Tatjana Kruse

Manche mögen's tot

Die K&K-Schwestern ermitteln

Insel Verlag

 
 
 
Für Dan Brown. Aus Gründen.

Inhaltsverzeichnis

Tag eins

Tot, toter, am tötesten

Konnys Kummerkastenkolumne

Melodien für Millionen – es tschilpt, es zirpt, es zwitschert

In unserer beliebten Reihe »Singvögel der Heimat« heute: die Stockente (Anas platyrhynchos) aus der Familie der Anatidae

Sonate für zwei Laubbläser und eine Kettensäge

Erwachsensein ist, wie seine Mama im Kaufhaus zu verlieren. Nur für immer.

Schutzengel – aus guten Gründen ein Ausbildungsberuf mit Prüfungsordnung

Geh mit Problemen um wie ein Hund: Wenn du es nicht fressen und nicht damit spielen kannst, dann pinkele es an und geh weiter!

Als verrückt zu gelten ist eine natürliche Begleiterscheinung von hammergeil zu sein

Wie man sich bettet, so liegt man. Gilt auch für Särge.

Total abgebrüht! Kann auf Tee ebenso zutreffen wie auf Kinder …

Wer immer alle Regeln befolgt, verpasst den ganzen Spaß!

Ein Geist, der nicht spukt, hat seine Berufung verfehlt

Tag zwei

Konnys Kummerkastenkolumne

Ich MAG Kinder! Gut durch und mit viel Soße. (W. ‌C. Fields)

Die rechte und die linke Klaue des Teufels

Prosecco kaltstellen ist ja auch irgendwie kochen …

Schlafende Mörder soll man nicht wecken!

Die Realität wird überschätzt – sie ist doch höchstens zu zehn Prozent real

Nachts sind alle Katzen grau. Nur der Graupapagei bioluminesziert.

Tag drei

Konnys Kummerkastenkolumne

Wer die Geister ruft …

Ungebetene Gäste: Gleich erschlagen oder vorher noch was zu trinken anbieten? Was sagt Knigge?

Erektion, aber am Mittelfinger …

Viele Köche verderben die Köchin

Essen Sie, worauf immer Sie Appetit haben, und wenn Ihnen jemand deshalb Vorhaltungen macht, dann essen Sie den auch!

Triumphzug. Nur ohne Triumph. Und ohne Zug.

Tag vier

Konnys Kummerkastenkolumne

Who do you call? GHOSTBUSTERS! (Ray Parker Jr.)

Ich hoffe, der Kerl, der die Autokorrektur erfunden hat, schmort in der Hallo!

Das Ende ist nah – lasst uns schnapseln und fröhlich sein

Wer Parapsychologen sät, wird Ektoplasma ernten

Drei Muskeltiere gegen die Zombie-Apokalypse

Tag fünf

Konnys Kummerkastenkolumne

Kriemhilds Trauerfeier: Willkommen zu Völlerei und Leberschmerz

Grüß Gott, ich bin Ihr Mörder!

Komm mit ins Abenteuerland

Konnys Kummerkastenkolumne

Tag sechs und alle Tage danach

Danksagungen

Es »spuken«:

Tag eins

Tot, toter, am tötesten

Die Binse, dass es nie so schlimm kommt, wie man befürchtet, ist frech gelogen.

Dachte Kriemhild, als sie die Kugeln auf sich zufliegen sah …

Natürlich kann man abgefeuerte Pistolenkugeln im Flug nicht wirklich sehen. Dafür sind sie viel zu schnell. Aber in diesen Momenten zwischen Leben und Tod verlangsamt sich die Zeit. Wie in einem Matrix-Film. Nicht nur auf der Leinwand, auch in der süddeutschen Provinz.

In dieser verlangsamten Zeit sah Kriemhild sich selbst, wie sie an diesem Morgen in ihrem grauen Staubmantel die Pension, die sie mit ihrer Schwester führte, verlassen hatte.

Alle anderen schliefen noch. Die Sonne ging gerade auf. Eine Amsel zwitscherte, ein Schaf blökte, die vorüberfahrende Zeitungsfrau rief einen Morgengruß. Jeder andere hätte das für pure Idylle gehalten.

Nicht so Kriemhild.

Kriemhild fand die Sonne, die gerade so über die Hügel auf der anderen Talseite lugte, zu grell. Die Amsel und das Schaf waren ihrer Meinung nach vermutlich auf Speed, weil sie so enthemmt klangen wie Death-Metal-Leadsänger auf dem Wacken Open Air. Und die Tageszeitungen vorn an der Auffahrt aus einer fahrenden Rostlaube zu werfen, wie es die Zeitungsfrau tat, während sie »Guten Morgen« oder »Ihr könnt mich alle mal« rief (aufgrund der Entfernung konnte man das nicht recht verstehen), erschien Kriemhild wie ein Fehdehandschuh, den man ihr ins Gesicht knallte.

Es gibt Menschen, die die Welt rosarot sehen. Oder doch mehrheitlich bunt. In Kriemhild waren diese Wahrnehmungsfarbskalen nicht angelegt. Für sie war alles grau. Es entsprach nicht ihrem Naturell, heiter zu sein. Das stieß manch einem sauer auf, aber wenn man sie erst einmal näher kannte oder sie auch einfach nur so sein ließ, wie sie war, dann wurde einem klar, dass in ihrem hageren Bohnenstangenkörper ein gutes Herz schlug.

Sie hatte es nicht leicht gehabt. Nie viel Geld, dafür viele Schicksalsschläge in ihrem über sechzigjährigen Leben. Weil sie immer filterlos die Wahrheit sagte – oder das, was sie dafür hielt –, war ihr Freundeskreis eher klein zu nennen. Sie erfüllte ihre Pflichten; ohne zu murren, aber auch ohne Spaß. Kriemhild verstand nicht, warum der eine oder die andere sie bemitleidete. So war das Leben eben. Man kam auf die Welt, dann ging es auf und ab wie in einer Achterbahn (bei manchen mehr ab als auf, aber sei's drum), und am Ende starb man.

Das hieß nicht, dass Kriemhild unfähig war, die kleinen Freuden des Lebens zu genießen. An diesem Morgen hatte sie beispielsweise ausgiebig heiß geduscht – ein Luxus, der vor der jüngsten Rundumsanierung der Pension nicht garantiert war, weil die Warmwasserversorgung ein Eigenleben geführt hatte. Und jetzt wollte sie in den Wald und Pilze sammeln. Weil sie das an ihre Kindheit erinnerte, in der sie mit ihrem bärbeißigen Opa »in die Pilze« gegangen war. Stundenlang hatte er vor sich hin gebrummt, wem er alles einen Fliegenpilz vorsetzen würde, wenn er denn einen fände (er fand nie einen), während Klein-Kriemhild durchs Unterholz hüpfte. Seitdem weckte das Pilzsammeln stets Glücksgefühle in ihr. Auch wenn sie nicht mehr hüpfte.

Von der Pension zum Wald war es fußläufig, und nur knapp zwei Kilometer weiter begann schon die Schleifbachklinge, die hinunter ins Tal führte. Geomorphologen verstehen unter einer Klinge kurze, schmale, meist sehr Gefälle-starke Kerbtäler, die durch Wasser- oder Schutterosion entstanden sind. Für Nicht-Geologen waren die Klingen, von denen es in der Nähe der Pension mehrere gab, echte Wohlfühlparadiese, in denen man begriff, warum die Japaner von Shirin Yoku sprachen, dem Waldbaden. Zumal der Bach ständig neben einem dahinplätscherte. Man erfasste tief innerlich, warum Hildegard von Bingen einst gesagt hatte, die Ewigkeit habe eine Farbe und die sei Grün. Weniger spirituelle Menschen fanden solche bewaldete Klingen einfach herrlich zum Wandern.

Natürlich nicht im Morgengrauen, mehr so tagsüber. Folglich war die Schleifbachklinge menschenleer. Und auch die Fauna schlief noch in ihren Nachtverstecken. Nur die Flora war allüberall, sie konnte ja nicht anders.

Kriemhild wusste aus Erfahrung, an welchen Hängen man die besten Pilze fand. Pfifferlinge, um genau zu sein. Sie liebte den Geschmack von Eierschwämmen, wie man sie auch nannte. Und die gelben Hütchen. Einfach entzückend. Ja, die kleinen Freuden schätzte Kriemhild durchaus. Und von denen gab es so unendlich viel mehr als von den großen Freuden. Die Geburt eines Kindes, Erstbesteigungen, Preisverleihungen, einen Seelenverwandten, mit dem man an einem exotischen Ort händchenhaltend in den Sonnenuntergang schaute – das waren doch alles nur punktuelle Highlights, exzeptionelle Momentaufnahmen. Die kleinen Freuden – wie eine heiße Dusche oder ein Teller mit selbstgesammelten Pilzen – waren planbarer, müheloser zu erreichen und kamen sehr viel häufiger daher. Will heißen, Kriemhild war glücklich.

Ihr Korb war bereits nach kurzer Zeit gut gefüllt, und sie war auf dem unwirtlichen, schmalen Pfad trotz knorriger Wurzeln und abgebrochener Äste stolperfrei fast schon unten im Tal angekommen, als sie im goldenen Sonnenlicht das Äquivalent des heiligen Grals aufblitzen sah.

Die Klinge lag im Westen und somit voll im Morgenlicht. Ab Mittag wäre es hier zappenduster, und das Pilzesammeln nur noch mit Taschenlampe möglich. Jetzt aber erstrahlte ein wahrer Pilzprotz zwischen zwei Buchen. Kriemhild strahlte ebenfalls. Was für ein Fund! Sie verließ den Weg, kämpfte sich durch das Gestrüpp bis zu Mister Pfifferling und zögerte nur ganz kurz, bevor sie sich vorbeugte und ihn mit einem raschen Schnitt ihres Messers ihrer Sammlung einverleibte.

Und in genau dieser Position – aus der Hüfte nach vorn geknickt, mit baumelndem Pilzkorb und leise ächzend – hörte sie den Schuss.

Kriemhild richtete sich abrupt auf.

War sie in eine Jagd hineingeraten? Sie hatte in der Lokalzeitung gelesen, dass Wildschweine in den hiesigen Wäldern zu einer wahren Plage geworden waren. Aber dann hätte man doch zum Halali geblasen? Oder Warnschilder auf den Wegen aufgestellt. Wobei Kriemhild sich zutraute, so ein Schild auch einfach mal nicht zu sehen.

Eine Frau schrie.

Ein weiterer Schuss fiel.

Dann Stille.

Kriemhild neigte nicht zu spontanen Reaktionen. Egal, wie dicke es kam, sie blieb ruhig und machte einen Schritt nach dem anderen. Bildlich und ganz konkret. In diesem Fall führten sie ihre Schritte hangabwärts zum Ausgang der Klinge, von wo Schüsse und Schrei gekommen waren.

Dort unten ergoss sich das plätschernde Rinnsal, das nur nach starken Regenfällen oder zur Schneeschmelze zu einem ausgewachsenen Bach anwuchs, in den Fluss. Es gab dort auch einen Parkplatz für die Wanderer.

Und auf diesem Parkplatz stand eine dunkle Luxuslimousine, hinter der ein stattlicher Mann in diesem Moment relativ rhythmusfrei einen einbeinigen Stepptanz aufführte, während er etwas Schweres in den Armen hielt.

Auf den zweiten Blick wurde Kriemhild klar, dass er versuchte, mit dem Fuß den Sensor zu aktivieren, der den Kofferraumdeckel der Limousine automatisch anheben würde. Doch was der Mann in den Armen hielt, war kein Etwas – sondern eine Frau.

Zierlich.

Blond.

Eindeutig tot.

Er ging nicht sehr behutsam mit der Leiche um, und wäre die Leiche keine Leiche, hätte sie einen Ton von sich gegeben, als der Kofferraumdeckel aufglitt und der Mann sie so grob in den Wagen wuchtete, dass ihr Kopf schwer und mit einem weithin vernehmbaren Knacken gegen den Kofferraumdeckel prallte. Bestimmt hatte er ihr gerade auch noch das Genick gebrochen.

Kriemhild blieb reglos stehen und schluckte schwer. Ihre – unter normalen Umständen fast schon übermenschlich zu nennende – Selbstbeherrschung stieß nun doch an ihre Grenzen. Was tun?

Heutzutage böte sich an, das Ganze mit der Handykamera zu filmen.

Kriemhild hatte natürlich ein Handy. Nur eben nicht dabei.

Und selbst wenn sie es eingesteckt hätte, es war ein uraltes Motorola-Teil, mit dem man nur telefonieren und Textnachrichten ohne Emojis schicken konnte. Sie hätte damit wenigstens einen Notruf absetzen können. Aber das konnte sie immer noch – sobald sie nach Hause kam. Sie durfte nur nicht entdeckt werden. Was kein Problem werden dürfte: Kriemhild stand regloser als Lots Weib nach der Verwandlung in eine Salzsäule. Und in ihrem grauen Staubmantel wurde sie praktisch eins mit dem sie umgebenden Wald.

Es hätte alles so schön sein können.

Nicht für die Frauenleiche, versteht sich.

Aber zumindest für Kriemhild.

Für den Bruchteil einer Sekunde visualisierte sie, wie sie das Nummernschild des Wagens im Wegfahren ausmachen würde, und wie dank ihrer Geistesgegenwart und Gefasstheit dieser Täter zeitnah dingfest gemacht werden konnte. Pflichterfüllung war für Kriemhild das größte Glück. Und die Erfüllung einer staatsbürgerlichen Pflicht war gewissermaßen das Sahnehäubchen auf der heißen Glücksschokolade.

Doch dann kam alles anders.

Sie verlagerte ihr Gewicht – nur ein klitzekleines bisschen, damit sie das Nummernschild besser sehen konnte, wenn der Mann sich hinter das Steuer seines Wagens setzte und losfuhr. Kriemhild, sehr groß, aber auch sehr hager, wog nicht viel. Wie viel genau, wusste sie nicht, weil sie sich nie auf eine Waage stellte, aber es konnte wirklich nicht viel sein. Dennoch genug, um den Zweig unter ihrem linken Schnürschuh zum Knacken zu bringen.

In der morgendlich stillen Klinge schien es ein besonders lautes Knacken. Fast schon obszön nachhallend.

Der Mann sah auf.

In diesem Augenblick wurde Kriemhild klar, dass sie sich das Kennzeichen nicht einprägen musste.

Sie kannte das Gesicht. Es gehörte einer Persönlichkeit des öffentlichen Lebens – einem honorigen Mitglied des Gemeinderates, Vereinsfunktionär, Kunstmäzen, Serviceclubpräsident, Golfspieler. In allen Fotogalerien der örtlichen Tageszeitung immer an vorderster Front mit dabei. Und er hieß … ihre kleinen grauen Zellen ratterten … er hieß Giesing. Kurt Giesing.

Umgekehrt würde er Kriemhild ganz sicher nicht erkennen. Sie spielte in der Öffentlichkeit keine Rolle, lebte ihr Leben hinter den Kulissen. Er könnte sich allerdings ihre Gesichtszüge einprägen.

Aber das hatte er nicht vor. Er war ein Mann der Tat und wollte die Angelegenheit sofort bereinigen. Also zog er seine Waffe und schoss. Zweimal.

Peng! Peng!

Als Kriemhild an diesem Morgen aufgestanden war, hatte sie mit einem unangenehmen Tag gerechnet. Es war Bettenwechsel in der Pension – immer stressig –, und es war ihr Hochzeitstag. Vor über dreißig Jahren hatte sie den bärbeißigen Hochseeschifffahrtskapitän, den sie immer nur »Kommodore« nannte, geheiratet und mit ihm, wie sie geglaubt hatte, eine ordentliche Ehe geführt. Nicht hollywoodkitschig glücklich, aber bodenständig zufrieden. Selbst nach seinem Tod war die Ehe für sie nicht vorbei gewesen: Sie hatte die Asche des Kommodore in eine marineblaue Urne gefüllt und ihn immer an ihrer Seite behalten. Bis sie vor kurzem äußerst schmerzhaft lernen musste, dass er sie die letzten Ehejahre über betrogen hatte. Mit einer Gabi. In echt und – an Bord auf langen Fahrten – als naturgetreu nachgebildete Silikonversion. Die Verbitterung darüber begleitete sie alle Tage, aber an ihrem Hochzeitstag würde sie besonders brodelnd aufkochen, kein Zweifel möglich.

Kurzum, Kriemhild war beim Aufwachen sicher gewesen, dass es kein guter Tag werden würde.

Aber als die Kugeln nun auf sie zuflogen, war klar: Dieser Tag würde nicht nur nicht gut, er würde zweifellos richtig, richtig schlecht werden. Und möglicherweise sogar tödlich.

Kriemhild atmete – typisch für sie – genervt aus.

Und da traf die erste Kugel auch schon ihr Ziel …

Konnys Kummerkastenkolumne

Liebe Kummerkasten-Konny,

ich bin seit vielen Jahren – vielleicht zu vielen?!? – verheiratet, und mein Mann gibt mittlerweile dem Sportprogramm im Fernsehen allem anderen den Vorzug. Er lümmelt in Schnarchhaltung auf der Couch, anstatt mit mir draußen in der Welt aktiv das Leben zu genießen, solange wir noch körperlich fit sind. Endlich sind die Kinder aus dem Haus – und nun das. Soll es das etwa gewesen sein?

Ich bin kurz davor, mich allein ins Leben zu stürzen und meinen Muffel auf der Couch zurückzulassen!

N.-I. ‌L.

Liebe Nil,

zu gern würde ich kämpferisch rufen: Horrido, ziehen Sie hinaus in die Welt und erleben Sie wilde Abenteuer! Soll der Muffel doch sehen, wo er bleibt. Aber im Laufe eines langen Lebens hat man sich an ihn gewöhnt, und Abenteuer sind doppelt so schön, wenn man sie mit jemandem teilen kann. Geben Sie ihm noch eine Chance. Es bringt gar nichts, wenn Sie eine Kehrtwende von ihm verlangen – von der Couch direkt auf die Piste funktioniert nicht und führt nur zu Muskelfaserrissen. Fangen Sie klein an: ein gemeinsamer Sonntagsspaziergang durch den Park zur Tanke, weil Sie »vergessen« haben, Bier zu kaufen. Statt der Safari in Kenia ein Wochenende in der Lüneburger Heide. Stellen Sie eine Tischtennisplatte in den Garten, weil er das als Junge so gern gespielt hat.

Verwandeln Sie ihn sanft und Babyschritt für Babyschritt in einen etwas aktiveren Partner. Wenn alles nicht fruchtet, können Sie ihn immer noch auf der Couch zurücklassen, bis er eins mit dem Teil wird. Aber legen Sie einen Plastikschutz unter, falls er »suppt« …

Ihre Konny

Melodien für Millionen – es tschilpt, es zirpt, es zwitschert

Heiter erhob sich die Morgensonne über die Pension von Konny und Kriemhild. Sie wusste es nicht besser.

Von außen schien alles friedlich, nachgerade bukolisch.

Die gerade frisch rundumsanierte Jugendstilvilla, die umgebaute Scheune mit zusätzlichen Gästezimmern, das herrliche Gartengrundstück der Pension mit den von Gärtner Hirsch liebevoll arrangierten Blumenbeeten, die mümmelnden Schafe auf der Wiese von Bauer und Bäuerin Schober gleich nebenan – Idylle pur.

Doch Konny schreckte abrupt auf.

Ein dumpfes Unwohlsein machte sich für einen Moment in ihr breit. Oder war es nur die Amsel, die sie aus ihrer Tiefenkonzentration gerissen hatte? Fröhlich zwitschernd saß der schwarze Vogel auf dem Fenstersims und wippte mit seinem aufgeplusterten Leib, dass es ein wenig so aussah, als würde er zu seinem eigenen Gesang abtanzen.

Du bist so dumm, dachte Konny, wenn ich fliegen könnte, wäre ich jetzt am Meer und nicht hier in der süddeutschen Provinz. Zu Konnys Entschuldigung sei gesagt, dass es ja oft so ist, dass man das, was man kennt, nicht so zu schätzen weiß wie das, was weit weg ist.

Konny war jetzt sechzig plus. Also, laut Geburtsurkunde. Innerlich fühlte sie sich keinen Tag älter als 39. An schlechten Tagen wie 46. Dennoch ließ sich nicht leugnen, dass sich die Motivation, warum sie morgens das Bett verließ, verändert hatte. Früher waren es Abenteuerlust und beruflicher Ehrgeiz gewesen. Oder auch nur der Wunsch, das Weite zu suchen, bevor der Kerl neben ihr, den sie am Vorabend aufgerissen hatte, aufwachte. Mittlerweile motivierte sie meist ihre Blase zum Aufstehen.

Und wenn sie schon stand, konnte sie sich auch gleich ihren Laptop krallen und zurück ins noch warme Bett schlüpfen, um dort ihre tägliche Kolumne zu tippen. Nach Jahrzehnten als investigative Journalistin schrieb sie mittlerweile nur noch für eine Online-Frauen-Zeitung eine Kummerkasten-Kolumne über das lustvolle Älterwerden.

Konny riss sich zusammen, verdrängte das ungute Gefühl, dass etwas Schlimmes passiert sein könnte, und überflog noch einmal ihren Text. An diesem Morgen waren ihr die Worte nur so aus den Fingerspitzen geflossen. Im Halbschlaf funktionierte sie erwiesenermaßen am besten. Nur an der Stelle, wo der tote Gatte suppt, geriet sie ins Stocken. Das würde die Chefredakteurin zweifelsohne rauskürzen. Aber egal. Konny hasste Drumrumgeschwafel. Sie wollte mit den Frauen, die ihre Kolumne begeistert verfolgten, Klartext reden.

Das Tirilieren der Amsel, die sich immer noch die Vogelseele aus dem Federleib zwitscherte, fasste Konny als Bestätigung auf: Sie drückte auf senden und klappte ihren Laptop zu. Ihr Tagewerk war somit getan. Sie war ja jetzt eine wohlhabende Frau.

Konny räkelte sich genüsslich. Insoweit das möglich war, wenn man mit einem Bein und eigentlich der kompletten linken Körperhälfte aus dem Bett hing und die Gefahr bestand, dass schon die kleinste falsche Bewegung ausreichen würde, damit man im Seidenpyjama über das Laken flutschte und auf dem Bettvorleger landete.

Den Großteil des Bettes hatte nämlich der Mann in ihrem Leben mit Beschlag belegt.

Er hieß Amenhotep und war ein Kater.

Tiere können uns ja so viel beibringen. Amenhotep beispielsweise hatte seinem Frauchen beigebracht, dass sie längst nicht so viel Platz im Bett brauchte, wie sie immer gedacht hatte. Alle fünfe – vier haarlose Beine und einen ebenso haarlosen Schwanz – weit von sich gestreckt, ruhte der Nacktkater mitten auf dem Bett und ließ sich von der Amsel auf dem Fenstersims nicht im Geringsten stören. Oder dadurch, dass Konny nun endgültig aufstand und sich dem Tag stellte.

Mit Kissenknautschfalten im Gesicht (unelastische Haut – noch so eine der ›Freuden‹ des Alters), wild zerzauster Lockenmähne und nur im Bademantel über dem roten Seidenpyjama schlurfte Konny – vorbei am Zimmer ihrer Schwester, dessen Tür offen stand und den Blick auf ein frisch gemachtes Bett freigab – nach unten ins Erdgeschoss. Sie fühlte sich sicher vor fremden Blicken, denn die wenigen Gäste der Pension waren in der umgebauten Scheune untergebracht.

Es war kurz nach sieben Uhr. Frühstück gab es erst ab acht, noch herrschten Ruhe und Frieden und Stille.

Sie öffnete die Haustür und ließ sie offen. Das war ein Automatismus. Damit die Gäste aus den Scheunenzimmern auch ohne Schlüsselkarte ins Haupthaus gelangten. Hier draußen auf dem Land war die Welt noch in Ordnung. Außerdem hatten sie jetzt ihre lebende Alarmanlage.

»ELENDES PACK, ELENDES

Nicht nur ein Fluch, sondern ein Fluch in dreistelliger Dezibelhöhe direkt neben ihrem Ohr.

Obwohl Konny damit gerechnet hatte, schnappte sie automatisch nach Luft und hielt sich am Türgriff fest.

»KLAR ZUM ENTERN

Etwas landete auf Konnys Schultern und bohrte sich mit scharfen Krallen in ihr Fleisch.

»Ich muss dringend ein Vorhängeschloss kaufen.«

Chuck Norris, Graupapagei unbestimmten Alters, knabberte an Konnys Ohrläppchen. Mit seinem Schnabel könnte er ihr, wenn er wollte, das komplette Ohr mit einem Happs abbeißen. Aber er wollte nicht. Hoffte Konny. Der Vogel war nicht nur stimmgewaltig, sondern auch klug. Er hatte zum Beispiel gelernt, die Tür seiner Voliere im Büro zu öffnen.

Sie fragte sich, warum ihre Schwester, die ja offenbar auch schon wach war, ihn nicht wieder eingesperrt hatte. Es war in höchstem Maße unklug, ihn ohne Aufsicht freizulassen, denn wenn er nicht fluchte, nagte er. Den Hang zur künstlerischen Neugestaltung seiner Umgebung teilte er mit Amenhotep. Aus der Tür zum Büro hatten der Kater mit seinen Krallen und der Papagei mit seinem Schnabel bereits eine formidable Skulptur geschaffen, die obenherum zwar noch aussah wie eine Tür, aber unten – in Reichweite von Schnabel und Krallen – wie eine Relieflandkarte der Schweiz.

»Kriemhild?«, rief Konny.

Ihre Schwester litt an seniler Bettflucht und war bestimmt schon im Haushalt zugange. Wobei Kriemhild schon immer eine Frühaufsteherin gewesen war. Völlig unverständlich für Nachteule Konny. Wie konnten Zwillinge nur so verschieden sein? Nun ja, sie waren nicht eineiig, das erklärte manches.

Konny drehte, mit dem wippenden Chuck Norris auf der Schulter, eine Runde durchs Erdgeschoss der Villa: von der Rezeption ins Esszimmer mit Blick auf die Auffahrt, dann in die Küche, von dort in den Flur mit der Hintertür zum Garten, durch das ehemalige Zimmer des Gärtners, das jetzt als Salon mit kleiner Bibliothek diente, und zurück ins Büro.

Keine Kriemhild.

»Aua!«

Wenn man zu schnell in die Kurve ging, krallte sich Chuck fester in seine Sitzstange. In diesem Fall war die Sitzstange Konnys Schlüsselbein. Nicht zum ersten Mal dachte Konny, dass sie dem Papagei dringend eine Krallenmaniküre zukommen lassen mussten. Schon ihren Seidenpyjamas zuliebe. An deren Lochmuster im Schulterbereich trugen nämlich nicht Motten die Schuld, sondern Papageienkrallen.

»Möchtest du ein Palmöl-Muffin?«, gurrte Konny.

Bestechung war das Erziehungsmittel ihrer Wahl. Und auf diese speziellen Leckereien, die zwar Muffin hießen, aber Kekse waren, fuhr der Papagei voll ab.

»MAST- UND SCHOTENBRUCH

Chuck war noch nicht lange Familienmitglied. Konny und Kriemhild hatten ihn bei ihrem letzten Abenteuer in Hamburg adoptiert. Der Graupapagei hatte eigentlich dem ehemaligen Smutje des Kommodore gehört und sein bisheriges Leben weitgehend an Bord eines Frachtschiffes verbracht. Deswegen war seine Ausdrucksweise eher maritimer Natur. Und sein Benehmen auch. Mit Amenhotep verstand er sich erstaunlicherweise sehr gut, und an den wechselnden Gästen war er immer freundlich interessiert, trotzdem verbrachte er seine Tage – und vor allem Nächte – normalerweise in seiner großzügigen Zimmervoliere im Büro hinter der neuen Rezeptionstheke.

»Hier. Für dich.«

Konny warf drei Palmöl-Muffins in die Voliere und hielt den Arm an die Eingangsklappe. Chuck Norris – so hatte ihn der Smutje getauft und auf einen anderen Namen hörte er nicht – kraxelte an ihrem Arm entlang zur offenen Klappe und hüpfte hinein.

»SAUBANDE!«, kreischte er, als sie hinter ihm die Volierentür schloss und zusätzlich mit einem Stück Schnur verknotete, dann widmete er sich hingebungsvoll seinem Luxus-Frühstück.

Das mit der Saubande meinte Chuck Norris nicht so. Er mochte Konny lieber als Kriemhild, aber er beherrschte nun mal nichts anderes als derbe Flüche.

Kriemhild, die eigentlich Lehrerin war, ohne je in ihrem Beruf gearbeitet zu haben, weil sie in ihrer ruppigen Art mit Kindern genauso wenig konnte wie mit Erwachsenen, war in der Papageienerziehung streng und konsequent. Leckereien gab es, wenn überhaupt, nur zur Belohnung. Konny war da völlig anders. Sie warf mit Leckereien freizügig um sich. Nicht nur bei Papageien. Auch bei Männern …

Während Kriemhild nach der Ausbildung in Hamburg ihren Hochseeschifffahrtskapitän geheiratet hatte, war Konny wie ein Schmetterling von Kerl zu Kerl geflattert – und irgendwann als alte Jungfer mit einem Kater neben sich im Bett aufgewacht. Ihr letzter Freund war Klaus gewesen. Mäßig erfolgreicher Musikmanager, den sie schon im Studium kennengelernt und nach Jahrzehnten wiedergetroffen hatte. Seine herausragendste Charaktereigenschaft war seine Unzuverlässigkeit gewesen. Wobei er sich selbst nicht für unzuverlässig, sondern für spontan hielt.

Erst neulich hatte er wieder angerufen. »Du willst dir das mit der Trennung wirklich nicht nochmal überlegen? Ich sag's dir gleich, so jemanden wie mich wirst du nie wieder finden!«

»Das ist der Plan!«, hatte Konny gesagt und aufgelegt. Lieber würde sie sich eigenhändig und ohne Narkose die libidinösen Hirnbereiche herausoperieren, als einen Kerl zurückzunehmen, der sie auf einer Hochzeit hatte stehen lassen. Gut, nicht ihrer eigenen. Aber trotzdem!

Nur weil sie ihren Kolumnenleserinnen immer tipptopp Ratschläge erteilte, hieß das noch lange nicht, dass sie selbst mit ihrem Leben klarkam. Männer waren ihre Achillesferse. Besser gesagt, der tief vergrabene Wunsch, doch noch ein romantisches Happyend à la ›glücklich bis an ihr Lebensende‹ zu erleben. Deswegen war sie wie ein Trüffelschwein immer schnuppernd auf der Suche und sah in jedem halbwegs in Frage kommenden Mann einen potenziellen Kandidaten für einen gemeinsamen Lebensabend, Seite an Seite auf der Hollywoodschaukel im Garten sitzend, wie Philemon und Baucis.

Das war zumindest Kriemhilds Einschätzung. Und womöglich lag sie damit gar nicht mal so verkehrt, musste sich Konny eingestehen.

»Kriemhild?«, rief Konny aus dem Bürofenster ins Freie.

Keine Antwort.

»KRIEMHILD

An der Treppe, die in den Keller führte, rief sie noch einmal nach ihrer Schwester. Kriemhild war für die Verpflegung zuständig. Vielleicht holte sie gerade Eingemachtes oder Tiefgefrorenes aus den Vorratsräumen? Aber nein.

Es blieb still.

Eben noch entspannt und heiter, war Konny jetzt genervt. Auch so ein Zeichen der Alterung – dieses Angefressensein, wenn feste Abläufe durcheinandergewirbelt wurden. Normalerweise setzte Kriemhild immer schon den Kaffee auf, bevor Konny nach unten kam. Und Konny brauchte jetzt dringend eine Tasse Kaffee. Besser zwei.

Sie marschierte in Richtung Küche und wünschte sich nicht zum ersten Mal, dass endlich jemand eine vollautomatische Kaffeemaschine erfand, deren Sensorsystem schon am Gang ihrer Besitzerin erkannte, in welcher Stärke sie den Kaffee brühen musste …

In der Küche, dem Reich von Kriemhild, gab es aber auch nach der Rundumsanierung der Pension keinen funkelnden Hightech-Kaffeebereiter aus Italien, der auf Knopfdruck wahlweise Espresso, Latte macchiato oder eine Pizza Calzone produzierte, sondern nur eine ganz altmodische Kaffeemaschine mit Filter.

Konny musste also selbst Hand anlegen. Als sie allerdings die Dose mit dem Kaffee öffnete, war nur noch ein winziger Rest darin. Das war jetzt ein Problem, das den Dilemmata griechischer Tragödien in nichts nachstand. Das Kaffeepulver reichte gerade mal für maximal acht Tassen, aber da Konny morgens immer besonders starken Kaffee brauchte, eher für vier Tassen.

Lächerliche vier Tassen. Zwei davon für Konny zum Wachwerden. Blieben summa summarum noch zwei übrig.

Sie hatten aber Gäste, die in einer Stunde im Esszimmer stehen und ihren Morgenkaffee verlangen würden.

Was tun?

Auf den Morgenkaffee verzichten? Den Rest strecken?

Es war nicht wirklich eine schwere Entscheidung für Konny, den Kaffee-Junkie.

Sie brauchte den Kaffee für sich.

Nach ihr die Sintflut.

Beziehungsweise die Kaffeelosigkeit.

Wobei … im Schrank gab es noch eine Packung Entkoffeinierten.

Hm. Jemand entkoffeinierten Kaffee als Kaffee mit Koffein anzudrehen, stand natürlich auf einer Stufe mit Neugeborenen-Stationen, in denen absichtlich Babys vertauscht wurden. Aber erst kam die Kaffeesucht, dann die Moral. Und wenn sie einen Klecks Zahnpasta in den Filter gab, könnte sie den Gästen ihren koffeinlosen Kaffee als »Mint Flavored Tanzanian Club Blend« schmackhaft machen …

In unserer beliebten Reihe »Singvögel der Heimat« heute: die Stockente (Anas platyrhynchos) aus der Familie der Anatidae

Lambert Kaiser schnipste gegen den Bürzel der Gummiente. Prompt schoss sie los. Das Schaumkrönchen auf Lamberts Scheitel wackelte zufrieden.

Die Badewanne war sein Reich. Hier war sein Name Programm, hier war er Kaiser und König und Aquaman in Personalunion.

Sein Dasein wurde in dieser Sekunde nur dadurch getrübt, dass er seinen Instagram-Account checken wollte, aber sein Handy wegen des langen Einweichens seinen schrumpeligen Fingerabdruck nicht mehr erkannte. Probleme der Neuzeit …

Dann eben nicht. Er legte das Handy auf den Hocker neben der Wanne, schloss die Augen und wollte sich müßigen Tagträumen hingeben.

Doch plötzlich klopfte es dreimal zart gegen die Tür.

»Da ist ein Tier in unserer Dusche. Könnten Sie bitte einmal vorbeischauen?« Die Frauenstimme klang entschuldigend.

Ein ›Tier‹? Hatte sich ein Waschbär des Gästezimmers bemächtigt? Oder hatte sich ein Python durchs Kanalsystem nach oben geschlängelt? »Selbstverständlich! Ich komme sofort.«

»Danke, Herr Kaiser.«

Lambert seufzte.

Das war der Nachteil, wenn man als Concierge auf Zeit beziehungsweise als ›temporärer Inhouse-Mann für alles‹ direkt neben den Gästen wohnte. Er hievte sich aus seinem wunderbaren Schaumbad und griff nach dem Handtuch.

Lambert hatte immer schon ins Hotelgewerbe einsteigen wollen, schon als er mit sieben Jahren zum ersten Mal in der Lobby eines Fünf-Sterne-Hotels eine heiße Schokolade bekommen hatte – aus der Not heraus, weil draußen ein schlimmer Wolkenbruch tobte. Ihm war, als sei er in einem Märchenfilm gelandet: Alles funkelte und strahlte, und die Menschen, die dort arbeiteten, trugen elegante Uniformen und vermittelten ihm und seiner Mutter – die für jedermann ersichtlich nicht in diese Welt gehörten: Seine Mutter war alleinerziehend, seit sein Erzeuger kurz nach der Zeugung die Biege gemacht hatte – das Gefühl, willkommen zu sein. Von da an kannte er nur ein Ziel, nämlich Concierge in genau so einem Luxushotel zu werden.

Mit Ende zwanzig war er am Ziel seiner Träume angelangt. Nach einem Hospitality-Management-Studium hatte er – dank seiner exzellenten Noten, seines Sprachtalents, seiner interkulturellen Kompetenz und seiner sympathischen Art – tatsächlich eine Anstellung in einer der großen Luxusketten bekommen, hatte sich in Berlin, London, Paris und Rom hochgearbeitet und wurde – Tusch! – nach einer exorbitant anspruchsvollen Prüfung sogar schlüsseltragendes Mitglied im Clefs d'Or, der Vereinigung der besten Concierges der Welt. Und vor zwei Monaten hatte man ihm innerhalb der Luxuskette dann die Stelle als Chefconcierge in der Niederlassung in Singapur angeboten. Erstklassige Klientel, phantastische Location. Und das in seinem Alter! Im Grund kam das einem Wunder gleich. Wenn da nur nicht seine Angststörung gewesen wäre …

Viele Menschen litten ja unter Flugangst. Es gab Therapien. Und Tabletten. Aber an Lambert Kaiser scheiterten die Experten. Bei seinem letzten Versuch, ein Flugzeug zu besteigen, hatte er – trotz Sedierung und der Begleitung durch seinen Therapeuten – in der Gangway einen spektakulären Panikanfall bekommen und musste von fünf Sicherheitskräften überwältigt werden. Nach Berlin, London, Paris und Rom hatte er problemlos mit dem Zug fahren können. Er hatte sogar gegoogelt, ob man die 10 ‌265 Kilometer nach Singapur mit dem Zug zurücklegen konnte. Ja, konnte man. Von Berlin nach Moskau, mit der Transsibirischen Eisenbahn weiter nach Peking, von da aus nach Hanoi und über Bangkok nach Kuala Lumpur. Von dort fuhren Busse. Es war verrückt, aber machbar. Wenn man sehr viel Zeit hatte. Doch die hatte er nicht. Der dortige Chefconcierge war nach einem leichten Schlaganfall in den Vorruhestand getreten und musste sofort ersetzt werden.

Kurz hatte Lambert noch überlegt, ob ihn sein alter Schulfreund Michi, der Arzt geworden war, nicht in Vollnarkose sedieren konnte, um ihn anschließend im Rollstuhl an Bord zu schieben, wo er erst wieder aufwachte, wenn der Flieger in Singapur landete. Michi wies das aber kategorisch zurück. Kurzum, Lambert musste das Stellenangebot ablehnen.

Wegen einer komplett idiotischen Angststörung! Wie peinlich war das denn? Sein »Versagen« brachte ihn so dermaßen aus der Spur, dass er kündigte und sich ein halbes Jahr in seinem alten Jugendzimmer unter dem Dach seiner Mutter in Selbstmitleid suhlte.

Bis sie ihm ein Ultimatum stellte. »Lambert, du wirst zum Jahreswechsel dreißig. Reiß dich zusammen!«

»Mama, so eine Angststörung ist nichts, was man mit ein bisschen gutem Willen einfach ablegt. Das ist eine Krankheit«, bockte er. Womit er inhaltlich natürlich recht hatte.

»Dann lass dich heilen.« Seine Mutter blieb hart.

»Mama …«

»Lambert Marcel Kaiser, du hievst jetzt deinen Hintern aus dem Bett und suchst dir einen Job. Und wenn es bei Aldi an der Kasse ist. Verstanden?«

Es dauerte dann noch ein paar Tage, aber irgendwann schob sie ihm die Kleinanzeige entgegen, die sie aus der Zeitung ausgeschnitten hatte.

Er hatte auf diese altmodische Art der Mitarbeitersuche nur geantwortet, um seine Mutter ruhigzustellen. Und war dann auch nur aus ebendiesem Grund zum Vorstellungsgespräch gefahren.

Wie sich herausstellte, gehörte die Pension zwei älteren Schwestern – Konny und Kriemhild –, die unterschiedlicher gar nicht sein konnten: eine klein und drall und fröhlich, die andere groß und hager und äußerlich wie innerlich kantig. Sie hatten die Villa wohl von einer Tante geerbt und vor kurzem aufwändig sanieren lassen. Und weil sie vom Hotelgewerbe keinen blassen Schimmer hatten, suchten sie jemand, der ihnen diesen Schimmer in Ansätzen beibrachte. Für ein exorbitant gutes Gehalt.

Lambert würde dieses Vorstellungsgespräch nie vergessen. Er saß in der Küche, bei Kaffee und Kuchen, auf seinem Schoß ein Nacktkater, auf seiner Schulter ein Graupapagei. Ihm gegenüber die Schwestern und der einzige Angestellte der Pension, ein greiser Gärtner mit einer Sprachstörung. Völlig irre. Es kam sowas von gar nicht in Frage, dass er in diesem Haus arbeiten würde. Nicht für alles Geld der Welt.

Aber nun trocknete er sich hier in aller Herrgottsfrühe in seinem Badezimmer ab, um gleich darauf – mit einem Pömpel bewaffnet – den Duschabfluss in einem der Gästezimmer im oberen Stock der umgebauten Scheune freizumachen. Bestimmt war es gar kein Tier, sondern ein Büschel Haare. Und das ihm, der er beinahe an einem der Hotel-Hotspots dieser Erde Chefconcierge geworden wäre. Dabei trug er die goldenen Schlüssel am Revers, die höchste Auszeichnung für die Crème de la Crème seines Berufszweiges. Das sollte natürlich nicht heißen, dass er sich für Handarbeit zu schade war. Er konnte nur nicht mit Pömpeln. Auch nicht mit Hammer oder Bohrer. Handwerklich war er eine Null. Früher musste er nur das Facility Management anrufen und gut. Die Jungs von der Hausmeisterei hatten oft wilde Geschichten darüber zu erzählen gewusst, was man alles in den verstopften Abflüssen der Gäste fand: Damenbinden, dritte Zähne, einen Döner …

Lambert tupfte sich einen Rest Schaum hinter dem Ohr ab. Trotz allem breitete sich jetzt ein Lächeln über seinem Gesicht aus.

Was für jeden anderen in seiner Lage vermutlich der pure Horror gewesen wäre, war für ihn genau das Richtige. Fliegen überforderte ihn, Pömpeln reizte ihn dagegen als Herausforderung, die er meistern konnte.

Es ließ sich nicht leugnen. Wenn man schon aufgrund seiner Angststörung einen absolut unadäquaten Job annehmen musste, dann war das hier zumindest schräges Abenteuer pur …