Cassandra Clare
Sarah Rees Brennan

Willkommen in der
Schattenjäger-Akademie

Aus dem Amerikanischen von

Franca Fritz und Heinrich Koop

cover

Cassandra Clare/Sarah Rees Brennan/
Maureen Johnson/Robin Wasserman

Legenden der Schattenjäger-Akademie 1

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Einzeltitel
»Welcome to Shadowhunter Academy« bei
Margaret K. McElderry Books, einem Imprint der Simon & Schuster
Children’s Publishing Division, New York.

Copyright © 2015 by Cassandra Claire, LLC

Für die deutschsprachige Ausgabe:

© 2015 Arena Verlag GmbH, Würzburg

Alle Rechte vorbehalten

Aus dem Amerikanischen von Frana Fritz und Heinrich Koop

Cover: © Cliff Nielsen

Gesamtherstellung, Satz und ebook: KCS GmbH, Stelle | www.schriftsetzerei.de

ISBN 978-3-401-80500-9

www.arena-verlag.de

Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Simon besaß einige wenige Erinnerungsfetzen an Idris – Türme und ein Gefängnis und ernste Gesichter und Blut in den Straßen. Aber diese Fitzelchen stammten alle aus Alicante, der Hauptstadt.

Dieses Mal fand er sich jedoch außerhalb der Stadt wieder. Sie waren in einer üppigen Landschaft erschienen, die auf der einen Seite von einem Tal begrenzt wurde und auf der anderen Seite in Weiden und Felder überging. Meilenweit sah man nichts als Grün in allen Schattierungen: auf der einen Seite die jadegrünen Flächen endloser Wiesen, die sich bis zum blendenden Schein der Gläsernen Stadt am Horizont erstreckten, deren Kristalltürme in der Sonne glitzerten. Auf der anderen Seite das leuchtende Smaragdgrün eines Waldes – dunkelgrüne, in Schatten gehüllte Bäume, deren Kronen vom Wind zerzaust wurden wie grünliche Federn.

Catarina schaute sich kurz um und machte dann einen Schritt vorwärts, sodass sie direkt am Rand des steil abfallenden Tals stand. Simon trat neben sie – und mit diesem einen Schritt lichteten sich die Schatten des Waldes, als würde ein Schleier fortgezogen.

Er konnte plötzlich mehrere Areale ausmachen, die er als Trainingsplätze identifizierte, ebene Flächen, von Zäunen umgeben und mit Markierungen versehen: Sprintstrecken und Bereiche für Weitwurf, die so tief in den Boden gegraben waren, dass Simon sie sogar von seinem Standort aus erkannte. Aus der Mitte des Waldgebiets ragte ein großes graues Gemäuer mit Türmen und Zinnen auf wie ein Juwel, für das der Rest des Geländes nur als Hintergrund diente. Simon fielen plötzlich architektonische Begriffe wie »Strebepfeiler« ein, mit denen sich erklären ließ, wie die Steine die Gestalt von Schwalbenschwingen annehmen und gleichzeitig das Dach tragen konnten. Ein großes Buntglasfenster direkt im Zentrum des Gebäudes, dessen Scheiben im Laufe der Jahre nachgedunkelt waren, zeigte einen Engel mit einem Schwert. Ihn umgab eine Aura aus himmlischer Unerschütterlichkeit.

»Willkommen in der Schattenjäger-Akademie«, sagte Catarina Loss sanft.

Gemeinsam machten sie sich an den Abstieg. Mit seinen dünnen Turnschuhen verlor Simon den Halt auf dem weichen, rutschigen Boden des steilen Abhangs und musste von Catarina aufgefangen werden.

Sie konnte ihn gerade noch rechtzeitig an der Jacke packen und ihm aufhelfen. »Ich hoffe, du hast ein Paar anständige Wanderschuhe dabei, Großstadtkind.«

»Ich hab nicht mal ein Paar unanständige Wanderschuhe dabei«, erwiderte Simon. Er hatte ja gewusst, dass er die falschen Sachen einpacken würde! Sein Instinkt hatte ihn nicht getrogen – aber er war auch nicht sehr hilfreich gewesen.

Catarina – vermutlich enttäuscht von Simons nachweislichem Mangel an Intelligenz – schwieg eisern, während sie im Schatten der Äste weitergingen. Die Bäume erzeugten eine grüne Dämmerung, die sich erst nach einer Weile lichtete, als das Sonnenlicht wieder durch die Zweige fiel und die Schattenjäger-Akademie vor ihnen aufragte. Beim Näherkommen entdeckte Simon eine Reihe baulicher Mängel, die er aus der Ferne gar nicht bemerkt hatte. Einer der hohen, schmalen Türme wies eine beunruhigende Seitenneigung auf. Große Vogelnester ragten aus den Steinbögen hervor und Spinnweben, so lang und dick wie Vorhänge, wehten in mehreren Fensteröffnungen. Eine der Scheiben des Buntglasfensters war zerstört – eine gähnend schwarze Fläche befand sich genau an der Stelle, wo ein Auge des Engels hätte sein müssen. Doch jetzt sah es so aus, als wäre der Engel unter die Piraten gegangen.

Simon war bei all diesen Erscheinungen unbehaglich zumute.

Vor der Akademie, unter dem Blick des Piratenengels, liefen Leute vorbei – eine hochgewachsene Frau mit einer rotblonden Mähne und dahinter zwei Mädchen. Simon nahm an, dass es sich bei den beiden um Schülerinnen der Akademie handelte, denn sie waren ungefähr in seinem Alter.

Plötzlich knackte ein Zweig unter Simons Schuh und die drei Gestalten schauten ruckartig in seine Richtung. Die rothaarige Frau setzte sich sofort in Bewegung, stürmte auf Catarina zu und fiel ihr um den Hals, als handelte es sich um ihre lang verschollene blaue Schwester. Catarinas Miene spiegelte ihre extreme Verwirrung wider.

»Ms Loss, dem Engel sei Dank, dass Sie hier sind«, rief die Rothaarige. »Hier herrscht das reinste Chaos. Das reinste Chaos!«

»Ich glaube nicht, dass ich bisher das Vergnügen hatte …«, setzte Catarina an und schwieg dann vielsagend.

Die Frau fasste sich wieder, gab Catarina frei und nickte so heftig, dass ihr leuchtendes Haar um ihre Schultern flog. »Ich bin Vivianne Penhallow. Die, äh, Dekanin der Akademie. Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen.«

Sie mochte sich zwar gewählt ausdrücken, aber sie kam Simon viel zu jung vor, um den Wiederaufbau der Akademie zu leiten und all die neuen Schüler auszubilden, die zur Verstärkung der Schattenjägertruppen dringend gebraucht wurden. Andererseits passierte nun mal genau das, wenn man um zwei Ecken mit der Konsulin verwandt war, überlegte Simon. Er versuchte noch immer herauszufinden, wie die Regierung der Schattenjäger funktionierte und wie die jeweiligen Stammbäume miteinander verbunden waren. Die Nephilim schienen irgendwie alle untereinander verwandt zu sein, was ihn ziemlich verstörte.

»Wo liegt denn das Problem, Dekanin Penhallow?«, fragte Catarina.

»Nun ja, um ganz offen zu sprechen: Die für die Renovierungsarbeiten eingeräumten Wochen sind … äh, wie soll ich sagen? ›Höchst unzureichend‹ beschreibt die Situation vermutlich am besten«, stieß die Dekanin hervor. »Und einige der Tutoren haben die Akademie bereits … überstürzt verlassen. Ich glaube nicht, dass sie wiederzukehren gedenken. Genau genommen haben sie mich sogar mit sehr expliziten Worten darüber in Kenntnis gesetzt. Außerdem sind die Räume der Akademie ein klein wenig kühl und, um ganz ehrlich zu sein, mehr als nur ein klein wenig baufällig. Des Weiteren muss ich Ihnen der Vollständigkeit halber mitteilen, dass wir ein Problem mit den Vorräten haben.«

Catarina hob eine elfenbeinfarbene Augenbraue. »Und worin besteht das Problem mit den Vorräten?«

»Das Problem ist, dass es keine Vorräte gibt.«

»Das ist in der Tat ein Problem.«

Die Dekanin ließ die Schultern hängen und ihre Brust sank ein wenig ein – als hätten all diese Schwierigkeiten, die sie bis dahin für sich hatte behalten müssen, sie in ein unsichtbares Korsett gezwängt. »Diese Mädchen hier sind zwei der älteren Schülerinnen und stammen aus guten Schattenjägerfamilien: Julie Beauvale und Beatriz Velez Mendoza. Sie sind gestern eingetroffen und haben sich bereits als von unschätzbarem Wert erwiesen. Und das hier muss der junge Simon sein«, sagte sie und schenkte ihm ein Lächeln.

Simon war einen Moment verblüfft, wusste aber nicht, warum – bis er sich dunkel daran erinnerte, dass nur sehr wenige der erwachsenen Schattenjäger sich über einen Vampir in ihrer Mitte erfreut gezeigt hatten. Aber natürlich gab es für die Dekanin keinen Grund, ihn aufgrund seines Anblicks zu hassen. Außerdem hatte sie sich über Catarinas Erscheinen geradezu entzückt gezeigt, überlegte er; vielleicht war sie ja ganz in Ordnung. Vielleicht zeigte sie sich aber auch nur deshalb so begeistert, damit Catarina ihr half.

»Ah ja«, sagte Catarina. »Welch eine Überraschung, dass ein Gebäude, das seit einem Aufruhr vor mehreren Jahrzehnten leer gestanden hat, nicht schon nach wenigen Wochen wieder reibungslos funktioniert. Am besten zeigen Sie mir die Bereiche, die Ihnen die größten Probleme bereiten. Ich werde mich darum kümmern, damit wir wenigstens das Theater vermeiden, wenn sich einer der Schattenjägerzöglinge seinen kleinen Hals bricht.«

Alle Umstehenden starrten Catarina sprachlos an.

»Die unermessliche Tragödie, meinte ich natürlich«, berichtigte Catarina sich und lächelte strahlend. »Wäre es möglich, dass eines der Mädchen Simon zu seinem Zimmer begleitet?«

Sie schien Simon unbedingt loswerden zu wollen. Ganz offensichtlich mochte sie ihn nicht. Aber Simon fiel nichts ein, was er ihr angetan haben könnte.

Die Dekanin starrte Catarina noch einen Moment an und riss sich dann aus ihren Gedanken. »Oh, ja, ja, natürlich. Julie, wärst du bitte so freundlich? Bring ihn ins Turmzimmer.«

Verwundert zog Julie die Augenbrauen hoch. »Ernsthaft?«

»Ja, bitte. Der erste Raum nach Betreten des Ostflügels«, erklärte die Dekanin mit angespannter Stimme und wandte sich erneut an Catarina: »Ms Loss, ich bin wirklich sehr froh, dass Sie hier eingetroffen sind. Sie sind tatsächlich in der Lage, einige dieser Mängel zu beheben?«

»Sie kennen doch bestimmt die Redensart: Es bedarf eines Schattenweltlers, um den Mist eines Schattenjägers zu beseitigen«, bemerkte Catarina.

»Diese Redensart habe ich … noch nie gehört«, erwiderte Vivianne Penhallow.

»Wie seltsam«, sagte Catarina. »Wir Schattenweltler benutzen sie oft. Ziemlich oft sogar.« Ihre Stimme wurde leiser, während die beiden Frauen sich entfernten.

Simon blieb mit Julie Beauvale allein zurück und musterte sie. Das andere Mädchen hatte ihm besser gefallen. Julie war zwar sehr hübsch, aber Nase und Mund wirkten verkniffen, wodurch es den Eindruck hatte, als drückte ihr gesamtes Gesicht ständig Missbilligung aus.

»Simon, hab ich recht?«, fragte sie und ihre bereits geschürzten Lippen schienen sich noch stärker zu schürzen. »Dann komm mal mit.«

Abrupt machte sie auf dem Absatz kehrt – wie ein Ausbilder in der Armee, und Simon folgte ihr langsam in das Gebäude. Über der großen Eingangshalle wölbte sich eine gewaltige Kuppel. Simon legte den Kopf in den Nacken und fragte sich, ob der grünliche Schimmer an der Decke vom spärlichen Licht des Buntglasfensters stammte oder ob es sich in Wahrheit um Moosbewuchs handelte.

»Bitte trödel nicht herum«, drang Julies Stimme aus einem der sechs dunklen, engen Torbögen in der Steinmauer. Die Besitzerin der Stimme war bereits verschwunden und Simon tauchte hinter ihr in die Dunkelheit ein.

Die Dunkelheit entpuppte sich als ein schwach beleuchteter Treppenaufgang. Dieser führte zu einem ebenso dunklen Korridor, in den kaum Licht fiel, weil es sich bei den Fenstern eher um schmale Schlitze handelte. Simon erinnerte sich daran, was er einmal über solche Schießscharten gelesen hatte – sie waren so konstruiert, dass man zwar von innen Pfeile auf den Gegner abfeuern konnte, dieser aber von außen nur eine geringe Trefferchance hatte.

Julie führte ihn durch einen weiteren Gang. Dann bog sie in den nächsten Korridor ein, erklomm an dessen Ende eine kurze Stiege, durchquerte einen dritten Gang und winkte Simon durch einen kleinen kreisrunden Raum – eine nette Abwechslung –, von dem erneut ein Korridor abging. Das dunkle Gemäuer in Kombination mit dem seltsamen Geruch und den endlosen Steinfluren ließen Simon unwillkürlich an eine »unterirdische Grabanlage« denken. Er versuchte, seine Gedanken in eine andere Richtung zu lenken, aber der Begriff wollte nicht verschwinden.

»Dann bist du also eine Dämonenjägerin«, sagte er, warf die Reisetasche auf die andere Schulter und hastete Julie nach. »Wie ist das denn so?«

»Schattenjägerin«, berichtigte sie. »Genau deswegen bist du hier … um das herauszufinden.« Abrupt blieb sie vor einer der vielen Türen stehen: eine schwere Holztür mit schwarzen Eisenbeschlägen und einem Türgriff, dessen Gestalt an eine Engelsschwinge erinnerte. Julie legte die Hand auf die Klinke und Simon erkannte, dass der Griff im Laufe der Jahrhunderte so viele Mal gedrückt worden war, dass die Konturen der Engelsschwinge fast glatt geschliffen waren.