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Harry, Peggi und die gute Idee

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In Gammelsberg war in letzter Zeit nicht viel passiert. Kein einziger Verkehrsunfall, kein Einbruch, kein Handtaschenraub, nicht mal eine Schlägerei. Nicht das klitzekleinste Verbrechen.

Es waren nur langweilige Sachen passiert. Der Taubenzuchtverein feierte sein 50-jähriges Jubiläum, im Seniorenheim wurde jemand 100 Jahre alt und der Bürgermeister wollte den neuen Radweg nach seinem Dackel benennen.

Für Harry Hahn waren diese öden Zeiten ziemlich ärgerlich. Er war Reporter beim Gammelsberger Tagblatt und lebte von aufregenden Neuigkeiten.

Harry saß jetzt auf dem Balkon seiner kleinen Wohnung und verdrückte eine große Portion Fleischsalat. Als er damit fertig war, schob er sich noch zwei Schokoriegel in den Mund, diesmal Nuss-Nugat. Heute Nachmittag musste er unbedingt einen Artikel bei der Zeitung abliefern und war wie immer ziemlich spät dran. Das machte Harry nervös.

Er nahm einen dritten Nuss-Nugat-Riegel aus der Packung und klappte seinen Laptop auf. Es war Zeit für seinen Bericht über die Olchi-Familie.

Er hatte in den letzten Wochen eine Menge von ihr gehört. Professor Brausewein, ein bekannter Gammelsberger Forscher und Erfinder, hatte sogar im Fernsehen über sie berichtet. Daraufhin war Harry sofort mit seinem Cabrio auf die Schmuddelfinger Müllkippe gedüst und hatte die Olchis besucht.

Harry kaute seine Schokolade und dachte scharf nach. Als Erstes brauchte er eine gute Überschrift für seinen Bericht.

Die Grünlinge von der Müllkippe, schrieb er.

Aber das löschte er gleich wieder, denn es schien ihm nicht spannend genug.

Die Monsterfamilie von Schmuddelfing, das war schon eine bessere Schlagzeile.

Harry tippte weiter:

Eine Großfamilie mit drei Kindern haust in einer Höhle auf der Müllkippe von Schmuddelfing. Sie nennen sich DIE OLCHIS und ihre grüne Haut fühlt sich an wie Tintenfisch. Unser Reporter Harry Hahn hat sie getroffen.

Sind es Monster aus dem All? Kommen sie aus der Tiefe des Meeres? An so etwas könnte man durchaus denken.

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Sie haben drei Hörhörner auf dem Kopf anstelle von Ohren, und ihre harten Haare stehen ihnen seitlich vom Kopf ab wie Draht. Das Unglaublichste ist jedoch: Diese merkwürdigen OLCHIS ernähren sich von Abfall. Sie vertilgen Dinge, die andere wegwerfen: Schuhsohlen, Plastikflaschen, Regenschirme, Dosen … nichts ist vor ihren scharfen Zähnen sicher.

Doch wie halten es diese Wesen auf der stinkenden Müllhalde aus?

Ganz problemlos, denn die OLCHIS lieben jede Art von Gestank. Angenehme Gerüche sind für sie ein Graus, Parfümduft ist das Allerschlimmste. Waschen, Sauberkeit, Ordnung – in dieser Familie Fehlanzeige! Die Grünlinge verströmen einen Mundgeruch, der sogar die Fliegen tot zu Boden stürzen lässt.

Sind die grünen Kerle in irgendeiner Weise für uns gefährlich?

Noch ist uns nichts zu Ohren gekommen, was ihre Gefährlichkeit bestätigte. Im Gegenteil, wir können unsere Leser beruhigen: Die OLCHIS machen alle zusammen einen durchaus friedlichen Eindruck. Sie scheinen zum Beispiel sehr musikalisch zu sein, singen sie doch oft und gerne (wenn ihr Gesang auch eher nach einer Kreissäge klingt).

Und das Beste ist: Die OLCHIS sind sogar nützlich! Da sie Unmengen von Müll verzehren, kann man sie als wichtige Helfer bei der Müllentsorgung betrachten. Sie sind ein wertvoller Beitrag zur Lösung unserer Müllprobleme.

So, das wär’s, dachte Harry zufrieden.

Er schickte seinen Artikel per E-Mail an die Zeitungsredaktion; im Anhang ein paar Fotos von den Olchi-Kindern, die auf der Müllkippe spielten, und von Olchi-Papa in der Badewanne.

Das beste Bild zeigte jedoch Olchi-Oma, die eine große Fischgräte im Mund hatte und grinsend neben einem riesigen Schrotthaufen stand.

Jetzt konnte für Harry der angenehme Teil des Tages beginnen. Er holte sich drei Tüten Chips, ging ins Wohnzimmer und legte sich aufs Sofa vor den Fernseher.

Am nächsten Morgen saß Peggi Muckelheim wie immer beim Frühstück und trank eine Tasse grünen Tee. Sie fühlte sich frisch und ausgeruht, denn sie hatte schon einen ausgedehnten Morgenspaziergang mit ihrem Hund hinter sich. Adrian, der kleine Terrier, saß auf dem Stuhl neben ihr und leistete ihr beim Frühstück aufmerksam Gesellschaft. Erst gestern war Adrian im Hundesalon bei seiner wöchentlichen Haarpflege gewesen und duftete nun angenehm nach Flieder.

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Peggi Muckelheim war eine weltbekannte Kunsthändlerin. Sie hatte kurze, knallrot gefärbte Haare und zeichnete sich dadurch aus, dass sie immer auf der Suche nach etwas Neuem, Außergewöhnlichem war.

Sie schob sich ihre schwarze Lesebrille auf die Nase und schlug das Gammelsberger Tagblatt auf.

»Hast du das gelesen!«, sagte sie zu Adrian und der Hund spitzte die Ohren.

Eine Sekunde später hatte sie bereits zum Handy gegriffen und die Nummer ihres alten Freunds Harry eingetippt.

»Sag mal, Harry, Schätzchen«, flötete sie in den Hörer, »was du da geschrieben hast, die Sache mit diesen grünen Leuten, das klingt ja schrecklich aufregend! Kannst du mich da mal hinfahren zu diesem tollen Schrotthaufen?«

»Seit wann interessierst du dich für Schrott?«, fragte Harry verwundert.

»Ich habe da so eine Idee. Aus diesem olchigen Schrott machen wir Kunst! Diese Schrottkunst könnte ein Renner werden!«, antwortete Peggi aufgeregt.

»Aha!«, folgerte Harry. »Du witterst wieder mal ein gutes Geschäft, stimmt’s?«

»Wir werden sehen«, sagte Peggi.

Peggis Begegnung der olchigen Art

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In null Komma nichts waren Peggi und Harry an der Schmuddelfinger Müllkippe angekommen. Sie stellten Harrys Cabrio an den Straßenrand und begannen vorsichtig über den Müllberg zu klettern.

»Ach, du liebe Güte!«, staunte Peggi Muckelheim. »Was für ein riesiger Müllhaufen! Bist du sicher, Schätzchen, dass wir beide hier durchmüssen?« Ihr fliederfarbenes Designerkleid hatte sich in einer Drahtschlinge verfangen und sie versuchte vergeblich, wieder davon loszukommen.

»Augen zu und durch!«, sagte Harry schmunzelnd, als er sie aus der Schlinge befreit hatte.

Peggi hielt Adrian fest in ihrem Arm, denn das hier war wirklich kein Weg für einen kleinen Hund. Überall lagen rostige Nägel und Glasscherben herum.

»Ruinier dir deine Schuhe nicht«, sagte Harry. Peggi seufzte.

Modrige Matratzen, Autoreifen und Bettgestelle versperrten den Weg. Sie mussten über die Tür eines Kleiderschranks balancieren und über alte Fernseher und Computerteile steigen.

»Wie streng es hier riecht!«, schimpfte Peggi und hielt sich ein Taschentuch vor die Nase. Adrian versuchte seine Schnauze in Peggis Achselhöhle zu bohren.

»Na, warte erst mal, bis wir bei den Olchis sind!«, sagte Harry und grinste über beide Ohren.

Sie stolperten weiter.

Endlich kamen sie zu einem großen Waschmaschinen- und Kühlschrankstapel. Adrian fing an zu winseln. Peggi blieb stehen und lugte vorsichtig um die Ecke. Sie standen direkt vor der Olchi-Höhle.

Harry grinste schon wieder. »Na, hab ich zu viel versprochen?«

»Meine Güte, ist das aufregend!«, murmelte Peggi.

Die beiden Olchi-Kinder hockten in einer Schlammpfütze und warfen sich gegenseitig Matschknödel an den Kopf. Olchi-Opa lag in einer geräumigen Kommodenschublade und schnarchte laut. Olchi-Papa fütterte einen großen grünen Drachen, der dabei schwefelige Dampfwolken in die Luft blies. Und aus der Höhle drang dichter Qualm.

Da kam Olchi-Oma herangestapft. Sie hatte ein rotes Blech in der Hand, das mal der Kotflügel eines Autos gewesen war. Sie warf das Ding auf den Schrotthaufen, der sich neben dem Höhleneingang auftürmte.

»Wunderbar!«, flüsterte Peggi.

»Was ist daran wunderbar?« Harry schaute sie verdutzt an.

»Dieses Ursprüngliche! Dieses Unverbrauchte! Dieses Wilde! Verstehst du, Schätzchen, danach haben wir doch alle gesucht. Das ist echte Kunst!«

»So, so«, murmelte Harry und steckte sich ein Pfefferminzbonbon in den Mund.

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»Schleime-Schlamm-und-Käsefuß!«, rief Olchi-Oma den beiden zu. »Sucht ihr etwas?«

Eines der Olchi-Kinder schleuderte seinen Matschknödel in Richtung Harry, und der konnte sich gerade noch ducken.

»Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle!«, sagte Peggi und stöckelte auf Olchi-Oma zu. »Mein Name ist Peggi Muckelheim. Ich bin Kunsthändlerin in Gammelsberg. Ich finde es ganz toll, wie Sie hier leben. Wirklich sehr ungewöhnlich!«

»Krötig!«, sagte Olchi-Oma und furzte. Gerade schlang sie ein dickes Seil um den hohen Müllturm neben ihr. Sie wollte den Krempel zusammenbinden. Denn wenn man nicht aufpasste und die Müllstapel zu hoch wurden, dann fiel einem der Schrott schon mal auf den Kopf.

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Da wurde plötzlich der schmutzig blaue Vorhang vor der Höhle zur Seite geschoben und Olchi-Mama kam heraus. »Das ist ja grätzig! Besuch haben wir immer gerne!«, rief sie. Ihre Stimme klang so krächzend wie eine rostige Gießkanne, die sprechen kann. »Muffel-Furz-Teufel, wollt ihr zwei etwas trinken?«

»Sehr freundlich von Ihnen«, wehrte Peggi ab. »Aber für mich bitte gar nichts.«

»Was gibt es denn?«, fragte Harry neugierig.

Olchi-Mama lächelte ihn an. »Schleimesumpfiges Morchelwasser. Ist heute besonders sauer und ich hab eine Menge getrockneter Wurzelbürsten-Borsten hineingetan.«

»Nein, danke«, sagte Harry schnell. »Für mich bitte auch lieber nichts. Ich hab erst vorhin bei Peggi frisches Mineralwasser getrunken.«

»Frisches Wasser?«, riefen die Olchi-Kinder entsetzt. Sie waren aus ihrer Matschbrühe gestiegen und kamen neugierig näher. »Frisches Wasser ist total gefährlich. Davon kann man überall bunte Flecken bekommen.«

Eines von ihnen schnüffelte mit seiner dicken Knubbelnase in Richtung Peggi und sagte: »Du stinkst ziemlich nach Parfüm!«

Das andere Olchi-Kind schnüffelte in Richtung Adrian und sagte: »Der hier stinkt aber auch!«

Beide Olchi-Kinder hielten sich die Nasen zu und verzogen die Gesichter, als hätten sie in etwas Süßes gebissen.

»Wenn hier jemand stinkt, dann bestimmt nicht ich!«, murmelte Peggi beleidigt. Sie hatte gerade heute Morgen ihr nagelneues Parfüm aufgetragen. Ein teurer Duft, 300 Euro die Flasche. »Ihre Kinder sind ja wirklich ganz reizend«, sagte sie zu Olchi-Mama und versuchte ein tapferes Lächeln. »Sie sind so geradeheraus!«

Peggi sah Harry schon wieder grinsen. Aber als das eine Olchi-Kind auch noch kräftig furzte, hörte er schlagartig damit auf.

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Adrian winselte. Er war solch olchigen Geruch auch nicht gewohnt.

Peggi kraulte ihm die Ohren und sagte mit zuckersüßer Stimme zu den Olchis: »Ich glaube, ich muss das mal etwas genauer erklären. Darf ich mich setzen?« Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern ließ sich auf einem alten Bierkasten nieder. »Wisst ihr, was Kunst ist?«

Die Olchis schauten Peggi nachdenklich an.

Da kam Olchi-Papa angetrabt. Er war fertig mit Drachenfüttern und hatte alles mit angehört.

Olchi-Papa rief laut: »Kunst ist, wenn ich einen rostigen Nagel aus 30 Meter Entfernung in einen Topf spucken kann!«

Jetzt meldete sich auch Olchi-Opa. Er lag immer noch in seiner Schublade, war aber längst aufgewacht.

»Meine Gedichte sind Kunst!«, rief er zu den anderen hinüber. »Ich bin der oberolchigste Dichter von ganz Schmuddelfing!

Es glänzt der grüne Schleimeschlamm
dort im Schnee, so gut er kann.
Es glänzet auch der Käsefuß,
was gar nicht glänzt, das ist der Ruß!«

»Jetzt liegt doch gar kein Schnee, Opa!«, meckerten die Olchi-Kinder.

»Na, da habt ihr recht«, sagte Olchi-Opa. »Dann eben etwas anderes: Wenn überm Müll ein Sternlein blinkt und der Mond am Himmel stinkt …«

Olchi-Oma unterbrach ihn: »Ich weiß, was Kunst ist. Kunst ist für mich ein richtig gut verbrannter Stinkerkuchen. Kunstvoll verziert mit Reißnägeln und kleinen Schneckenhaus-Streuseln.«