Die Läufer trainieren täglich zehn Stunden …

Erich Kästner liebte den Sport, vor allem schweißtreibenden Ausdauersport, und das nicht nur als Zuschauer. In seiner Kinderzeit war er ein begeisterter Turner, mit dem Reck als Lieblingsgerät, und später ein leidenschaftlicher und auch recht guter Tennisspieler, zwar nicht wimbledonreif, aber immerhin. Langstreckenläufer wie Nurmi, Kolehmainen und Zatopek galten ihm als große sportliche Vorbilder. All das wird der Leser in dieser Sammlung wiederfinden.

Aber Kästner wusste auch, wie sehr man Turn-Unwillige mit Übungen am Reck piesacken kann (Und jetzt die Bauchwelle!) und dass auch gute Tennisspieler manchmal spielen »wie ein Weihnachtsmann« (Doppelfehler).

Er hatte auch Spaß an eher abwegigen sportlichen Hochleistungen wie Langstrecken-Trittrollerfahren (Sensationen nach rückwärts), Trockenschwimmen (Arno schwimmt Weltrekord), Dauertanzen oder auch Freiübungen verkehrt herum (Wunder der Natur?). Veranstaltungen wie das berühmte Sechstagerennen nahm er gern auf die Schippe, weil er meinte, diese Sorte Ausdauersport könne nur zu geistiger Verblödung führen.

Am überraschendsten ist vielleicht Kästners große Affinität zum Boxen, Ringen und Catchen – Sportarten, die er nun allerdings nicht selber ausübte (Boxer unter sich, Man geht wieder zu Ringkämpfen, Catch as catch can). Diese wahrlich schweißtreibenden Wettkämpfe besuchte er mit dem größten Vergnügen, aber wohl auch mit dem Hintergedanken: »Vielleicht kann man’s einmal für eine Geschichte brauchen.« So wie er das Eishockeyspiel, das er sich bei den Deutschen Wintersportmeisterschaften 1935 in Garmisch-Partenkirchen angesehen hatte, »brauchte«, um die Stippvisite zweier Hauptpersonen aus Das fliegende Klassenzimmer, Matz und Uli, bei der dortigen Winterolympiade 1936 zu schildern (England gegen Kanada).

Kästners Interesse für Sport war bekannt, und offenbar wurde ihm auch eine gewisse Kennerschaft zugeschrieben. Noch 1967, als seine Kräfte schon nachließen, wurde er in den Kunstausschuss für die Olympischen Spiele 1972 berufen. 1952, anlässlich der Olympiaden in Helsinki und Oslo, verfasste er einen Beitrag für das offizielle Standardwerk des Nationalen Olympischen Komitees, Rekord und Leistung. Darin berief er sich auf die Ahnungslosigkeit und Unvoreingenommenheit des Laien, um aufzuzeigen, was ihn am Sport so faszinierte: alle diejenigen Wettkämpfe, die den Sportlern Ausdauer und Durchhaltewillen abverlangen, so wie man es als Zuschauer bei großen Langstreckenläufen immer wieder erlebt.

Aber geht es nicht fast allen von uns so, dass ein Marathonlauf, ein stundenlanges Tennisturnier oder ein Fußballspiel uns stärker in den Bann ziehen als ein nach wenigen Sekunden beendeter Hundertmeterwettlauf?

 

München, Winter 2016Sylvia List

Sechstagerennen

Ich gehöre zu den ausgesprochen kontemplativen Naturen.

Wenn ich z.B. Mittag esse, lese ich in den Sportnachrichten … Kann es etwas Ergreifenderes geben, als zwischen Bratwurst und Sauerkraut zu erfahren, dass Dempsey bis »Neun!« liegen blieb, dann aber katzenhaft hochsprang und seinen Gegner Firpo, trotz dessen prächtiger Härte im Nehmen, schließlich doch durch einen linken Haken zwischen die Seile schickte und ihn dort ohne wesentliche Brüche und ohne Bewusstsein zurückließ?

Aber eines geht mir über alles! Das Sechstagerennen. – Ich habe noch nie eines gesehen … Doch das ist der Phantasie nur zuträglich. Das heißt: In Georg Kaisers Von morgens bis mitternachts kommt, im vorletzten Akt, ein Sechstagerennen vor. Das kenne ich. Aber das Schauspiel dauert, Gott sei Dank, nicht annähernd so lange …

Jedoch in der Wirklichkeit, also in Berlin, fahren diese Menschen wahrhaftig sechs Tage Rad! Man muss sich das einmal richtig klargemacht haben! Tag und Nacht! Sechsmal! Gewiss, sie lösen einander ab. Aber das tut auch nötig! – Sechs Tage. Sechs Nächte. Unentwegt … Manchmal meine ich, davon müsste man unbedingt Gehirnschäden erleiden. Und dann wieder sage ich mir: Wer so etwas mitmacht, der müsste bereits beim Unterschreiben des Kontrakts … Anderseits: Die widernatürlichsten Leistungen nötigen bekanntlich die größte Hochachtung ab.

Eine ganze Woche fahren diese merkwürdigen Leute Rad … Ich habe in dieser Zeit 30 Mark verdient. Und 40 davon ausgegeben. Habe eine Premiere gesehen. War zweimal leicht angesäuselt. Und einmal weniger leicht. Die Katze meiner Wirtin hat Kinder gekriegt. Mein Freund Geburtstag gehabt! Und diese merkwürdigen Leute fahren noch immer Rad …

Ich habe mir inzwischen meine braunen Halbschuhe besohlen lassen. Habe drei frische Kragen umgebunden. Sechs Pfund Brot gegessen. Mir zwölfmal die Zähne geputzt! Und diese merkwürdigen Leute fahren noch immer Rad …

Dann hab ich viermal zu Mittag gegessen. (Nachher war das Geld endgültig vorbei.) Und jedes Mal hab ich die letzten Berliner Meldungen gelesen: … Vorstoß von Bauer-Krupkat … Die Amerikaner rücken nachts 2 Uhr plötzlich unhaltbar auf … Tietz hat 25 Flaschen Kognak gewonnen … Stellbrink zwei Fahrräder … Saldow-Lorenz führen noch immer …

Ich finde das wirklich unerhört anregend. Aber am herrlichsten wäre es doch, wenn ich nach dem sechsten Tage die Herren Rennfahrer ansehen dürfte … Das wäre mein sehnlichster Wunsch!

Den einen würde ich fragen, wie viel sieben mit dreizehn multipliziert ergibt. Und einen anderen: Ob er seinen Vornamen noch auswendig wüsste. Und den Sieger: Ob er mir nicht von seinem Gewinn tausend Mark leihen wollte.

Ich glaube, sie würden alle verkehrte Antworten geben.

Sogar der Sieger.

Im Turnverein Neu- und Antonstadt

Ein Jahr bevor ich zur Schule kam, wurde ich, mit knapp sechs Jahren, das jüngste Mitglied des Turnvereins »zu Neu- und Antonstadt«. Ich hatte meiner Mutter keine Ruhe gelassen. Sie war strikt dagegen gewesen. Ich sei noch zu klein. Ich hatte sie gequält, bestürmt, belästigt und umgaukelt. »Du musst warten, bis du sieben Jahre alt bist«, hatte sie immer wieder geantwortet.

Und eines Tages standen wir, in der kleineren der zwei Turnhallen, vor Herrn Zacharias. Die Knabenriege machte gerade Freiübungen. Er fragte: »Wie alt ist denn der Junge?« »Sechs«, gab sie zur Antwort. Er sagte: »Du musst warten, bis du sieben Jahre alt bist.« Da nahm ich die Hände, ordnungsgemäß zu Fäusten geballt, vor die Brust, sprang in die Grätsche und turnte ihm ein gymnastisches Solo vor! Er lachte. Die Knabenriege lachte. Die Halle hallte vor fröhlichem Gelächter. Und Herr Zacharias sagte zu meiner verdatterten Mama: »Also gut, kaufen Sie ihm ein Paar Turnschuhe! Am Mittwoch um drei ist die erste Stunde!« Ich war selig. Wir gingen ins nächste Schuhgeschäft. Abends wollte ich mit den Turnschuhen ins Bett. Am Mittwoch war ich eine Stunde zu früh in der Halle. […]

Ich war ein begeisterter Turner, und ich wurde ein ziemlich guter Turner. Mit eisernen Hanteln, mit hölzernen Keulen, an Kletterstangen, an den Ringen, am Barren, am Reck, am Pferd, am Kasten und schließlich am Hochreck. Das Hochreck wurde mein Lieblingsgerät. Später, viel später. Ich genoss die Schwünge, Kippen, Stemmen, Hocken, Grätschen, Kniewellen, Flanken und, aus dem schwungvollen Kniehang, das Fliegen durch die Luft mit der in Kniebeuge und Stand abschließenden Landung auf der Kokosmatte. Es ist herrlich, wenn der Körper, im rhythmischen Schwung, leichter und leichter wird, bis er fast nichts mehr zu wiegen scheint und, nur von den Händen schmiegsam festgehalten, in eleganten und phantasievollen Kurven eine biegsam feste Eisenstange umtanzt!

Ich wurde ein ziemlich guter Turner. Ich glänzte beim Schauturnen. Ich wurde Vorturner. Aber ein sehr guter Turner wurde ich nicht. Denn ich hatte Angst vor der Riesenwelle! Ich wusste auch, warum. Ich war einmal dabei gewesen, als ein anderer während einer Riesenwelle, in vollem Schwung, den Halt verlor und kopfüber vom Hochreck stürzte. Die Kameraden, die zur Hilfestellung bereitstanden, konnten ihn nicht auffangen. Er wurde ins Krankenhaus gebracht. Und die Riesenwelle und ich gingen einander zeitlebens aus dem Wege. Das war eigentlich eine rechte Blamage, und wer blamiert sich schon gern? Doch es half nichts. Ich bekam die Angst vor der Riesenwelle nicht aus den Kleidern. Und so war mir die Blamage immer noch ein bisschen lieber als ein Schädelbruch. Hatte ich recht? Ich hatte recht. […]

Ich turnte, weil meine Muskeln, meine Füße und Hände, meine Arme und Beine und der Brustkorb spielen und sich bilden wollten. Der Körper wollte sich bilden wie der Verstand. Beide verlangten, gleichzeitig und gemeinsam, ungeduldig danach, geschmeidig zu wachsen und, wie gesunde Zwillinge, gleich groß und kräftig zu werden. Mir taten alle Kinder leid, die gern lernten und ungern turnten. Ich bedauerte alle Kinder, die gern turnten und nicht gern lernten. Es gab sogar welche, die weder lernen noch turnen wollten! Sie bedauerte ich am meisten.

Arno schwimmt Weltrekord

Das Trockenschwimmen ist ein toller Sport!

Ganz ohne Pferd kann keiner reiten.

Ganz ohne Grund kann keiner streiten.

 

Doch ohne Wasser schwimmt der Mensch sofort.

Wenn sich Großhennigs Arno mit dem Magen

auf einen Stuhl (als ob er schwömme) legt

und Gustav mit dem Teppich Wellen schlägt,

ist Arno nicht zu schlagen!

 

Die andern wetten hoch und geben Acht.

Sie hoffen, dass dies Arno kräftigt.

Er ist von Kopf bis Fuß beschäftigt

und bricht Rekorde, dass es kracht.

 

Zum Schluss durchquert er rasch noch den Kanal

und unterbietet gar den Weltrekord!

Das Trockenschwimmen ist ein toller Sport.

Versucht es mal!

Kletterpartie im Elbsandsteingebirge

Herr Lehmann war ein tüchtiger Mann, ein fleißiger Mann, ein gescheiter Mann, der aus uns tüchtige, fleißige und gescheite Schüler machen wollte. Sein Ziel war vortrefflich. Der Weg dahin war abscheulich. Der tüchtige, fleißige und gescheite Mann war kein guter, sondern er war überhaupt kein Lehrer. Denn ihm fehlte die wichtigste Tugend des Erziehers, die Geduld. Ich meine nicht jene Geduld, die an Gleichgültigkeit grenzt und zum Schlendrian führt, sondern die andere, die wahre Geduld, die sich aus Verständnis, Humor und Beharrlichkeit zusammensetzt. Er war kein Lehrer, sondern ein Dompteur mit Pistole und Peitsche. Er machte das Klassenzimmer zum Raubtierkäfig.

Wenn er nicht im Käfige stand, nicht vor dreißig jungen und faulen, verschlagnen und aufsässigen Raubtieren, war er ein anderer Mensch. Dann kam der eigentliche Herr Lehmann zum Vorschein, und eines Tages lernte ich ihn kennen. […]

Während einer Frühstückspause trat er im Schulhof zu mir und fragte obenhin: »Willst du am Sonntag mit mir in die Sächsische Schweiz fahren?« Ich war verdutzt. »Am Abend sind wir wieder zurück«, meinte er. »Grüß deine Eltern und frag sie um Erlaubnis! Wir treffen uns Punkt acht Uhr in der Kuppelhalle des Hauptbahnhofs.« »Gern«, sagte ich verlegen. »Und bring deine Turnschuhe mit!« »Die Turnschuhe?« »Wir werden ein bisschen klettern.« »Klettern?« »Ja, in den Schrammsteinen. Es ist nicht gefährlich.« Er nickte mir zu, biss in sein Frühstücksbrot und ging davon. Die Kinder wichen vor ihm zurück, als sei er ein Eisbrecher. »Was wollte er denn?«, fragte mein Freund Ludewig. Und als ich es ihm erzählt hatte, schüttelte er den Kopf. Dann sagte er: »Das kann ja gut werden! In deinem Rucksack die Turnschuhe und in seinem der Rohrstock!«

 

Seid ihr schon einmal an einem mehr oder weniger senkrechten Sandsteinfelsen hochgeklettert? Wie eine Fliege an der Tapete? Dicht an die Wand gepresst? Mit den Fingern und Fußspitzen in schmalen Fugen und Rillen? Nach den nächsten schmalen Simsen und Vorsprüngen über euch tastend? Sobald die linke Hand einen neuen Halt gefunden hat, den linken Fuß nachziehend, bis auch die Zehen neuen Widerstand spüren? Dann, nach der Linksverlagerung des Körpergewichts, das Manöver mit der rechten Hand und dem rechten Fuß wiederholend? Viertelmeter für Viertelmeter, immer höher hinauf, zehn oder fünfzehn Meter empor, bis endlich ein Felsvorsprung Platz und Zeit zum Verschnaufen bietet? Und dann, mit der gleichen Ruhe und Vorsicht, die nächste senkrechte Felswand hoch? Ihr habt so etwas noch nicht versucht? Ich warne Neugierige.

Droben auf dem Gipfelchen, wo sich eine kleine krumme Kiefer festgekrallt hatte, ruhten wir uns aus. Das Elbtal schimmerte in sonnigem Dunst. Geisterhaft bizarre Felsen, Zyklopen mit Riesenköpfen, standen wie Wächter vorm Horizont. Es roch nach Hitze. Irgendwo im Tal lagen unsere Stiefel, Jacken und Rucksäcke. Dorthin mussten wir zurück, und ich tat mir aufrichtig leid.

Lehrer Lehmann war zwar, was ich vorher nicht gewusst hatte, ein Meister der Kletterkunst und kannte die Felsen ringsum in- und auswendig und wie seine Westentasche. Außerdem hatte er mich durch taktische Zurufe gelenkt und ein paarmal angeseilt. Doch bis auf eine gemütliche Kaminstrecke hatte ich seiner Fassadenkletterei in Gottes freier Natur nichts abgewinnen können. Meine Angst hatte mir nicht den geringsten Spaß gemacht. Und auch der Gipfelblick bereitete mir, so reizvoll er sein mochte, keine ungetrübte Freude. Denn ich dachte insgeheim an den Rückweg und befürchtete, dass er noch schwieriger sein werde als der Aufstieg. Ich hatte recht.

Stubenfliegen sind, mindestens an senkrechten Wänden, besser dran als wir, insbesondere beim Abstieg. Sie klettern mit dem Kopfe voran zu Tale. Das kann der Mensch nicht. Er behält an senkrechten Wänden auch beim Hinunterklettern den Kopf oben. Seine gesamte Aufmerksamkeit verlagert sich in die Füße, die, blind und zentimeterweise, nach unten tasten und den nächsten Halt suchen. Wenn dann dieser nächste schmale Sims aus porösem und verwittertem Sandstein unter dem Schuh wegbröckelt und der Fuß in der Luft hängt, bleibt, glücklicherweise nur für kurze Zeit, das Herz stehen. In solchen Momenten liegt die Gefahr nahe, dass man den Kopf senkt, weil die Augen den Zehen beim Suchen helfen wollen. Diese Gefahr ist nicht zu empfehlen.

Ich erinnere mich noch heute, wie mir zumute wurde, als ich die Wand hinunterblickte. Tief und senkrecht unter mir sah ich, klein wie Puppenspielzeug, unsre Jacken und Rucksäcke an einem zwirndünnen Wege liegen, und ich presste vor Schreck die Augen zu. Mir wurde schwindlig. Es brauste in den Ohren. Mein Herz stand still. Endlich besann es sich auf sein altes Geschäft. Es begann wieder zu schlagen. Dass ich schließlich drunten, neben unseren Rucksäcken, lebend eintraf, ist unter anderem daraus ersichtlich, dass ich jetzt, im Jahre 1957, davon berichte. Zu behaupten, mein Leben habe damals an einem Faden gehangen, träfe nicht ganz zu. Denn es war kein Faden da.