Über dieses Buch

An der Hand seines sechsjährigen Bruders fühlt sich der vierjährige Pauli sicher. Die Familie ist arm, die beiden schlagen sich wie zwei Stadtfüchse auf Nahrungssuche durchs Kleinbasel. Doch dann bricht die achtköpfige ­Familie auseinander, und das Verhängnis nimmt seinen Lauf, die jüngeren ­Kinder werden «versorgt». Für Paul heisst das: ­Pflegefamilien, Kinderheim, Kinderknecht auf einem Bauernhof, schliesslich gar Jugendknast, auch wenn bis heute niemand weiss, warum.

Aus Paul Richener ist trotz allem doch etwas ­geworden, zuerst Polizist, und heute ist er Gemeindepräsident exakt jenes kleinen Baselbieter Dorfes, in dem er verdingt war. Er hat lange geschwiegen. Erst als der Umgang der Fürsorgebehörden mit be­vormundeten Kindern in den Medien und danach in der Politik zum Thema wird, steht auch Paul ­Richener auf: Das muss jetzt endlich einmal gesagt werden!

Dorothee Degen-Zimmermann hat ihm zugehört, die Akten studiert und gibt jetzt dem Verdingkind die Stimme, die es nie hatte.

Dorothee Degen-Zimmermann

Aus dir wird nie etwas!

Paul Richener – vom Verdingbub zum Gemeinde­­­prä­­si­denten

Limmat Verlag

Zürich

Namen mit einem Stern* wurden geändert.

Prolog

«Der Rhein. Ich mag den Geruch des Wassers nicht.»

Paul Richener vergräbt die Hände in den Hosentaschen. Ein trüber Oktobertag, wir stehen am Flussufer unterhalb der Autobahnbrücke und schauen auf das träge fliessende Wasser.

Der Geruch ist süsslich und etwas faulig, kaum wahrnehmbar. Bei tiefem Wasserstand vertrocknen die Algen an der Luft. In den 1960er-Jahren war er intensiv, zuweilen stank es. Damals erreichte die Gewässerverschmutzung ihren Höhepunkt, der Rhein nahm die ungeklärten Abwässer des gesamten Mittellandes auf.

Drüben im unteren Kleinbasel hat Paul seine ersten Lebensjahre verbracht, im Basler Arbeiterquartier und Armenhaus mit hohem Ausländeranteil. Das war seine Welt – nicht gerade «in Ordnung», aber vertraut und offen. Mit der Freiheit war es vorbei, als er im Grossbasel lebte, einige Hundert Meter flussabwärts von unserem Standort aus.

«Ich habe die Gegend hier lange gemieden. Wegen des Geruchs.»

Paul Richener, der Polizist, dessen Einsatzgebiet die ganze Stadt war, macht einen Bogen um das Rheinufer, das nach Kinderelend riecht, nach Verlassenheit, nach Zwängen und Hoffnungslosigkeit.

Heute werden kaum noch ungeklärte Abwässer in die Flüsse geleitet, und man kann beim Schwimmen im Rhein wieder die Steine auf dem Grund des Flusses sehen. Aber auch der Restgeruch erinnert Paul an Zwangsmassnahmen und Beamtenwillkür, an seine geraubte Kindheit. Das lässt sich nicht so einfach beseitigen.

‹Strassenkind› im Kleinbasel

Ich erinnere mich nicht, dass irgendjemand nach uns ­geschaut oder uns gesucht hat. Wir waren immer unterwegs. Wir hätten niemanden gebraucht, wir wären sogar nachts durchgekommen. Wir hatten keine Angst. Wir haben uns verpflegt, wir hatten unsere Kontakte.

An guten Tagen ist die Mamma schon wach, wenn der Milchwagen durch die Amerbachstrasse rumpelt. Brrr, der Milchmann hält das Pferd an und läutet die Glocke. Päuli zupft die Mutter am Nachthemd, bis sie ihm den Milchhafen mit dem abgeschlagenen Haken und ein paar Rappen in die Hand drückt. Damit saust der Vierjährige barfuss die zwei Stockwerke hinunter auf die Strasse und stellt sich hinter den Hausfrauen an. Der Milchmann pumpt die Milch aus der grossen Kanne in den Glas­be­hälter und giesst sie von diesem in die mitgebrachten Gefässe. Vorsichtig trägt Päuli den schweren Krug zurück ins Haus, nimmt schon mal einen Schluck, damit nichts überschwappt, bleibt auf der Treppe ein paarmal stehen, um zu trinken, und als er oben ankommt und den Krug auf den Küchentisch stellt, ist der Milchpegel deutlich gesunken.

Milch wurde in der Schweiz bis 1960 fast ausschliesslich offen verkauft. ­Milchwagen Banga vor Münsterplatz 8, 1944.

Päuli ist der Jüngste der Familie. Theo, zwei Jahre älter, geht schon in den Kindergarten – wenn er denn geht. Wenn die Mamma da ist und sagt, Theo, es ist Zeit. Und Päuli folgt dem grossen Bruder die Treppe hinunter und setzt sich auf die steinerne Stufe in der Nische vor dem Hauseingang, da, wo ihn die Mutter nicht sehen kann, und beobachtet das Treiben auf der Strasse. Im «Amerbach», der Wirtschaft, die sich im Erdgeschoss des Wohnhauses befindet, sind noch alle Läden geschlossen.

Derweil läuft Theo in den Kindergarten am Bläsi­ring, zeigt sich kurz bei Fräulein Blumenkohl – sie heisst tatsächlich so – und dann hopp zurück zu Päuli, der auf ihn wartet.

Und los geht’s, barfuss und in kurzen Hosen. Wie Füchse streifen sie durchs Kleinbasel, immer neugierig, immer auf Nahrungssuche. Sie wissen genau, wo es etwas zu holen gibt. Stellen sich erst mal vor den Ligaladen an der Hammerstrasse und schauen, was die Hausfrauen aus dem Laden tragen und was man vielleicht erbetteln könnte. «Hesch mer e Räppli?» Ein Rappen ist so wenig und die Bitte so treuherzig, dass sie oft Erfolg hat.

Vor dem Zigarrenladen an der Ecke beraten sie, was sie mit ihrer Beute anfangen wollen. Bei der alten Tabakfrau gibt es die bunten Kaugummikugeln im grossen Glas. Es riecht seltsam süsslich, Päuli kennt das, der Vater schickt ihn manchmal Zigaretten kaufen, Parisienne in der gelben Packung oder, wenn das Geld nicht reicht, stückwei­se. Aber heute werden sie es bei der lieben Frau Dällenbach in der Bäckerei probieren.

Immer auf Nahrungssuche

Dann laufen sie zurück in den Kindergarten, Zeit für die warme Pausenmilch. Aber da heisst es höllisch aufpassen. Fräulein Blumenkohl will Theo zähmen, und es ist schon vorgekommen, dass sie ihn im Keller eingesperrt hat, damit er nicht weglaufen konnte. Der Kater Moro sei mit ihm im Keller gewesen, erzählte Theo später, und Päuli versteht, dass sogar der Kater dem Fräulein gehorchen muss. Aber bei Theo hat es wenig Erfolg.

«Scheeni Epfel, Härdepfel, Gmies! Chömet, Madamle!» Die Elsässer Gemüsefrau hört man schon von weitem. Sie schiebt ihren grossrädrigen Handwagen durch die Strassen Kleinbasels, macht da und dort Station und wartet auf die Frauen, die mit ihren Einkaufsnetzen aus den Häusern kommen, das Angebot begutachten und überlegen, was sie zu Mittag kochen wollen. Die Kinder stellen sich daneben und blicken erwartungsvoll zur Gemüsefrau auf. Sie wissen, dass sie ein weiches Herz hat, und hoffen nie vergeblich auf ein Rüebli oder Radiesli, das sie im Weitergehen verzehren.

Theo(4) und Päuli (2), zirka 1951. Als Päulis Haare geschnitten wurden, bewahrte die Mutter eine Locke auf, Paul besitzt sie heute noch.

Um die Mittagszeit laufen die Buben ein gutes Stück aus der Stadt hinaus, zur Exerziermatte bei den Langen Erlen. Schon von Weitem hört man die Kommandos. Verstehen kann man nichts, aber die Soldaten scheinen zu wissen, was sie zu tun haben, sie rennen, werfen sich auf den Boden, springen hoch, rennen weiter. Päuli und Theo setzen sich ins Gras und schauen zu. Die Sonne steht schon hoch am Himmel, und der Magen knurrt vernehmlich. Ein Armeelastwagen fährt vor, und die Küchenmannschaft hebt die schweren Kochkisten herun­ter. Essensduft liegt in der Luft. Im Nu sind Theo und Päuli zur Stelle und reihen sich in die Warteschlange ein. Die Soldaten kennen die Knirpse. Sie setzen ihnen lachend den Helm oder das Käppi auf und salutieren. Die Kleinen lassen sich eine Gamelle mit Suppe und Spatz füllen, klettern auf die Bank an einem der langen Holztische, löffeln ihre Suppe und sonnen sich an den Spässen der jungen Männer. Es hat immer genug für alle.

Am Nachmittag ist Herr Zazzi, der Bananenmann, mit seinem Wagen in Kleinbasel unterwegs. Meistens folgen ihm ein paar Kinder, denn er überlässt ihnen die überreifen Bananen. Während er für die Kundschaft Ban­anen abwägt, zupft Theo unauffällig an den gestapelten Früch­ten und sorgt dafür, dass etwa mal eine zu Boden fällt, wenn Herr Zazzi den Karren über das holprige Pflaster schiebt. Die hebt man dann auf und fragt mit unschul­diger Miene: «Darf ich?», und der gutmütige Bananenmann nickt.

Auf dem Horburgmätteli trifft man häufig andere Kinder an. Mit denen spielt man Fangis oder Versteckis. Wenn dann um vier Uhr im Schulhaus bei der Drei­rosenbrücke die Pausenglocke klingelt, ist sie das Zeichen zum Aufbruch. Jetzt gehen nämlich die Kinder in den Schülerhort unter der Brücke. Bevor sie sich an die Hausaufgaben setzen, kriegen sie einen Apfel und ein Stück Brot. Die beiden Brüder stellen sich unauffällig in die Reihe, als gehörten sie dazu, um dann ebenso unauffällig mit der Beute zu verschwinden.

Im Hinterhof

Am Abend schauen sie manchmal ins «Amerbach» hinein. Ist der Papa da? Männerstimmen, Lachen und Zigarettenrauch füllen die Gaststube, Päuli kann zuerst gar nichts erkennen.

«Karli, schau, dein Kleiner sucht dich!», sagt einer.

Päuli klettert auf Vaters Schoss, hört den Grossen zu und schaut stolz in die Runde. Der Wirt mag den Päuli, stellt ihm manchmal einen Sirup hin oder an einem glücklichen Tag sogar ein Glas Vivi Kola.

Papa Karl Richener, zirka 1951.

Ist der Vater nicht da, schauen sie im Hinterhof nach. Hier ist er zwar auch nicht, aber es gibt die Kegelbahn im Säli hinter der Wirtschaft, die sich grosser Beliebtheit erfreut. Die beiden Knirpse halten den Atem an, wenn die schwere Holzkugel sanft über die Bahn rauscht, um dann mit Wucht in die Kegel zu fahren, und sie jubeln mit den Spielern über den wüsten Haufen, den ein Treffer hinterlässt. Das sieht so einfach aus, aber sie schaffen es gerade mal, die schwere Kugel in die Holzrinne zu stemmen, auf der sie zurück zu den Spielern kullert. Dann stellen sie eilig die Kegel auf. Das gibt wieder ein paar Räppler oder ein Glas Vivi Kola.

Auch einen Schwingkeller gibt es dort. Es riecht nach Schweiss, die Männer ächzen und stöhnen, die Köpfe werden rot, die Halsadern quellen hervor, zum Fürchten. Päuli und Theo machen es ihnen nach, aber es wird eher eine Katzenbalgerei daraus.

Im Hinterhof hausen auch die Italiener, in einer Holzbaracke mit winzigen Zimmerchen, die über eine Veranda zugänglich sind. Nur im hintersten wohnt eine alte Frau, sie kocht für die Männer Spaghetti oder Minestrone.

Daneben liegt die Waschküche. Am Morgen wird im grossen Waschhafen eingeheizt, warme Dampfschwaden dringen durch die Türöffnung, in der keine Türe hängt. Es duftet nach Seife.

Am Abend ist niemand mehr da. Dann klettert Päuli in die wasserbetriebene Zentrifuge. «Theo, anstellen!» Theo dreht den Hahn auf, und das Karussell setzt sich langsam in Bewegung, dreht sich immer schneller, bis Päuli zu schreien beginnt. Theo dreht den Hahn zu und Päuli gibt sich genüsslich dem ausklingenden Schwung hin. «Noch einmal!», verlangt er.

Manchmal bleiben sie auch viel länger weg von zu Hause, treiben sich noch im Rheinhafen herum, wenn die andern Kinder längst heimgegangen sind. Sie klettern auf den Hausbooten herum, die verlassen an der Mauer vertäut liegen, bis es dunkel wird. Sie kennen sich zwar gut aus im Quartier, aber bei Nacht sehen alle Strassen gleich und fremd aus, sie sind todmüde und verloren. Zwei Polizisten auf ihrem Rundgang wundern sich, um diese Zeit noch Kinder anzutreffen. Doch, diese beiden sind ihnen bekannt. Sie nehmen sie mit auf den Horburgposten, gar nicht weit von der elterlichen Wohnung. Da riecht es einladend nach Suppe, Polizisten im Nachtdienst brauchen auch etwas Warmes. So bekommen die hungrigen, frierenden Kinder einen Teller Suppe, bevor der eine, der Tschudi, sie heimbringt.

Dort sind sie nicht vermisst worden.

Die Küche, das Herz der Wohnung

In Pauls Erinnerung ist die Küche riesengross und er noch sehr klein, vielleicht zwei, drei Jahre alt. Er hockt beim Holzherd auf dem Boden und schichtet konzentriert Zündholz auf Zündholz, zwei längs, zwei quer. Durch die Ritzen der Ofentür sieht man ein schwaches Glimmen. Aus dem Wasserschiff auf dem Herd steigt Dampf auf. Die Luft ist trüb vom Rauch.

Am langen Holztisch sitzen die Grossen, es wird geschwatzt und gelacht, geraucht, Bier getrunken, gejasst. Der Vater ist da, der eine oder andere von den grossen Brüdern, ein paar Kollegen, der Zimmerherr vielleicht, die alte Frau Weber*, die immer Erdnüsschen knabbert. Päuli sieht fast nur Beine und Füsse.

Irgendwann verdämmern die Stimmen, Nebel hüllt den Kleinen ein – «Päuli schläft», sagt jemand, hebt ihn hoch und trägt ihn ins Bettchen im Schlafzimmer der ­Eltern nebenan.

Die Zimmer sind klein. Eines ist vermietet, in den andern rückt die grosse Familie zusammen. Der Abort befindet sich ausserhalb der Wohnung auf dem Zwischengeschoss, Seite an Seite mit demjenigen von Frau Weber. Päuli getraut sich nicht allein dorthin, es ist dunkel im Treppenhaus. Vater nimmt ihn an der Hand, geht mit ihm die Treppe hinunter, setzt ihn auf den Topf und sich selber auf die Kloschüssel. Wenn Frau Weber gleichzeitig im WC nebenan sitzt, nur durch ein dünnes Holzwändchen getrennt, kann das eine längere Geschichte werden, denn dann wird palavert.

Der Vater ist ein leutseliger, gutmütiger Mensch, bei seinen Kollegen beliebt, ein begabter Fussballer und beim FC Nordstern eine feste Grösse. Mit seiner grossen Familie und seiner unsteten Frau ist er überfordert, finan­ziell und auch sonst. Was er als Isoleur in der Chemischen verdient, reicht nirgendwohin. Wenn ihn die Sorgen bedrängen, versucht er sie mit reichlich Bier auf Distanz zu halten, aber das macht die Sache auch nicht besser.

Die grossen Geschwister kommen und gehen ihre ­ei­genen Wege. Sonja, die Erstgeborene, fünfzehn Jahre älter als Paul, ist aus seiner Sicht eine erwachsene Frau und manchmal Ersatzmutter, aber auch immer wieder lange Zeit abwesend. Heinz und Carlo sind vor allem in den Ferien zu Hause, aber so genau überblickt Päuli das nicht. Am ehesten schaut noch Fritz, der Zweite in der Geschwisterreihe, zum Rechten. Er arbeitet in der Fabrik wie der Vater.

Und wo ist Mutter Virginia? Sie ist da oder nicht da. Arbeitet bis tief in die Nacht im Service – «oder was weiss ich». Päuli vermisst sie nicht. Wenn er nur Theo hat.

Ein geordneter Haushalt existiert nicht. Zu Hause wird nicht regelmässig gekocht, ausser vielleicht am Sonntag. Sonja und Fritz schälen und schneiden kiloweise Kartoffeln, erhitzen das Öl in der grossen Pfanne und hängen das Frittiernetz mit den Kartoffelschnitzen hinein, eins ums andere Mal, bis eine Riesenschüssel voll knuspriger Pommes frites auf dem Tisch steht. Oder die Mamma formt auf dem grossen Holzbrett Gnocchi, dicke, grosse, dazu gibt es eine üppige Bolo­gnesesauce, mehr als fünf oder sechs Stück schafft Päuli nicht.

Am Sonntagnachmittag kurz vor Ladenschluss lohnt sich ein Besuch in der Bäckerei Dällenbach. Päuli und Theo schlüpfen hinter den Ladentisch und schauen zu, wie Frau Dällenbach die letzten Kunden bedient. Dann packt sie in eine grosse Gugge (Tüte), was sie am Montag nicht mehr verkaufen kann, süsse Weggli, altbackenes Weissbrot, vielleicht sogar ein paar eingedrückte Stück­li. Päuli schaut mit begehrlichen Augen auf das letzte Diplo­mat, eine cremige Schleckerei im weissen, gefältel­ten Papierkörbchen, und Frau Dällenbach versteht. Er verzehrt es auf dem kurzen Heimweg, bevor ihm ein ­anderer dazwischenkommt.

Barfuss im Sommer

Da gibt es diese helle Erinnerung an einen Ostermorgen. Päuli schläft jetzt mit den Brüdern im andern Zimmer. Beim ersten Sonnenstrahl wacht er auf, da steht schon der grosse Carlo, der dritte Bruder, an seinem Bett.

«Ich weiss, wo dein Osternestchen ist!»

Er lacht triumphierend. Päuli springt aus dem Bett, und Carlo führt ihn zum Versteck unter der Kommode, er hat schon alles ausgekundschaftet. Ein paar Schoggieili sind drin und ein Häschen aus rotem Zucker wie die Schleckstengel, innen hohl. Das schmeckt Päuli am besten.

Das Schöne am Sommer ist, dass man barfuss gehen kann. Dazu in kurzen Hosen und immer dreckig.

Zu Päulis Sommervergnügen gehört das Flüsschen Wiese, das, vom Schwarzwald her kommend, auf Schweizer Boden nahe der Landesgrenze dem Rhein zufliesst. Nach dem Mittagessen auf der Exerziermatte machen die zwei Buben oft einen Abstecher an die Wiese. Sie waten mit nackten Füssen hinein, das Wasser ist nicht tief. Aber die Steine sind glitschig, man muss höllisch aufpassen, dass man nicht hinfällt. Wenn noch andere Kinder da sind, setzt es etwa eine Wasserschlacht ab. Dann werden die Hosen nass, aber was soll’s, die trocknen wieder.

Von dem unreifen Obst und dem ungewaschenen Gemüse, das die beiden auf ihren Streifzügen essen, hat Päuli oft Bauchweh und manchmal auch den Dünnpfiff. Und nicht immer schafft er es rechtzeitig, die Hosen run­terzulassen. Einmal bemerkt eine wildfremde Frau, dass es ihm braun die Beine hinabläuft. Der Kleine tut ihr leid. Sie wäscht ihn und seine verdreckte Hose mit kaltem Wasser, und er zieht sie gleich nass wieder an. Ein andermal sagen sie zu Hause, der hat ja die Hosen voll!, und Sonja, die grosse Schwester, muss ihn wohl oder übel sauber machen. Verärgert über den kleinen Stinker, setzt sie ihn in einen Zuber mit viel zu warmem Wasser und schrubbt seinen nackten Po, bis er krebsrot ist.

An der Wiese 1952.

Holzschuhe im Winter

Die kurzen Hosen tragen sie auch im Winter, aber mit Woll­strümpfen, die kratzen, und Holzschuhen. Die Strümp­fe sind mit je zwei Bändern und Knöpfen an der Unterhose befestigt und ziehen diese nach unten, man muss sie immer wieder hochziehen, das ist lästig. Zwischen Strumpf und Hosenbein klafft eine Lücke, da beisst die Kälte in die nackte Haut. Trotzdem sind die Kinder auch winters draussen auf ihren Streifzügen, frierend halt.

Die Holzschuhe klappern laut auf dem Pflaster. Sie sind an der Spitze und am Absatz mit Eisenplättchen versehen, damit sie sich nicht so schnell abnützen. Mit diesen kann man Funken schlagen, wenn man den Schuh hart gegen die Pflastersteine stösst. Allerdings brauchen sich die Eisen schnell ab, dann müssen neue her. Päuli geht zum Schuhmacher an der Hammerstrasse. Der zieht die Augenbrauen hoch: «Schon wieder?», und nagelt dann gutmütig neue Eisen auf, ohne etwas dafür zu verlangen.