiziell um die Herausgabe meiner sterblichen Überreste bitten, als Eigentum der USO und so.«

»Was der Thakan ablehnen wird, unter irgendeinem Vorwand: ›Pardon, aber wir haben den Toten bereits zum Ausstopfen frei gegeben, er soll die Empfangshalle des Kouchella-Raumhafenkomplexes von Orbana zieren.‹«

»Etwas in der Art. Aber wir müssen ja das Protokoll wahren. Also, sprich mit ihm und sei ein bisschen blass dabei. Vom Schock.«

»Darüber, dass du noch lebst, verliere ich also kein Wort?«

»Nein. In manchen Fällen ist es vorteilhaft, tot zu sein.«

»Reicht es, wenn ich dezente Blässe auftrage, oder muss ich Trauer tragen?«

»Du Ehrgeizling? Die ganze Galaxis weiß, dass du scharf auf meinen Posten bist. Man könnte dich für eine Heuchlerin halten.«

»Such dir etwas Schönes als Charaktermaske aus.« Mit einem süßen Lächeln verließ Decaree meinen Arbeitsraum.

 

Ich bekam die Mitteilung, dass ein Agenten-Team von Lepso uns eine Kopie der Sendung von LepsoLive per Hyperfunk übermittelt hatte. Die Übermittlung trug die Kennung der Agenten Chrekt-Chrym und Olip a Schnittke. Der Topsider und der Marsianer – unser multikulturelles Doppel.

Die beiden Agenten planten, die Leiche zu untersuchen. Ich ließ ihnen die Order übermitteln, mit ihren Schritten bis auf weiteres zu warten.

Die Analytische Abteilung von Quinto-Center hatte das Material gesichtet. Yeraan Quamara, der Analytiker, ein ständig hüstelnder Ferrone, legte mir die Expertise vor: »Da Sie meinen Bericht entgegen nehmen können, spricht vieles dafür, dass nicht Sie selbst es waren, der auf Lepso erschossen worden ist.«

Er sah mich forschend aus seinen tief liegenden Augen an, als müsste er diese Theorie noch überprüfen. »Ja«, stimmte ich endlich mit einem unterdrückten Lachen zu, »diesen Schluss habe ich auch schon gezogen.«

»Fein, fein«, sagte der Ferrone. »Allerdings hat die biometrische Analyse ergeben, dass die Leiche Ihnen schon sehr nahe kommt. Zwei Abweichungen.«

Er hüstelte.

»Nämlich?«, setzte ich nach.

»Im Brustbereich, dort, wo Sie Ihr Gerät tragen, ist keine Auswölbung nachzuweisen.«

Unwillkürlich strich ich über den eiförmigen Zellaktivator unter meinem Hemd. Er fühlte sich warm an, lebendig. Die unbegreifliche Maschine war mir von einer Gemeinschaftsintelligenz namens ES zur Verfügung gestellt worden – eine Leihgabe. Die fünfdimensionalen Schwingungen, die der Aktivator ausstrahlte, bewirkten eine unablässige und fehlerfreie Regeneration meines genetischen Codes und machten mich auf diese Weise relativ unsterblich.

Der Ferrone fuhr fort: »Der Tote trug also keinen Aktivator. Dabei wäre eine Imitation leicht herzustellen. Er hat also aus irgendwelchen Gründen auf so ein Schmuckstück verzichtet.«

»Zweite Abweichung?«

Yeraan Quamara hüstelte. »Der Tote war in eine Art Aura gehüllt.«

Ich hob fragend die Augenbrauen.

»Ich zeige es Ihnen.« Der Ferrone zog einen Handprojektor aus einer Gürteltasche und aktivierte ihn. Ein Holobild flackerte auf, ein Standbild aus der Verfolgungssequenz des lepsotischen Senders.

Das von Schweiß nasse Gesicht des Gehetzten.

»Man muss sehr genau hinsehen«, erklärte Quamara. Er vergrößerte den Ausschnitt. Es war nicht nur der Schweiß, der dem Gesicht sein wässriges Aussehen verlieh. Da war tatsächlich noch etwas anderes, ein leichter Schimmer wie von Silber, der auf seiner Haut lag oder von ihr ausging. »Sie haben es bemerkt?«

Ich nickte. »Die Aura? Ja. Was ist das?«

Der Ferrone hüstelte. »Wir wissen es nicht.«

»Atlan nebst Aura«, murmelte ich, »gestorben in turbulenten Zeiten.«

Ich bedankte mich bei dem Analytiker.

 

Wir lebten in turbulenten Zeiten.

Nach dem Dolan-Krieg, dem Krieg gegen die Zeitpolizei, der das Solare Imperium im Jahr 2437 an den Rand des Untergangs gebracht hatte, waren nicht nur die neuen, großen Sternenreiche der Menschheit entstanden – der Carsualsche Bund unter der Führung der Ertruser; die Zentralgalaktische Union, regiert von den 21 Kalfaktoren auf Rudyn im Ephelegon-System, und das Imperium des Diktators Dabrifa, das dieser in seiner Bescheidenheit der Einfachheit halber »Imperium Dabrifa« nannte. Nein, es hatten sich daneben etliche von Menschen besiedelte Welten zu lockereren Koalitionen ohne imperiale Strukturen zusammen geschlossen: die Ross-Koalition, die Tarey-Bruderschaft, der Shomona-Orden und die Fracowitz-System-Staaten.