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Erika Kroell

Irre

Erika Kroell lebt und arbeitet als Rundfunk-Journalistin und Schriftstellerin im Ahrtal. Sie hat mehrere Krimis und phantastische Romane verfasst und ist Autorin zahlreicher Kurzgeschichten ebenfalls aus diesen Genres. Sie ist Mitglied im Deutschen Sherlock-Holmes-Club, bei MinD, bei den »Sisters in Crime« und im Verband deutscher Schriftsteller.
Nach »Dunkle Schwestern« ist »Irre« ihr zweiter Titel im Programm des KBV.

Erika Kroell

Irre

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Für alle, die noch gerne Weihnachten feiern.

Hey, Sie, kommen Sie her!«

Die Stimme kam von hinten links aus der Ecke. Dort saß ein Mann und winkte mir zu.

»Setzen Sie sich zu uns!«

Ich blieb in der Tür stehen und sondierte erst einmal meine Umgebung. Der Raum war grell erleuchtet; hässliche Neonröhren zogen sich in exakt bemessenen Abständen an der Decke entlang, tauchten das Zimmer in ein kaltes Licht und ließen niemandem die geringste Chance, sich in einer dämmrigen Ecke vor den Augen der Welt zu verstecken. Für ein Zimmer dieser Größe waren viel zu viele Menschen darin. Es hatte den Charme der Raucherzimmer in einem Krankenhaus. Nur rauchte hier niemand.

Am liebsten wäre ich rückwärts wieder hinausgegangen. Aber da stand dieser beleibte Cherub – »Ich bin Schwester Hilda, meine Liebe« – unmittelbar hinter mir. Ihr heißer, keuchender Atem befeuchtete meine empfindsamen Nackenhärchen. Es gab kein Zurück.

Entschlossen trat ich einen Schritt in den Raum hinein und ließ meinen Koffer zu Boden sinken. Ich fühlte mich wie Alice im Wunderland vor der Entscheidung, ob sie nun in den Keks beißen soll oder nicht. Nur mit dem Unterschied, dass, egal, ob ich hineinbeißen würde oder nicht, das Ergebnis immer dasselbe bliebe.

»Nun kommen Sie schon her. Hier ist noch ein Plätzchen frei!« Der Mann in der Ecke winkte heftig. Ich streifte ihn kurz mit einem Blick und beschloss, ihn so lange wie möglich zu ignorieren.

Die Tür, durch die ich eingetreten war, war die einzige in dem fast quadratischen Zimmer. Ein Doppelfenster in der rechten Wand gab den Blick auf einen kahlen Garten frei, in dem nur hier und da ein wenig Grün spross. Die meisten Bäume und Büsche waren noch winterbraun und traurig. In der Mitte des Gartens machte ich eine gepflasterte Plattform aus, auf der im Sommer wahrscheinlich Stühle und Tische mit bunten Sonnenschirmen standen. Allein die Vorstellung belebte mich ein wenig.

Wenn wenigstens eine weiße Schneedecke diese trübe Aussicht etwas erfrischen würde. Aber nach Schnee sah es nicht aus.

Als kleine Entschädigung gaben die abwaschbar-uringelb gestrichenen Wände dem Raum das Flair einer lange nicht gereinigten Bahnhofstoilette. Der Geruch war entsprechend.

Der quadratische Resopaltisch, an dem der winkende Schreihals saß, war einer von fünfen, die gleichmäßig im Raum verteilt standen. Auf fast allen Stühlen saßen Menschen, manche auch daneben. Einige waren recht anständig gekleidet in Hose oder Rock, Pullover oder Hemd. Andere trugen Jogginganzüge, Nachthemden oder gestreifte Bademäntel, die bessere Tage gesehen hatten. Vielleicht auch nicht.

Außer dem Mann in der Ecke starrten mich noch einige neugierige Augenpaare an. Die meisten Patienten allerdings schien die Anwesenheit eines Neuankömmlings weit weniger zu beeindrucken als die buntflirrende Talkshow, die über den Bildschirm des Fernsehers in der Ecke flackerte. Ich war nicht undankbar dafür.

Die erdrückende Fülle des Zimmers, meine alles in allem unerfreuliche Situation und Schwester Hildas dicker, dampfender Leib in meinem Rücken ließen mich ein wenig schwindlig werden. Schnell nahm ich meinen Koffer auf und gab dem Drängen des winkenden Mannes in der Ecke nach. Besser, mit Schwachsinnigen an einem Tisch zu sitzen als auf der Türschwelle ohnmächtig zu werden und gleich in der Geschlossenen zu landen.

Er hatte mich offenbar die ganze Zeit im Auge behalten. Kaum tat ich den ersten Schritt in seine Richtung, sprang er auf und zog den einzigen freien Stuhl am Tisch zurück. Auf dem dritten Platz hockte eine freundlich wirkende, ältere Frau, die mir unverbindlich zulächelte.

Ich stellte den Koffer in meiner Nähe an der Wand ab und setzte mich.

»Nehmen Sie Platz, und ruhen Sie sich erst mal aus«, rief der Mann, obwohl ich längst saß. »Sie sehen etwas mitgenommen aus.«

Ich nickte. Genauso fühlte ich mich auch. Er setzte sich ebenfalls, sprang aber sofort wieder auf und streckte mir seine Hand hin.

»Ich bin Paul. Seien Sie herzlich willkommen in unserer kleinen verrückten Familie.«

Sein Witz riss ihn schier von den Füßen, und noch während er meine Hand hielt, sank er prustend wieder auf den Stuhl zurück.

»Entschuldigen Sie«, lachte er und wischte sich die Augen, »mit der Zeit wird man hier ein bisschen komisch.«

In mir regte sich kein Widerspruch.

Während Paul seine Lachtränen mit einem karierten Taschentuch abwischte, in das er anschließend kräftig schnäuzte, musterte ich ihn. Er trug einen dunkelblau-grünweinrot-gestreiften Bademantel, aus dessen Ärmeln ein hellblauer Schlafanzug mit dunkelblauen Biesen herausragte. Der Kragen des Schlafanzugs stand offen, und ich sah grau geringelte Brusthaare hervorquellen, gerade so viele, dass es mir zu viel war. Sein lockiges Haupthaar hatte die gleiche Farbe, durchzogen von wenigen dunklen Strähnen. Das Gesicht war hager, die Augen lebhaft, die Nase groß und ein wenig gebogen. Irgendwann einmal, das mochte so an die tausend Jahre her sein, musste er ein schöner Mann gewesen sein.

»Und das hier«, fuhr er fort, jetzt wieder ruhiger, »ist Ellen. Darf ich vorstellen: Ellen, das ist ... wie, sagten Sie, war Ihr Name?«

Ellen lächelte mir zu. Ihr Alter war undefinierbar. Glattes graues Haar hing bis auf ihre mageren Schultern herab, die von einem dünnen, zartgeblümten Nachthemd kaum verborgen wurden. Über dem runden Ausschnitt mit hellgelben Rüschen sah ich hervorstehende Schlüsselbeine, die Kuhlen bildeten, ausreichend für eine Tasse Suppe. Den Flecken auf ihrem Nachthemd nach zu urteilen, hatte Ellen diese Tatsache auch schon entdeckt.

Ihre blauen Augen blickten mich lebhaft und interessiert an, aber hinter diesem Blick spürte ich eine nicht fassbare innere Abwesenheit. Ich mochte sie.

»Hallo, Ellen«, sagte ich freundlich und streckte ihr eine Hand entgegen. »Ich bin Carla.«

Ellen ließ ihren strahlenden Blick von meinem Gesicht zu meiner Hand sinken, fasste sie und drehte sie hin und her, während sie sie eingehend musterte. Bevor ich Gefahr lief, mir die Handlinien deuten zu lassen, zog ich sie wieder zurück. Ellen lächelte ungebrochen.

»Carla! Was für ein reizender Name«, rief Paul überschwänglich und legte mir vertraulich eine Hand auf den Arm.

Manisch, beschloss ich und schob die Hand sanft fort. Er ließ sie auf den Tisch plumpsen und drohte mir mit dem Zeigefinger der anderen.

»Carla, Carla, Carla, ich habe das Gefühl, Sie mögen uns nicht.« Schelmisch lächelte er mich an. »Lassen Sie uns das sofort ändern. Was kann ich für Sie tun?«

Was konnte er für mich tun? Das Haus in die Luft sprengen? Meine Kinder auf den Mond schießen? Bei Schwester Hilda Fett absaugen?

»Wie wär’s mit Kaffee?«, antwortete ich lahm. Ich war müde und ausgelaugt. Ein Kaffee würde mir wahrscheinlich guttun.

»Kommt sofort, gnä’ Frau.« Voller Energie sprang er auf und eilte durch den Raum zur Tür.

Ellen lächelte mich wieder oder immer noch an. Offenbar stand auch ihr nicht der Sinn nach Konversation. Ich zog versuchsweise die Lippen auseinander und hoffte, dass es einem Lächeln ähnelte.

Die anderen im Raum Anwesenden nahmen mittlerweile keine Notiz mehr von mir, und ich nutzte Pauls überstürzten Aufbruch, um mich in Ruhe umzusehen.

Den Tisch in der rechten hinteren Ecke des Raums nahm eine Frau ganz allein ein. Zweifellos die fetteste Frau, die ich je gesehen hatte, und ich war in den Talkshows aller Privatsender sozusagen zu Hause. Sie brachte schätzungsweise zweihundert Kilo auf die Waage, gäbe es denn eine, die sie hätte aushalten können. Ihre Massen hatte sie in ein geblümtes Stoffkleid überdimensionalen Ausmaßes verpackt, das an zwei weit entfernt liegenden Löchern zwei kugelrunde Patschhändchen freiließ. Ihre Füße konnte ich zum Glück unter dem Tisch nicht erkennen. Zwischen ihren dicken Backen lugten zwei winzige dunkle Äuglein hervor, die wie gebannt auf eine Stelle des Tisches starrten, als fixierten sie ein besonders ekliges Insekt. Sie rührte sich nicht.

Etwa einen Meter über ihrem Kopf war ein Eckregal angebracht, das einen großen Buntfernseher trug. Das schien der Hauptanziehungspunkt für die meisten Anwesenden zu sein.

Der nächste Tisch, direkt vor dem Fenster mit der atemberaubenden Aussicht, war mit vier Leuten besetzt, die gemeinsam ein perfektes Gruselkabinett abgegeben hätten. Links saß ein Mann um die dreißig, der von einem mehrteiligen Bewegungsablauf vollständig gefangen genommen wurde. Er schüttelte langsam, aber stetig, den Kopf von links nach rechts und zurück. Seine linke Hand lag auf seinem Kopf und ballte die Finger abwechselnd zur Faust und ließ sie wieder locker. Faust. Offene Hand. Faust. Offene Hand. Der rechte Arm hing locker an der Seite herab, baumelte sogar ein wenig, und die dazugehörige Hand schien permanent nach etwas zu greifen, das ich nicht sehen konnte. Schnapp, schnapp, schnapp.

Ihm gegenüber saß ein Mann, der sein Großvater hätte sein können, sowohl vom Alter als auch vom Aussehen. Er verharrte ganz ruhig in seiner Haltung, die Ellbogen auf den Tisch gestützt, und erzählte. Ich lauschte angestrengt in den Raum hinein, hörte aber kein Wort über seine Lippen kommen. Die anderen am Tisch schenkten ihm keinerlei Aufmerksamkeit. Offenbar führte er unhörbare Gespräche mit unsichtbaren Personen über ungeschehene Ereignisse.

Die Frau, die mit dem Rücken zum Fenster saß, wandte ihren Blick in dem Moment mir zu, als ich sie ansah. Sekundenlang starrten wir uns an. Augenblicklich fühlte ich mich bedroht, obwohl sie keinerlei Regung zeigte. Zumindest nicht im Gesicht, muss ich korrigieren, denn als mein Blick zu der vierten Person am Tisch wanderte, sah ich, dass ein Bein der Frau permanent nach dieser Person trat. Und die, oder vielmehr der, befand sich unter dem Tisch. Er war wohl der lebhafteste der vier. Er kauerte, halb sitzend, halb kniend, mitten unter der quadratischen Tischplatte, hatte den linken Kragen seines Sakkos hochgeklappt und flüsterte unauffällig in seine Jacke. Dabei lugten seine flinken Augen heimtückisch unter den halb geschlossenen Lidern hervor und versuchten, hin und her huschend die gesamte Umgebung zu erfassen. Die Tritte der Frau über ihm ignorierte er.

Ich wollte eben meinen Blick weiterwandern lassen; als Paul mit einem kleinen Tablett zurückkam, auf dem eine Tasse dampfenden Kaffees stand. Mit einer galanten Geste platzierte er das Tablett vor mich auf den Tisch.

»Voilà, Madame.«

»Ganz herzlichen Dank.«

Gierig griff ich nach der Tasse und nahm einen großen Schluck. Oh, mein Gott, das tat gut. Der heiße Kaffee floss in meinen Magen hinab und belebte sofort meine müden Glieder. Ich atmete auf.

Jetzt fehlte mir nur noch eins. Ich griff links in meine Jackentasche und fischte eine Schachtel Zigaretten und ein Feuerzeug heraus und zündete mir eine an.

»Wir dürfen hier nicht rauchen«, zischte Paul und blickte sich besorgt um.

Genüsslich nahm ich den Filter zwischen die Lippen und zog, dass die Glut hörbar knisterte.

»Sie können mich ja rausschmeißen, wenn sie wollen.«

Paul sah mich einen Moment überrascht an, dann begann er zu lachen.

»Das ist gut«, gluckste er, »rausschmeißen. Das ist echt gut.«

Er lachte so heftig, dass ich jeden Moment mit einer Herzattacke rechnete.

»Wollen Sie auch eine?«

Ich hielt ihm die offene Schachtel hin, und unter Lachtränen fingerte er eine Zigarette heraus. Ich gab ihm Feuer. Er inhalierte tief mit zurückgelegtem Kopf und blies eine lange Rauchfahne zur Decke.

Ellen reagierte genauso auf mein Zigarettenangebot wie ich erwartet hatte. Sie lächelte.

Nachdem der göttliche Kaffee getrunken war, benutzten wir den Unterteller als Aschenbecher. Paul rauchte noch intensiver als ich. Wer weiß, wann der arme Kerl zum letzten Mal Nikotin genossen hatte. Seine Glut war mindestens einen Zentimeter lang, als er die Asche abklopfte und die Zigarettenspitze auf seinen Handrücken drückte. Die kleinen Härchen kringelten sich sofort zusammen. Es roch scharf.

»Damit werden wir echt Ärger kriegen«, stellte ich fest und rümpfte die Nase, als das verbrannte Fleisch zu stinken begann. Paul starrte wie gebannt auf die Zigarettenglut, die sich langsam in seine Hand hineinfraß. Seine Augen glänzten, und der Schmerz füllte sie mit Tränen.

»Hören Sie auf mit dem Quatsch«, befahl ich und nahm ihm den Zigarettenstummel weg. Gerade, als ich die Glut in der Untertasse ausdrückte, stampfte Schwester Hilda in den Raum und trat an unseren Tisch. Ich legte meine Hand über Pauls verbrannte.

»Frau Noelle, Sie dürfen hier nicht rauchen!« Schwester Hildas Ton erinnerte mich an irgendwas aus meiner frühesten Kindheit, das ich bisher erfolgreich verdrängt hatte.

»Schon klar«, antwortete ich und ließ sie den Unterteller und die Kaffeetasse abräumen. Sie schnupperte. »Und noch dazu so ein schreckliches Kraut«, tadelte sie. Ich unterdrückte ein Lächeln. Wahrscheinlich glaubte sie jetzt, ich rauchte Fingernägel.

»Sie werden bald Ihr Zimmer beziehen können. Nur noch ein wenig Geduld.«

Ich wartete darauf, dass sie mir die Wangen tätscheln würde, damit ich endlich einen Grund hatte, ihr in den fetten Bauch zu treten, aber sie tat es nicht, sondern ging einfach mit dem Geschirr wieder hinaus.

Vorsichtig hob ich meine Hand von Pauls. Meine Handfläche war an seiner Wunde kleben geblieben, und es schmerzte vermutlich, als ich meine Hand wegzog. Paul ließ sich aber nichts anmerken.

Die Wunde sah nicht gut aus. Sie war kreisrund, am Rand schwarz verkohlt und mittendrin ein Gemisch aus blutrotem Matsch und grauer Asche. Unerfreulich.

»Lecken Sie mal drüber«, befahl ich. Paul starrte fasziniert auf die Wunde und schüttelte heftig den Kopf. Ich nahm seine Hand und hielt sie Ellen vors Gesicht. »Lecken Sie mal drüber.« Ellen lächelte mich an.

Also nahm ich Pauls Hand und leckte die Wunde sauber. Sie sah gleich viel besser aus. Dafür hatte ich einen grässlichen Geschmack im Mund.

»Ich brauche noch einen Kaffee«, sagte ich, und Paul sprang sofort auf und lief hinaus.

Eine weitere Zigarette aus meiner Schachtel ging ihrer natürlichen Bestimmung entgegen. Paul eilte mit dem Kaffee herbei, und unser Ritual wiederholte sich.

»Aber nicht wieder auf der Hand ausdrücken, klar?«

»Auf der Hand?« Paul starrte mich entgeistert an. »Wie kommen Sie denn auf die Idee?«

»Nur so«, antwortete ich und trank meinen Kaffee, ließ aber Paul und seine Zigarette nicht einen Moment aus den Augen. Er rauchte ganz manierlich und deutete auf meinen Koffer.

»Man hat Ihnen noch kein Zimmer zugeteilt, was?«

Ich schüttelte den Kopf. »Offenbar haben sie draußen Probleme mit irgendeinem Geisteskranken, der sich partout nicht festbinden lassen will. Als ich eben ankam, hatte er gerade einen Pfleger zusammengeschlagen. Aber Schwester Hilda wird das schon hinkriegen.«

Paul nickte. »Sicherlich. Sie kriegt alles hin.«

Wir schwiegen, tranken Kaffee und rauchten.

»Wie lange haben Sie denn gekriegt?«, fragte Paul, als wir unsere Stummel in der Untertasse ausdrückten.

Ich blickte ihn fest an. »Ich bin freiwillig hier. Ich kann jederzeit wieder gehen, wann immer ich will.«

»Ach, was«, grinste er spöttisch.

»Ist wirklich wahr«, bekräftigte ich. »Meine Kinder haben mich vor die Alternative gestellt, freiwillig hier hinzugehen oder mich einweisen zu lassen. Ich hielt es für besser, die freiwillige Variante zu wählen.«

Paul nickte verständnisvoll.

»Und warum sind Sie hier?«

Einige Sekunden gönnte ich mir, diese berechtigte Frage zu überdenken. Sie war nicht mit einem Satz zu beantworten, stellte ich fest. Einiges war geschehen, und letztendlich hatte ein ganzes Bündel von Ereignissen mich in meine jetzige Lage gebracht.

»Das erzähle ich Ihnen später. Warum sind Sie hier?«

Paul lächelte. »Das erzähle ich Ihnen auch später«, antwortete er. »Ohnehin haben die meisten anderen hier viel interessantere Geschichten als ich. Ellen, zum Beispiel. Was sie erlebt hat, würden Sie nicht für möglich halten.«

Ellen lächelte.

»Und was hat sie erlebt?«

»Das erzähle ich Ihnen später«, grinste Paul frech.

Aha, so lief also der Hase.

»Also gut«, gab ich mich geschlagen, holte tief Luft und versuchte nun doch, meine Geschichte in einem Satz zusammenzufassen. »Ich feiere Weihnachten.«

Paul stutzte, nickte dann aber langsam mit dem Kopf. »Aha, ich verstehe.«

»Und Sie? Warum sind Sie hier?«

Er zeigte ein winziges Lächeln. »Das erzähle ich Ihnen wirklich später. Meine Geschichte ist nicht halb so interessant wie ...«, er blickte sich im Raum um, »... wie zum Beispiel die von Gerhard.« Sein Blick haftete auf einem sehr dicken jungen Mann, den ich bisher noch nicht wahrgenommen hatte. Er saß an dem Tisch, der der Tür am nächsten lag, und plauderte angeregt mit einem älteren, grauhaarigen Herrn, der Seriosität und Adel ausstrahlte.

»Gerhard ist gut genährt, wie Sie sehen, und das ist auch sein Problem«, erklärte Paul. Ich zog eine Augenbraue fragend in die Höhe.

»Gerhard hat sich zu gut ernährt. Falls Sie verstehen, was ich meine ...«

Ich verstand sofort, wollte aber trotzdem die ganze Geschichte hören. Wie sollte man sich sonst an diesem gottverlassenen Ort die Zeit vertreiben? Paul ließ sich nicht zweimal bitten.

»Gerhard lebte mit seinem Vater zusammen. Die Mutter ist abgehauen, als Gerhard noch klein war. Was Sie sicherlich vermuten, aber nicht auf Anhieb erkennen können: Gerhard ist ein wenig zurückgeblieben. Er befindet sich auf dem geistigen Stand eines Sechsjährigen. Niedlich, was?«

Mein Blick über die Schulter bestätigte, was mein Verstand schon von vornherein vermutet hatte: Gerhard war alles andere als niedlich. Er war etwa eins neunzig groß, wog vielleicht hundertfünfzig Kilo, die er in einen dehnbaren Schlafanzug in Zartviolett verpackt hatte, und trug den Gesichtsausdruck eines geistesgestörten Triebtäters. Seine kurzen, dunkelblonden Haare standen ungekämmt nach allen Seiten ab. Ich war sicher, dass er roch.

»Sein Vater bezog eine kleine Rente, von der die beiden lebten. Allerdings mehr schlecht als recht.« Paul lehnte sich entspannt zurück, während er erzählte. Offensichtlich genoss er die Situation.

»Sie aßen bescheiden, gönnten sich regelmäßig eine Flasche Schnaps und vertrieben sich die Zeit mit fernsehen oder Karten spielen. Besuch bekamen sie so gut wie nie. Ganz selten sah mal eine alte Freundin der Mutter nach ihnen, wenn sie zufällig in der Nähe war. Das war dann der reinste Feiertag, weil die alte Dame immer einen selbst gebackenen Kuchen und ein Pfund Kaffee mitbrachte. So führten sie also ein ruhiges und beschauliches Leben.«

Paul sann ein paar Sekunden vor sich hin.

»Dann war da dieser harte Winter, war das 95 oder 96? Ich weiß es nicht mehr. Da wurde jedenfalls das Essen knapp.«

Paul grinste.

»Die kleine Rente reichte gerade noch für die Heizung und den billigen Fusel, mit dem sie sich beide die letzten grauen Zellen wegsoffen. Und die alte Freundin mit dem Kuchen war auch nicht in der Nähe.«

Kunstpause zur Steigerung der Spannung. Gelungen.

»Zuerst fraßen sie die beiden Katzen und dann den Hund. Kochen konnte der Alte ja, da lässt sich nichts gegen sagen. Aber dann ...«

Paul beugte sich vor, und ich schwang meinen Oberkörper ihm entgegen.

»... dann gab es nichts mehr.«

Enttäuscht lehnte ich mich wieder zurück.

Paul blieb vorgebeugt sitzen, seine ganze Haltung versprach Spannung.

»Nichts mehr außer den Pennern, die nicht wissen, wo sie die kalten Winternächte verbringen sollen.«

Schon beugte ich mich wieder vor.

»Gerhards Paps gewöhnte sich an, lange Spaziergänge bis zum Stadtrand zu unternehmen. In leer stehenden Schrebergartenhäuschen, Wellblechhütten oder irgendwelchen selbst zusammengeschusterten Verschlägen hauste dort eine ganze Reihe verkrachter Existenzen, die niemand jemals vermissen würde.

Der erste Penner war für die beiden eine harte Nuss. Er folgte dem Alten bereitwillig nach Hause, voller Vorfreude auf einen warmen Ofen und ein gekochtes Essen. Die Probleme fingen erst an, nachdem Paps den Penner mit einem Holzscheit erschlagen hatte. So einen Menschen zu zerlegen, ist ja was anderes als einen Hund. Sie schafften es mit Müh’ und Not, mit Messern und der Axt und einer Menge Schweinerei. Das Fleisch bewahrten sie in Plastiktüten im Schnee vor ihrer Hütte auf, und nach und nach diente der magere Penner dazu, die Fettzellen in Gerhards fettem Körper wieder aufzufüllen.«

Erst jetzt merkte ich, dass ich die ganze Zeit die Luft angehalten hatte. Mir wurde schon etwas flau. Ich begann wieder zu atmen, und Paul lehnte sich entspannt zurück.

»Lange hielt der Penner nicht, vielleicht eine Woche oder so. War nicht viel dran. Dann brachte der Alte wieder einen mit nach Hause. Der war jünger und kräftiger.«

Meine Lippen wurden trocken, und ich leckte darüber.

»Sie füllten ihn mit Fusel ab und stießen ihm ein Messer ins Herz. Er war sofort tot, und was aus ihm rauslief, war eine Mischung aus Fusel und Blut. Gerhard und sein Paps fingen es in einer Tupperschüssel auf und verarbeiteten es später in der Fleischsuppe, die aus den Resten gekocht wurde.«

Schnell fingerte ich eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Paul bot ich keine an. Ellen lächelte.

»Gerhard griff sofort zum Beil, um ihn zu zerteilen, aber der Alte hielt ihn zurück. Der ist noch zu mehr zu gebrauchen, sagte er und grinste. Dann vögelte er den Penner, der schon langsam kalt wurde, und erst dann zerteilten sie ihn und brieten sich ein gutes Stück. Natürlich hatten sie es vorher gewaschen.«

Paul legte seine Stirn in nachdenkliche Falten.

»Hoffe ich jedenfalls. Na ja, so ging es weiter. Mit der Zeit lernte auch Gerhard, dass die Penner noch zu anderem taugen, als gefressen zu werden, und sie holten sich immer öfter einen, weniger fürs Essen als fürs Vögeln. Die Fleischtüten im Schnee wurden immer mehr, und allmählich begann der Frühling. Irgendwann hatten sie dann eine Fleischschwemme, wie man so sagt, und da besann sich Gerhards Alter auf familiäre Traditionen und kochte ein. Sie wissen, was das bedeutet?«

Ich nickte. Vor meinem geistigen Auge tauchten Kellerregale voll eingekochter Pfirsiche, Gurken und Kaninchenstücke auf, die meine Großmutter immer vorrätig hielt, weil sie den Dritten Weltkrieg vor der Tür stehen sah. Fast jeden Tag stellte sie eine ihrer Konserven auf den Mittagstisch. Kaninchen mochte ich besonders.

»Es herrschte kein Mangel im Hause, das Geld reichte für den Fusel und die Penner für alles andere, und Gerhard und sein Paps waren glücklich und zufrieden.«

Ich hielt den Atem an.

Paul beugte sich vor, ganz dicht zu mir, sodass unsere Nasenspitzen sich fast berührten. Ich harrte einer grausigen Enthüllung. Vielleicht wollte er mich auch küssen.

»Zigarette!«

Stoßartig ließ ich den angehaltenen Atem ab. Ohne mich mehr als nötig zu bewegen, zog ich die Schachtel aus der Tasche, entnahm eine Zigarette, zündete sie an und steckte sie ihm zwischen die Lippen.

Er zog und ließ sich wieder nach hinten gegen die Stuhllehne fallen. Die Spannung zwischen uns wich fast hörbar. Auch ich lehnte mich zurück.

Paul spannte mich auf die Folter, indem er zwei-, dreimal kräftig zog und dann versuchte, Rauchringe zu blasen. Er fabrizierte allerdings nur undefinierbare Formen mit nicht erwähnenswerten Löchern. Ich zog selbst kräftig an meiner Zigarette und zeigte ihm, wie’s ging.

»Toll«, staunte er und klopfte bewundernd auf meine Schulter. Ich strahlte vor Stolz.

»Dann starb der Alte«, fuhr Paul unvermittelt fort. »Kein Wunder eigentlich, denn er war ja schon ziemlich alt und nicht mehr so ganz fit, und dann der ganze Fusel ... Wie auch immer, er starb jedenfalls. Gerhard war natürlich gnadenlos überfordert mit der Situation. Da liegt also sein Paps tot in der Küche und wird langsam kalt. Was soll er tun?«

Paul sah mich an, als erwarte er eine Antwort auf diese rhetorische Frage. Ich blieb stumm.

»Ganz klar«, gab er selbst die Antwort, »er macht dasselbe mit ihm wie mit den Pennern.«

Spannungspause.

»Und dann zerteilt er ihn und kocht in ein.«

Paul lachte. Wahrscheinlich stellte er sich, wie ich, die Situation vor, und auch ich konnte mir ein herzhaftes Lachen nicht verkneifen. Selbst Ellen lächelte.

Schon wollte ich mich wieder beruhigen, um den Rest der Geschichte zu hören, aber Paul lachte immer noch und begann jetzt, sich auf den Oberschenkel zu schlagen. Da fiel ich auch wieder ein, und wir grölten und gackerten wohl einige Minuten lang, bis uns die Tränen die Wangen hinabströmten. Paul bekam kaum noch Luft und hustete und lachte abwechselnd. Ich hielt mir den Bauch und kicherte atemlos vor mich hin. Allmählich normalisierte sich unser Zustand wieder, als mir auffiel, dass uns aus allen Richtungen Augenpaare anstierten, manche wütend, andere nervös oder ängstlich, einige nur neugierig. Ich stupste Paul an und deutete in den Raum.

»Oh, oh, oh«, kicherte er. »Wenn das mal gut geht.«

Seine Bemerkung erschreckte mich derart, dass mir das restliche Lachen abrupt im Halse stecken blieb. Eine Vision von fetten, geisteskranken Leibern, die sich wütend und geifernd auf mich stürzten, trieb mir den Schweiß auf die Stirn. Auch Paul wurde jetzt ganz ruhig, atmete tief durch und sammelte sich.

»Natürlich hatte Gerhard keine Ahnung davon, dass man einen Verstorbenen irgendwo abmelden muss und so weiter. Aber das war auch sein Glück. Er bezog die Rente weiter, und er hatte oft genug seinem Alten zugesehen, wie der die Penner mit einer Flasche Fusel anlockte und dann abmurkste. Er machte halt alles selber, genau, wie es der Alte vorher getan hatte.«

Paul ertränkte seinen Zigarettenstummel in einem Rest Kaffee, den ich in der Tasse zurückgelassen hatte. Der Filter sog sich sofort voll; helle Aschenflocken schwammen auf der braunen Pfütze.

»Irgendwann musste das natürlich auffallen. Im späten Frühling kam die alte Freundin mit ihrem Kuchen wieder. Natürlich fragte sie Gerhard nach seinem Paps, aber seine Antwort war wohl weder verständlich noch informativ. Die alte Dame wartete einige Stunden, und als der Alte nicht nach Hause kam, ließ sie Gerhard wieder allein. Am nächsten Tag stand eine Tante von der Fürsorge mit zwei Bullen vor dem Haus und verfrachtete Gerhard in ein Heim. Im Keller fanden sie Regale voller Einmachgläser. Zum Schluss zählten sie, ich glaube, fünfzehn verschiedene Urheber, wenn ich mal so sagen darf. Davon hätte Gerhard locker noch ein Jahr leben können.«

Paul schmunzelte. »Vor Gericht wurde er natürlich für unzurechnungsfähig befunden und kam dann hierher. Die Kost ist etwas abwechslungsreicher, dafür gibt’s weniger Fusel und nichts zu vögeln.«

»Echt nicht?«, fragte ich.

Paul sah mich distanziert an.

Ich wiegte den Kopf. »War ja nur ´ne Frage.«

Ellen lächelte, aber mir schien ihr Lächeln diesmal etwas intensiver zu sein als bisher. Ich beobachtete sie angestrengt, um festzustellen, ob ich recht hatte. Ohne Erfolg.

Mein Bauch schmerzte immer noch von dem krampfartigen Lachanfall. Sanft massierte ich die Stelle mit der Hand.

»Erzählen Sie mir noch mehr von den anderen.«

Ein Schrei drang vom Flur bis zu uns und legte die Vermutung nahe, dass Schwester Hilda nach wie vor zu beschäftigt war, um sich um mich zu kümmern. Ich bedauerte es nicht. Im Moment schien mir die Aussicht, ein Krankenzimmer zu beziehen, nicht sehr verlockend. Lieber wollte ich weiter Pauls Erzählungen lauschen.

Sondierend blickte Paul sich im Raum um, auf der Suche nach der nächsten spannenden Geschichte. Sein Blick wanderte schließlich zu dem Tisch mit dem Gruselkabinett zurück.

»Das könnte Ihnen auch gefallen«, stellte er fest und nickte mit dem Kinn zu den Vieren hinüber. »Da hat im Grunde jeder was zu bieten, aber ich denke, ich sollte mit Annegrets Story anfangen.«

Da nur eine einzige Frau am oder unter dem Tisch saß, musste Annegret die Treterin sein. Sie saß mit dem Rücken zum Fenster, und ich konnte ihr Gesicht nur undeutlich erkennen. Im Gegenlicht wirkte ihr langes rötliches Haar wie eine strahlende Aura. Offenbar spürte sie unser plötzliches Interesse, denn aus den leuchtenden Falkenaugen traf mich ein herausfordernder Blick. Schnell wandte ich mich wieder zu Paul um.

»Annegret hatte ein Hobby«, eröffnete Paul und hob theatralisch beide Hände empor, mit den Handflächen nach innen. Seine Brandwunde hatte sich schon etwas zugezogen. Ich überlegte, ob ich sie gelegentlich noch einmal lecken sollte.

»Annegrets Hobby war Sticken«, fuhr Paul fort, und seine beredten Hände ahmten die Stickarbeit nach, zogen imaginäre Nadeln mit imaginären Fäden durch imaginären Stoff.

»Sie kennen das ja sicher.« Und ob, dachte ich.

»Sie stickte, und das konnte sie sehr gut. Ich habe einige ihrer Decken und Blusen gesehen, die sie mitgebracht hat. Bewundernswert, wirklich. Fast schon Kunst.«

Verstohlen blickte ich zu Annegret hinüber. Ihr Oberkörper blieb völlig ruhig, ihr Gesicht unbewegt, während ihr rechter Fuß in gleichbleibendem Rhythmus nach vorn ruckte und den Mann unter dem Tisch in die Seite trat.

»Annegret hatte auch einen Mann. Die Ehe war leider kinderlos geblieben, und so wurde das Sticken nach und nach zu Annegrets Hauptbeschäftigung. Ihrem Mann gefiel das Hobby zunächst, aber mit der Zeit ging es ihm wohl auf die Nerven. Das ganze Haus muss mit gestickten Tüchern behängt gewesen sein. Tische und Sofas, Sessel und Wände und schließlich sogar der Elektroherd, was einen kleinen Zimmerbrand zur Folge hatte, als Annegret vergaß, das Tuch vor dem Kochen abzunehmen. Schließlich verlangte der Mann von Annegret, ihr Sticken zu beschränken und sich anderen Beschäftigungen zuzuwenden. Er machte sich wohl auch allmählich Sorgen um ihren Geisteszustand. Immer nur sticken, das schien ihm kein gutes Zeichen.

Ihr fiel aber nichts anderes ein. Also stickte sie heimlich ein langes Tischband, wissen Sie, solche, wie man sie an Feiertagen von einem Ende des Tisches zum anderen hinüberlegt. Und als es fertig war, erwürgte sie ihren Mann damit.«

Mit einem warmen Gefühl der Verbundenheit betrachtete ich Annegret, die meinen Blick wiederum spürte und erwiderte. Ich lächelte ihr zu, und ihr hageres Falkengesicht beleuchtete ein Strahlen wie die aufgehende Sonne. Eine Schwester!

»Immerhin, das muss man sagen, trug Annegrets Mann das schönste bestickte Leichenhemd, das die Totenwelt je gesehen hat.«

Paul prustete wieder los und wechselte unvermittelt über in einen Hustenanfall, der ihn an den Rand des körperlichen Zusammenbruchs brachte. Zu viel geraucht, taxierte ich im Stillen.

»Sie stickt jetzt nicht mehr?«

Paul schüttelte den Kopf und rang mühsam um Atem.

»Nein«, keuchte er, »das hat sie ganz aufgegeben. Anfangs stickte sie noch, aber es erinnerte sie immer an das tragische Geschehen, und jedesmal versuchte sie, Schwester Hilda zu erwürgen. Also haben sie es ihr verboten und ihr die ganzen Utensilien abgenommen.«

Weit hinten am Horizont dämmerte ein Hoffnungsschimmer herauf. Ich würde mich mal mit meiner Schwester im Geiste unterhalten müssen. Und was ich ihr zu Weihnachten schenken würde, ahnte ich auch schon.

»Woher wissen Sie das alles?«, fragte ich.

Paul antwortete mit einer wegwerfenden Handbewegung.

»Sie würden die Geschichten alle von den Betroffenen selbst erzählt bekommen, wenn Sie abwarten würden. Jeder ist irgendwann ganz wild darauf, seine eigene tragische Geschichte an den Mann zu bringen. Und dann bin ich da und höre zu.«

Ein wenig entspannter als zu Anfang meines unerfreulichen Aufenthaltes lehnte ich mich zurück. Es saßen noch viele Menschen in diesem Raum, und wenn Paul mir alle Geschichten erzählte, würde die Zeit nicht lang werden.

»Was ist mit dem Mann unter dem Tisch?«

Pauls Antwort war ein Schmunzeln.

»Das wird er Ihnen selbst erzählen, verlassen Sie sich drauf. Ohnehin sind Sie jetzt dran mit Ihrer Geschichte. Was war das mit Weihnachten?«

»Oh nein, noch nicht. Bitte, noch eine!«, bettelte ich, und Paul fühlte sich sichtbar geschmeichelt.

»Na gut, aber wir machen es folgendermaßen: Ich erzähle Ihnen ein Stück von einer neuen Geschichte, dann erzählen Sie mir ein Stück von Ihrer, okay?«

Es brauchte nur eine Zehntelsekunde, bis ich zustimmend nickte. »Abgemacht.«

»Das wird aber eine längere Sache«, bemerkte Paul. »Es geht nämlich um Ellen, und ich sagte Ihnen ja schon zu Anfang, dass sie einiges erlebt hat.«

Ich nickte. Das sollte nicht das Problem sein. Aber ...

»Gibt es hier auch was anderes als Kaffee zu trinken?«

Paul zog beide Augenbrauen hoch.

»Was anderes? Was zum Beispiel?«

»Wie wär’s mit Whisky-Cola?«

Paul lächelte dünn und bedauernd.

»Wie wär’s mit Kamillentee?«

Verschwörerisch beugte ich mich zu ihm hinüber.

»Passen Sie auf«, flüsterte ich. »Sie besorgen uns noch einmal zwei Tassen Kaffee. Für den Rest sorge ich. Okay?«