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Anna, Alexandra, Alex, Benjamin, Celine, Daniel, Julian, Kathi, Laura, Maxi Sophie, Maximilian, Melanie

 

und

 

alle Menschen, die ich liebe.

Der Tod kann uns alle mal – es lebe das Leben

»Das Leben ist wundervoll.

Es gibt Augenblicke,

da möchte man sterben.

Aber dann geschieht etwas Neues,

und man glaubt, man sei im Himmel.«

Edith Piaf

Mit 17 hat man noch Träume: »Work and Travel« in Australien, mit der Fußballmannschaft aufsteigen, endlich einen festen Freund. Oder raus aus der Intensivstation, nicht mehr ständig Schmerzen aushalten müssen, den Krebs besiegen. Junge Menschen, die sich in einem Alter, in dem das Leben erst so richtig losgeht, schon mit Chemotherapie und Testament, Krankenhausessen und Metastasen-Wachstum beschäftigen müssen, brauchen viel Kraft, um an das Glück zu glauben. Und Stärke, um ihre verzweifelten Familien zu ertragen. Wie John Green in seinem genialen Jugendroman ›Das Schicksal ist ein mieser Verräter‹ schreibt: »Ich wollte meine Eltern glücklich machen. Denn es gibt nur eins auf der Welt, das ätzender ist, als mit sechzehn an Krebs zu sterben, und das ist, ein Kind zu haben, das an Krebs stirbt.«

Schwer kranke Teenager verbringen mehr Zeit in Krankenhäusern als in der Schule. Sie haben oft mehr Freunde ohne Haare auf dem Kopf als mit einer hippen Frisur. Und sie reden jeden Tag mit Ärzten, die ihnen ihre Krankheit mit komplizierten Fachbegriffen erklären. Während ihre Freundinnen zum ersten Mal die Pille verschrieben bekommen, nehmen sie täglich die härtesten Schmerzmittel. Und wenn sich die Klassenkameraden auf Studienplätze bewerben, hoffen sie, dass es für sie überhaupt noch ein nächstes Lebensjahr geben wird.

Egal, mit wem sie sprechen, die Menschen sind sprachlos. Was soll man einem Jugendlichen auch sagen, der vielleicht bald stirbt? Das Leben hatte doch noch gar nicht richtig begonnen. So wie Hazel und Augustus, den krebskranken Protagonisten in ›Das Schicksal ist ein mieser Verräter‹, bleibt Jugendlichen auf der Schwelle zwischen Leben und Tod oft nichts anderes übrig, als ihrer Situation mit viel Optimismus und Kampfgeist zu begegnen – und manchmal sogar mit Humor.

Eine alte Journalistenweisheit lautet: »Wer redet, erfährt nichts.« Bei den vermeintlich interessanten Gesprächspartnern fällt Schweigen und Zuhören aber oft schwer. Denn so richtig spannende Ansichten geben sie nicht preis. Vor drei Jahren habe ich die Erfahrung gemacht, dass es sich besonders lohnt, Teenagern zuzuhören. Damals war ich Textchefin bei einem Jugendmagazin. Ich interviewte am laufenden Band junge Menschen. Weil in solch einem Magazin nicht nur die Sonnenseiten des Lebens eine Rolle spielen, traf ich auch Jugendliche, mit denen es das Schicksal nicht besonders gut gemeint hatte. Zum Beispiel ­Alexandra, die wegen einer Chemotherapie kaum mehr Haare auf dem Kopf hatte. Als ich sie zu Hause in Ingolstadt besuchte, sah es so aus, als hätte sie der Leukämie ganz gut die Stirn geboten. Die damals 16-Jährige und ich saßen auf ihrem Bett und quatschten. Ich wollte gar nicht mehr aufhören, mit ihr über Gott und die Welt zu sprechen – so viele Gedanken hatte sie sich gemacht. Über Liebe, Freundschaft, Tod. Und über das Leben. Alexandra wusste genau, was sie mit ihrem anstellen würde, wenn sie wieder ganz gesund wäre. Ich fragte mich, wie man so viel Lebensmut, Zuversicht und Kraft haben kann, wenn man die letzten Monate im Krankenhaus lag und nicht wusste, ob man jemals wieder die Schule besuchen wird.

Alexandra vertraute mir auch ihren größten Traum an: Sie wollte Modedesignerin werden. An diesem sonnigen Tag im Juli 2012 sah es nicht so aus, als würde sich dieser Traum jemals erfüllen. Denn Alexandra war körperlich schwach – und noch wusste keiner, ob ihre Leukämie-Erkrankung wirklich überstanden war. Sie zeigte mir ihre Bleistiftzeichnungen von Frauen in schicken Roben und ihre selbst genähten Kleidungsstücke, die sie für ihre Atelierpuppe geschneidert hatte. Zurück in der Redaktion schrieb ich ihre Geschichte auf. Und wusste, dass Alexandra nicht irgendeine Protagonistin war. Sondern ein Mädchen, von dem ich viel mehr über das Glück lernen konnte als von allen anderen Interviewpartnern, mit denen ich jemals gesprochen hatte. Ich wollte unbedingt wissen, wie es mit ihr weiterging. Also trafen wir uns, schrieben einander. Alexandra erzählte mir von ihren Leidensgenossen, die sie auf der Onkologie oder in der Reha kennengelernt hatte. Was, wenn sie alle auch so viel zu erzählen hätten? Die Idee reifte. Komm, wir machen ein Buch!

Heute, drei Jahre nach unserem ersten Treffen, besucht ­Alexandra die renommierte Modefachschule Sigmaringen. Tatsächlich, sie designt und näht eigene Kreationen. Zum Beispiel coole Turnbeutel aus Kunstleder – auf der Vorderseite prangt ihr eigenes Logo. Auf ihrer Facebook-Seite gibt es ein Foto von Audrey Hepburn, darunter das Zitat: »Ich glaube daran, stark zu bleiben, wenn alles schiefläuft. Ich glaube daran, dass fröhliche Mädchen die hübschesten sind. Ich glaube daran, dass morgen ein neuer Tag ist, und ich glaube an Wunder.«

Alexandra hat mir klargemacht, dass es sich lohnt, an die eigenen Träume zu glauben. Julian erklärte mir, wie man in den schlimmsten Situationen seinen Humor nicht verliert. Kathi zeigte mir, warum es so wichtig ist, seine Ziele zu visualisieren. Dank Celine weiß ich, dass man seinem Körper viel mehr abverlangen kann, als man denkt. Von Daniel habe ich die Erkenntnis, dass es manchmal unwahrscheinlich befreiend sein kann, loszulassen. Und Benjamin brachte mir bei, dass man immer aus jeder Situation das Beste machen muss. Für sie alle habe ich dieses Buch geschrieben. Danke Celine, Julian, Alexandra, Alex, Benjamin, Melanie, Laura, Maxi Sophie, Maximilian, Daniel, Kathi und Anna, dass ihr uns an euren Geschichten und Gedanken teilhaben lasst. Eure klugen, hart erkämpften Erkenntnisse über Liebe, Freundschaft und Familie, über Mut, Kraft und Zuversicht ermöglichen uns allen eine neue Perspektive auf den Wert des Lebens. Mit euren Augen gesehen ist auf einmal jeder Tag ein Geschenk. Ich umarme euch – und das Leben.

»Herzschmerz? Da kann ich nur müde lächeln.«

Celine, 17, Herzfehler, Lungenfehlbildung und Omphalozele Malrotation

Celine wurde mit einem sogenannten Mehrfachfehler geboren. Als sie auf die Welt kam, befand sich ihre Leber auf dem Bauch, das Herz hatte einen komplexen Herzfehler und – was später erst bekannt wurde – die Lunge hat sich nicht vollständig entwickelt. Heute ist die Lunge nur zu einem guten Drittel ausgebildet. Ein Herzfehler kann mit weiteren Fehlentwicklungen des Körpers einhergehen. Noch am Tag ihrer Geburt wurde Celine operiert, die Leber musste in den Bauch eingesetzt werden. Die Bauchhöhle war jedoch zu klein für alle Organe. Also wurde der Darm verlegt. Viele Operationen folgten. Celine bekam mit fünf Jahren drei Herzkatheter in einem Jahr, denn ihre Engstellen vom Herzen zur Lunge mussten geweitet werden. Noch heute braucht sie alle paar Jahre eine neue Herzklappe, weil die alte nicht mehr richtig schließt. Bisher waren es insgesamt 16 OPs, die Celine gut überstanden hat. Trotzdem wird sie ihr Leben lang auf ihr Herz hören und Rücksicht nehmen müssen. Ihr Körper ist nicht so leistungsfähig, weil ihr Herz viel weniger aushält als das eines gesunden Menschen. Deshalb war sie gerade als Kind anfällig für Krankheiten wie Lungenentzündung, Fieber und Infekte. Trotzdem schaffte Celine den Realschulabschluss mit besten Noten und macht heute eine Ausbildung. Sie hat zu ihrem Herzen eine ganz besondere Beziehung.

Donnerwetter, der Eiffelturm! 704 Stufen. Jede einzelne kostet mich Kraft, zehrt an mir. Immer wieder muss ich eine Pause einlegen, nach Luft japsen. Ich weiß: Mein Herz findet meinen Ausflug nicht so toll. Aber ich will hier hoch! Los, weiter geht’s. Das war 2013. Mit etlichen Unterbrechungen und viel zu hohem Puls kam ich schließlich oben an. In diesem Moment war ich unendlich stolz auf mich. Ich sah auf Paris herunter und fühlte mich großartig. Mein Herz hatte gerade Unglaubliches geleistet. Für mich ein Triumph.

Hauptsache, es ist gesund. Ein Satz, den vermutlich alle Eltern etliche Male während der Schwangerschaft sagen. Wahrscheinlich dachte auch meine Mutter immer wieder an mich – ihr ungeborenes Baby im Bauch – und hoffte, schon bald ein kerngesundes Mädchen in den Armen zu halten. Doch alles kam anders. Als ich am 18. Dezember 1997 auf die Welt kam, befand sich meine Leber auf dem Bauch. Mein Herz hatte einen Mehrfachfehler und aufgrund der starken Engstellen in der Arterie zwischen Herz und Lunge konnte meine Lunge sich in den ersten Jahren nicht ausreichend entwickeln. Für meine Eltern muss das ein großer Schock gewesen sein. Wenn man mich heute sieht, würde man nicht darauf kommen, dass ich einen so dramatischen Start hatte.

Mit fünf Jahren bekam ich drei Herzkatheter in einem Jahr, sie sollten meine Engstellen in der Pulmonalarterie zwischen Herz und Lunge beidseitig weiten. Ich war jedes Mal für viele Stunden in Vollnarkose. In dem Alter durfte ich auch zum ersten Mal den Kindergarten besuchen. Doch schon nach kurzer Zeit wurde ich krank und es blieb nicht bei einer Erkältung: Infekte, Fieber, Polypenentfernung, eine Leistenbruch-Operation, zweimaliges Setzen eines Paukenröhrchens. Mir blieb wirklich nichts erspart. Durch meinen Herzfehler ist mein Körper permanent geschwächt, mein Immunsystem kann viel weniger abwehren als das von gesunden Kindern. Deshalb bekam ich sofort einen Infekt, wenn ein Klassenkamerad mit Schnupfen in der Schule saß. Nächtelang schlief ich mit Sauerstoffbrille und musste einen tragbaren Behälter mit Sauerstoff bei mir haben. Erst, als ich neun Jahre alt war, wurde mein Immunsystem stärker, das war nach dem dritten Eingriff am Herzen.

Verantwortlich für die körperlichen Probleme sind mein Herz und die Lunge. Ich habe mehrere Stenosen, was so viel wie Verengungen in der Pulmonalarterie bedeutet. Daher habe ich auch mehrere Stents bekommen, die wie ein Drahtgeflecht die Engstellen weiten. Alle paar Jahre schließt und öffnet meine Herzklappe nicht mehr richtig, ich brauche dann eine neue. Als ich zweieinhalb Monate alt war, wurde ich zum ersten Mal am Herzen operiert. Heute kann ich richtig spüren, wenn es wieder an Kraft verliert. Dann werde ich körperlich schwächer, bin kaum noch belastbar. Und auch meine Familie und Freunde merken mir an, wenn meine Kraft nachlässt. Ich tue mich dann mit allem schwer, muss mich andauernd hinlegen. Die letzten Meter bis zum Bus rennen? Undenkbar! Früher musste ich mich sogar an Ort und Stelle hinlegen. Heute reicht es, wenn ich mich setze.

Man kann mein Herz nicht vollständig heilen, ich werde immer wieder operiert werden müssen, mein Leben lang. Denn die Klappen, die ich bekomme, verschleißen mit der Zeit. Sie verkalken, dann schließen sie nicht mehr richtig. Und irgendwann ist es Zeit für einen Wechsel. Die Frage ist nur, ob man den richtigen Zeitpunkt erwischt. Es gab Situationen, in denen es richtig knapp wurde. Da musste ich mich wohl oder übel mit dem Tod auseinandersetzen. Er ist eigentlich mein ständiger Begleiter. Aber das ist er auch bei jedem gesunden Menschen. Weil unser aller Leben endlich ist. Jeder könnte morgen sterben. Bei mir ist es nur ein bisschen wahrscheinlicher, weil mein Herz unzuverlässig ist. Es fühlt sich so an, als habe man eine tickende Zeitbombe in sich. Das ist manchmal richtig scheiße. Vor allem, wenn ich so richtig viel Lust auf Sport und Bewegung habe. Dann bekomme ich einen dicken Strich durch die Rechnung gemacht. Vielen Dank auch, Herz!

Jedenfalls wurde ich alle drei Monate, jetzt mittlerweile nur noch alle sechs Monate, von einem Kardiologen mit einem Ultraschallgerät untersucht. Man kann sich vorstellen, wie dreckig es mir jedes Mal davor geht. Da ist die Angst, dass es meinem Herzen nicht gut geht, es nicht mehr lange durchhält. Einmal, ich war neun Jahre alt, meinten die Ärzte, wir könnten bis zur nächsten Herzklappen-OP noch gut ein halbes Jahr warten. Doch irgendwie spürte ich, dass ich schneller operiert werden müsste. Mein Zustand verschlechterte sich von Tag zu Tag. Erst kam ich die Treppe nicht mehr hoch, dann konnte ich nicht mal mehr dreißig Meter laufen. Wir fuhren nach Rostock ins Krankenhaus, weil man dort schon geplant hatte, mir bald einen Herzkatheter zu legen. Die Ärzte stellten fest, dass ich sofort am Herzen operiert werden musste. Was auch umgehend geschah. Es folgten eine Herz-OP, eine Lungenentzündung – und ich wurde auf der Intensivstation ins Koma versetzt. Die Stunden danach waren entscheidend. Ob mein Herz es schaffen würde? Keiner wusste es. Aber es war stark genug. Hinterher sagten die Ärzte, ich hätte nur noch wenige Wochen zu leben gehabt. Sie setzten mir vorübergehend einen Herzschrittmacher ein, der automatisch anspringt, wenn das Herz nicht ausreichend arbeitet. Den bekam ich später gezogen. Ein Ende ließ sich nicht herausziehen, das habe ich immer noch in der Brust. Und ich bekam natürlich eine neue Pulmonalklappe, erneut vom Rind. Ich bin das zweite Kind überhaupt in Deutschland, das eine Rinderklappe in Kombination mit der Rindervene eingesetzt bekam. Daher nahm ich viele Jahre an einer Studie teil und wurde engmaschig beobachtet und untersucht.

Es ist tatsächlich ein kleines Wunder, dass ich die Mittlere Reife mit richtig guten Noten geschafft habe und jetzt eine Ausbildung zur Industriekauffrau mache. Das alles habe ich meiner Familie zu verdanken und vor allem meinem starken Willen. Ich lasse mir weder von meiner Krankheit noch von irgendwelchen Zweiflern ans Bein pinkeln. Mein Körper ist oft schwach, ich aber bin es nicht. Hätte ich meinen Willen irgendwann verloren, könnten mich meine Freunde heute wahrscheinlich auf dem Friedhof besuchen. Es ist nämlich nicht bloß die Medizin, die einen Menschen gesund macht. Man muss auch wirklich leben wollen. Gegen ein krankes Herz anzukämpfen, ist das Härteste überhaupt. Schließlich trägt man immer die Angst mit sich he­rum, dass es jetzt gleich aufhört zu schlagen, weil es einfach nicht mehr kann. Vor allem vor Operationen hatte ich oft schlimme Panik. Würde mein Herz die Strapazen überstehen oder einfach aufgeben? Die Bilder, die dann im Kopf entstehen, sind fürchterlich. Man denkt an die eigene Beerdigung und verabschiedet sich innerlich von den Eltern. Doch ich bin jedes Mal wieder aufgewacht, habe immer einen Neustart hingelegt. Mit dieser Ungewissheit umzugehen, war die härteste Lektion meines Lebens. Was ich daraus gemacht habe? Ich genieße den Augenblick, bin dankbar für den nächsten Tag. Ich stecke mir Ziele, bin aber nicht zu enttäuscht, wenn ich sie nicht erreiche.

Manchmal fragen mich Leute, ob ich mit meinem Schicksal hadere. Schließlich kann ich auch heute nicht wie ein normaler Teenager leben. Der Herzfehler wird mich bis zu meinem Lebensende begleiten, ich werde immer wieder neue Herzklappen brauchen. Ja, es gibt Momente, an denen ich das alles furchtbar ungerecht finde. Denn mit so einem Herzfehler auf die Welt zu kommen, ist purer Zufall. Meine Eltern haben keine Vorerkrankung, meine Mutter hat sich während der Schwangerschaft nichts zuschulden kommen lassen. Aber mal ganz im Ernst: Was ist schon ein normales Leben? Manche Menschen sind gesund, reich und schön. Aber sind sie deshalb automatisch glücklich? Jeder hat sein Päckchen zu tragen und muss bestimmte Herausforderungen meistern. Bei mir waren es bis heute insgesamt 16 Operationen. Das klingt für andere Teenager total verrückt, sie hatten höchstens mal eine Blinddarm-OP. Aber es ist tatsächlich so: Man wächst mit seinen Aufgaben. Ich musste schon so oft darum kämpfen, weiterleben zu können, dass mich nichts entmutigt. Klar werde ich niemals auf den Mount Everest klettern. Aber ich weiß, dass ich fast alles schaffe, was ich mir vornehme. Von meiner mentalen Stärke können sich Manager eine Scheibe abschneiden. Hätte ich die nicht, würde ich heute nicht mehr leben. So einfach ist das.

Ich beneide niemanden, der erst gesund aufwächst und plötzlich schwer krank wird. Sich an das Leben im Krankenhaus zu gewöhnen, muss fürchterlich sein. Bei mir war es anders, denn ich kam mit Handicap auf die Welt. Das Krankenhaus war und ist meine zweite Heimat. Die ersten Jahre meines Lebens verbrachte ich komplett auf Kinderstationen, ich kannte nichts anderes und dachte, das sei normal so. Klar schließt man auch Freundschaften mit anderen Kindern. Zu wissen, dass es denen genauso geht, hilft natürlich. Aber es gibt auch Kinder, die es nicht schaffen. Als ich neun Jahre alt war, lernte ich am Maltisch einen Jungen kennen, der wie ich einen Herzfehler hatte. Kurze Zeit später starb er nach einer Herz-OP an Nierenversagen. Erst lag er drei Wochen im Koma, dann schlief er ein. Uns trennte nur eine Glasscheibe, wir waren ja beide auf der Intensivstation. Viele denken, mit neun bekommt man nichts mit. Ich wusste aber damals schon, dass auch ich an seiner Stelle hätte sein können. Ich habe kein Trauma davongetragen. Aber ein starkes Bewusstsein für das Hier und Jetzt.

Bei einer Herz-OP musste ich immer mit etwa drei Wochen Krankenhaus, unzähligen starken Medikamenten, Infusionen, Sonden und Drainagen rechnen. Das ist natürlich viel Zeit, die man im Bett verbringt und über sich nachdenken kann. Nach einer OP am Herzen ist oft Reha angesagt. Mein Körper muss sich an die neue Klappe gewöhnen und sich erholen. Klar nervt mich schon der Geruch des Desinfektionsmittels, wenn ich nur eine Klinik betrete. Aber was hilft es denn? Es gab Phasen, in denen ich schlimme Aggressionen hatte. Ich fand mein Leben fürchterlich ungerecht. Und vor allem fand ich alle Ärzte schlimm. Ich hatte irgendwann Schwierigkeiten, ihnen zu vertrauen. Nach all den Notsituationen ist das vielleicht auch kein Wunder. Besonders, wenn ich lange im Krankenhaus lag, dachte ich darüber nach, wie oft ich den ganzen Mist noch über mich ergehen lassen muss – und wie viele Schmerzen ich dabei auszuhalten habe. Mein größtes Problem ist, dass ich eine abenteuerlustige Seele bin, die in einem kranken Körper wohnt. Ich würde am liebsten ganz viele Sportarten ausprobieren, die Welt sehen. Abwechslung finde ich großartig. Aber mein Herz findet Anstrengung kacke. Es will in Ruhe pumpen können und Hilfe bekommen, wenn die Herzklappe nicht mehr so recht will. Deshalb befinde ich mich in einem ewigen Kampf: Seele gegen Körper.

Ich lasse mir aber nicht alles verbieten. Seit drei Jahren tanze ich Ballett. Ich bin meiner Mutter fünf Jahre damit auf den Geist gegangen. Ich verstehe, dass sie Angst um mich hat. Natürlich kann ich nicht die wirklich schwierigen Übungen machen. Wenn sich der Bauch zu sehr dehnen muss, bin ich raus. Und Sprünge sind für mich auch kein Kinderspiel. Aber mit Spitzenschuhen durch das Studio tänzeln? Das liebe ich! Man muss sich klarmachen, dass ich bis vor Kurzem nicht mal Bauchmuskeln hatte. Deshalb darf ich mich keinesfalls mit den gesunden Mädchen im Kurs vergleichen. Es ist jedes Mal ein Wunder, wenn ich die Spitzenschuhe und meine Ballettkleidung anziehe. Mein Lebenstraum wäre es, Kunstturnerin zu sein. Das ist so elegant, voller Anmut und Körperbeherrschung. Einen Tag in der Leistungssporthalle verbringen, das wäre der Knaller.

Frauen und Schönheit, das ist für mich so ein Thema. Manche meiner Freundinnen regen sich auf, wenn sie nach einer Verletzung eine Mininarbe davontragen. Ich habe nicht mal einen Bauchnabel, wurde von oben bis unten immer wieder aufgeschnitten. Mein Oberkörper ist mit Narben übersät. Mein Brustbein wurde dreimal aufgesägt. Manchmal denke ich, dass sich meine Freunde nicht so anstellen sollen. Aber dann sage ich mir: Celine, du kannst dich nicht mit einer Gesunden vergleichen. Wenn sich jemand ein Bein bricht, ist das für denjenigen eine Katastrophe. Für mich wären es nur drei Monate, in denen ich noch weniger mobil bin. Jeder hat eine andere Perspektive auf das Leben, auf Gesundheit und Krankheit, auf Schönheit und Attraktivität. Ich darf mit anderen nicht zu hart ins Gericht gehen. Aber hin und wieder macht es mich schon traurig zu sehen, wie wenige Leute in meinem Alter ihren kerngesunden Körper wertschätzen. Wie wenig sie das Leben feiern. Aber wahrscheinlich ist es tatsächlich so: Man kann vieles erst als etwas ­Außergewöhnliches betrachten, wenn es nicht mehr selbstverständlich ist.

Ich weiß, dass die Eltern von kranken Kindern am meisten leiden. Sie sehen, wie ihr Liebling Schmerzen aushalten muss, und beten um sein Leben. Meine Mutter ist für mich die stärkste Frau der Welt. Als klar war, dass ich nie richtig gesund sein werde, hat sie ihren Job für immer aufgegeben. Sie war an jedem verdammten Tag mit mir im Krankenhaus, hielt meine Hand, machte alles möglich. Mein jüngerer Bruder zog in kritischen Zeiten zu meiner Tante, denn mein Vater arbeitet tagsüber. In den ersten Lebensjahren habe ich deshalb nur sehr wenig von meinem Bruder mitbekommen, ich lag ja lange Zeit auf der Intensivstation und war oft intubiert. Es wäre zu gefährlich gewesen, einen kleinen wilden Jungen zu mir zu lassen.

Ich nehme oft an Jugendcamps der Deutschen Herzstiftung teil. So habe ich Reiten und Skifahren gelernt. Und Klettern waren wir auch schon. Natürlich können wir solche Sportarten nur langsam machen. Immer schön auf das Herz hören. Dort sind Leute wie ich, die es auch immer schwer hatten, Freunde zu finden. Kinder wollen miteinander Rad fahren oder Barbie spielen und sich nicht gegenseitig auf der Intensivstation besuchen. Außerdem darf man mit einem sehr schlechten Immunsystem kaum Besuch empfangen. Jedenfalls waren wir letzten Sommer zusammen beim Segeln. Zwanzig Jugendliche, die von Eckernförde aus nach Dänemark gesegelt sind. Jeder mit seinem eigenen Herzproblem. Es gab einen Abend, da saßen wir an Deck, der Wind blies uns um die Ohren, wir sahen die Sonne untergehen. Und wir sprachen offen über unser Leben. Und auch über den Tod. Wir sind richtige Profis, kennen die genialsten Herzchirurgen Deutschlands und wissen, wo man am besten zur Reha hingeht. Auf dem Segelschiff spürte ich, dass mein Leben auf eine merkwürdige Art und Weise etwas Besonderes ist. Viele spüren ihr Herz zum allerersten Mal, wenn sie Liebeskummer haben. Ich bin ihm für jeden einzelnen Schlag dankbar.

Bei einer Reiterwoche, die vom Bundesverband Herzkranke Kinder e.V. organisiert worden war, lernte ich Patrick kennen. Er war dort als Betreuer, das war vor zweieinhalb Jahren. Gleich am Anfang sprach das komplette Mädchenzimmer von ihm – ich natür­lich auch. Als ich einen Gartenstuhl zusammenschrauben sollte, versagte ich auf der ganzen Linie – handwerklich bin ich nicht gerade begabt. Patrick half mir, ganz der Gentleman. Da wurde ich natürlich noch nervöser. Nach der Ferienwoche hielten wir Kontakt, was ich total schön fand. Ich hätte nämlich nicht gedacht, dass sich Patrick für mich interessiert. Wir schrieben uns Kurznach­richten, chatteten, telefonierten. Und das wöchentlich. Ich spürte, dass Patrick mich versteht. Er selbst kam auch mit einem Herzfehler auf die Welt. Zwei Arterien waren bei ihm vertauscht, das Herz pumpte sozusagen rückwärts: Das schlechte Blut lief ins gute hinein. Mit acht Wochen wurde er zum ersten Mal operiert. Die Ärzte prognostizierten ihm eine Lebenserwartung von zwei Jahren. Er ist jetzt 25 Jahre alt. Heute nimmt er am Tag 11 Medikamente für sein Herz und gegen den Lungenhochdruck, den er wegen seiner Herzprobleme hat. Ohne sie wäre er nicht lebensfähig. Für Patrick ist jeder Morgen genauso wenig selbstverständlich wie für mich. Wir finden beide, dass man im Leben nicht viel mehr Glück haben kann, als jeman­den zu treffen, der einen versteht. Patrick gibt auch Workshops für herzkranke Kinder. Weil er weiß, wie wichtig es ist, zu wiss­en, dass andere dasselbe durchmachen. Dieselben Ängste haben.

Im letzten halben Jahr wurde es intensiver zwischen uns beid­en, wir schrieben und sprachen noch häufiger, trafen uns auch. Seit drei Monaten sind wir zusammen. Es fühlt sich wundervoll an, mit ihm das Leben zu teilen. Und die 250 Kilometer zwischen uns können uns nichts anhaben. Wir feiern jeden Moment, den wir miteinander haben. Bevor wir ein Paar wurden, hatte ich immer die Befürchtung, vielleicht niemals jemanden zu treffen, der mich so liebt, wie ich bin. Mit meinem kaputten Körper, den ganzen Narben und vielen Einschränkungen. Bei Patrick fühle ich mich gesehen, geliebt und verstanden. Er träumt wie ich von einer Familie, später mal.

Mein größter Wunsch? Einen Tag lang komplett gesund sein, frei von Ängsten und Verboten leben können. Das wäre das Größte. Und dann alles machen, was ich verpasst habe. Zum Beispiel Achterbahn fahren. Ansonsten habe ich Träume wie jede andere junge Frau auch: mit zwanzig in einer eigenen Wohnung leben, einen Freund haben (den habe ich ja jetzt!). Und ich würde gern durch New York laufen und Sport treiben. Was für andere normal ist, reizt mich besonders. Dabei darf ich wegen des Drucks in der Kabine eigentlich keine Langstrecke fliegen, das schadet meiner Herzkammer. Manchmal macht mich das trotzig, dann will ich es unbedingt, aus Prinzip! Aber mein Körper zeigt mir recht schnell meine Grenzen auf. Oder mein Kardiologe. Es gibt ein paar Dinge, auf die ich schlichtweg verzichten muss. Das macht mich aber nicht bitter. Ich lebe und erlebe gerade meine erste große Liebe. Ein größeres Glück gibt es eigentlich nicht.