Wilhelm Voigt

 

Wie ich Hauptmann von Köpenick wurde

 

Mein Lebensbild

 

 

Impressum

Covergestaltung: Gunter Pirntke

Digitalisierung und Druckvorbereitung: Gunter Pirntke

BROKATBOOK Verlag Gunter Pirntke


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Gunter Pirntke

Altenberger Str. 47

01277 Dresden

 

 

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Meine Jugend und Heimat

Bestraft und vernichtet

Für gefälschte Postanweisungen 12 Jahre Zuchthaus

Lebendig tot

In der »Sonne«

Die »goldene« Freiheit

Im Strom des Lebens

Wehe dem Fröhlichen!

Rückfällig

Rawitsch

Was ist Recht?

Ein gehetztes Wild

Kein Erbarmen!

Wie ich auf die Idee kam

Mein Feldzugsplan

Zur Attacke marsch, marsch!!

Der Bürgermeister von Köpenick

Der Kassensturz

Der Verräter

In Untersuchung

Am Tage des Gerichts

Wieder im Gefängnis

Freiheit! Freiheit!

 

Meine Jugend und Heimat

Ich weiß nicht, wie alt ich war, als ich, wieder infolge einer häuslichen Szene, das elterliche Haus heimlich verließ, um in Königsberg bei einem Verwandten Schutz zu suchen. Es war ein bitterkalter Wintertag, wenn ich nicht irre, 18°C unter Null, als ich durch Schnee und Eis meinen Weg nach Königsberg suchte. Es ist dies eine Strecke von 110 Kilometern. Selbstverständlich konnte ich dieselbe nicht an einem Tage zurücklegen, so mußte ich die gern gewährte Gastfreundschaft unserer ostpreußischen Bauern für die Nachtherbergen in Anspruch nehmen, da ich doch unmöglich im Freien übernachten konnte.

aus: de.wikipedia.org

Das Denkmal des Hauptmanns vor dem Rathaus Köpenick

 

Bis auf den Tod müde und erschöpft, langte ich abends in Königsberg an und suchte auch hier zunächst ein Unterkommen für die Nacht, da es zu spät war, um noch bei meinen Verwandten Zuflucht zu finden. Gerne gewährte mir der Wirt einer sogenannten Ausspannung meine Bitte. Ich legte mich todmüde auf eine Bank des Wirtszimmers, bedeckte mich mit Kleidungsstücken und hoffte, dort die Nacht in Ruhe verbringen zu dürfen. Gar bald schlief ich auch ein.

Es mochte zwischen neun und zehn abends gewesen sein, da wurde ich plötzlich geweckt. Ich stand schlaftrunken auf, rieb mir die Augen und sah vor mir einen Polizeibeamten. Er fragte mich zunächst, warum ich nach Königsberg gekommen, und als ich ihm dies erzählte, hieß er mich mitgehen und führte mich ins Polizeigewahrsam.

Am anderen Morgen wurde ich vor einen Polizeibeamten in Zivil geführt. Wir waren allein in einem Zimmer. Auch er fragte mich zunächst nach den äußeren Umständen, unter welchen ich nach Königsberg gekommen war. Die Scheu, unsere traurigen Familienverhältnisse Fremden gegenüber aufzudecken, hielt mich ab, ihm zu sagen, warum ich mein Elternhaus verlassen hatte und nach Königsberg gekommen war. Und da ich seinen Fragen gegenüber etwas verschlossen blieb, suchte er mich durch Schläge zum Geständnis zu bringen, daß ich unterwegs gebettelt hätte.

Denke man nun, daß dieses fünfzig Jahre zurückliegt, daß wir in Ostpreußen auf den Dörfern die breiteste Gastfreundschaft übten, daß jeder müde Wanderer, der abends eine Hofstätte betrat, nicht als ein Bettler, sondern als ein Gast angesehen wurde, dem man in entgegenkommendster Weise Obdach für die Nacht und Speis und Trank gewährte, ohne viel zu fragen, woher und wohin; ja den man sogar gerne kommen sah, weil er in diese einsamen Gegenden Kunde aus der Ferne brachte – so wird jeder Einsichtige begreifen, daß das Wort »Bettler« da nicht am Platze war!...

Aber selbst nach polizeilichen Begriffen lag hier keine Bettelei vor. Eine Anzeige, daß der Beamte mich in irgendeiner Form beim Betteln erwischt hätte, liegt nicht bei den Akten.

Ich glaube nicht, daß heute noch derartige Mißhandlungen eines Vorgeführten in den Räumen unserer Polizeibehörden vorkommen, ohne gerügt zu werden, aber es ist gewiß tief beschämend für die damaligen Beamten des Polizeipräsidiums Königsbergs, daß eine derartige Mißhandlung eines Knabens in ihren Bureauräumen stattfinden konnte.

Nachdem ich geschlagen worden, machte ich dem Beamten weinend das Zugeständnis, daß ich gebettelt hätte.

Ich erhielt nun infolge meines Geständnisses eine Haftstrafe von achtundvierzig Stunden, die ich denn auch im Polizeigebäude verbringen mußte, und nach vollbrachter Haft erhielt ich eine Zwangsreiseroute, welche mich nach meiner Heimat wies, und zur Bestreitung der Rückreise 25 Pfennige. Hiervon sollte ich mich nun drei Tage (denn solange dauerte doch mindestens meine Rückreise) beköstigen und mein Nachtquartier bezahlen.

Hoffentlich sind derartige Zustände heute nicht mehr möglich. Ich würde ja diesen Vorgang übersehen haben, wenn er nicht – nach fünfzig Jahren – noch einmal zur Sprache gebracht und als Waffe gegen mich gewandt worden wäre.

Ich kehrte in meine Heimat zurück, und welche schrecklichen Szenen ich da erlebte, das will ich hier nicht weiter erörtern. Ich konnte mich nicht wehren, weder mit Worten noch mit der Tat, sondern mußte alles über mich ergehen lassen.

Meine Mutter litt unter diesen Verhältnissen unsäglich.

Meinem Vater gingen auch jetzt die Augen noch nicht auf, und er setzte in mehr oder minder großen Zwischenräumen seine Spielabende fort. Was meine Mutter bei Fleiß und Sparsamkeit erübrigte, fiel auch weiterhin seiner Spielwut zum Opfer.

Wie oben erwähnt, zielte meine Erziehung darauf ab, mich für den Eintritt in die Armee vorzubereiten. Da ich lebhaften Geistes war und mein Sinnen in die Ferne schweifte, so wünschte ich (da Bewohner der Binnenländer das Seeleben nicht kennen), bei der Marine einzutreten.

Als nun später beim Bezirkskommando die einleitenden Schritte dazu gemacht werden sollten, stellte es sich heraus, daß ich eine Vorstrafe von achtundvierzig Stunden hatte – mein gewünschter Eintritt zum Militär also ausgeschlossen war. So blieben die aufgewendete Mühe und die verwendeten Geldmittel zwecklos. Der Groll, den mein Vater über das Scheitern seiner Lieblingspläne gegen mich hegte, führte ihn zu einer immer härteren Behandlung meiner Person. Nach solch einer wüsten Szene stürzte ich halbnackt auf die Straße und betrat das Haus des Nachbarn, zunächst, um dort vorläufig ein Obdach zu suchen. Da die Wohnung augenblicklich leer war, zog ich mir dort hängende Kleider über, um meine Blöße zu bedecken, und flüchtete abermals.

Da mich aber nun Leute das Haus nicht hatten betreten sehen und der Eigentümer der Kleidungsstücke bereits der Polizei von dem Verschwinden derselben Mitteilung gemacht hatte, so wurde ich, als ich wieder nach Hause kam, als Dieb angesehen, vorgeführt und noch einmal bestraft.

Auch in diesem Falle hatte der Richter es nicht für nötig gehalten, sich über das »Warum« aufzuklären, sondern sich lediglich an die nackte Tatsache gehalten.

Der Eigentümer der Kleidungsstücke hatte dieselben ganz unbeschädigt zurückerhalten. Auch die Anzeige wäre unterblieben, wenn er geahnt hätte, daß ich sie mir zugeeignet hatte, da wir gut Freund miteinander waren. Aber die Anzeige war geschehen.

 

Bestraft und vernichtet

Meine Existenz war in ihren Vorbedingungen ruiniert.

Es blieb mir nichts weiter übrig, als die Schule, in der ich bis Obertertia aufgerückt war, zu verlassen und einen anderen Beruf zu ergreifen.

Es sind dort kleinstädtische Verhältnisse. Jedem war es bekannt, was mit mir geschehen. Ich entschloß mich zunächst, das Schuhmacherhandwerk zu erlernen, obgleich es mir klar war, daß dies einer der unglücklichsten Berufe ist, den ein junger Mensch ergreifen kann. Aus frühester Jugend her kannte ich das Elend des Handwerkerstandes, wie es damals in der Tat war und sich leider bis heute noch nicht gebessert hat.

In dieser Zeit hatte ich auch mit Familienmitgliedern, die in Rußland wohnten, Beziehungen angeknüpft. Da sie uns durch die Länge der Zeit entfremdet waren, besuchte ich sie in Rußland und lernte bei dieser Gelegenheit einen jungen russischen Edelmann kennen, der für mein späteres Leben noch von großer Bedeutung wurde. Er war ein Urenkel des Grafen Z., dessen Ahne bei der Ermordung des Kaisers Paul beteiligt war und der deshalb für mich ein großes Interesse hatte, weil mir in ihm zunächst der Sprosse eines Geschlechts entgegentrat, das sich in einem entscheidenden Augenblick an der Geschichte Rußlands in so ausschlaggebender Weise beteiligt hatte. Wir schlossen damals so eine Kinderfreundschaft. Er stellte mir während der Zeit, die ich dort weilte, seine Reitpferde zur Verfügung und beschäftigte sich mit meiner Person in der Weise, daß er mich auf meinen Ritten begleitete. So verlebte ich dort eine reizende Zeit in angenehmer Gesellschaft.

Als später bei den polnischen Aufständen die Einwohner der anliegenden russischen Gouvernements gegen die Ausschreitungen der Insurgenten bei uns Schutz suchten, traf ich unter den vielen Flüchtlingen, die den preußischen Boden und auch Tilsit betraten, zu meinem größten Erstaunen den jungen Grafen Z.

Sein Vater diente damals bei einem Kavallerieregiment und hatte seine Frau allein auf seinen Gütern gelassen. Weil aber die Lage der Gutsfamilien immer bedrohlicher wurde, so hatten sie es vorgezogen, statt nach Petersburg den Weg nach Tilsit zu nehmen zum vorläufigen Aufenthalte. War nun auch große Trauer in der Familie, so berührte uns beide das doch weniger. Wir erneuerten unsere frühere Bekanntschaft, und ich konnte dem Grafen Gelegenheit geben, seiner Reitlust Genüge zu tun.

Während meiner Jugend- und Schulzeit hatte ich mich, durch die Umstände begünstigt, zum tüchtigen Reiter ausgebildet, der schulgerecht zugerittene Pferde reiten und bewegen konnte, ohne sie zu verderben. Da ich unter den Unteroffizieren, die die Pferde der Offiziere zu reiten hatten, sehr intime Freunde besaß, so war ich ihnen beim Bewegen der Offizierspferde behilflich, was sie sehr gerne annahmen, da sie selbst dadurch manche freie Stunde erübrigten. Auch der junge Graf Z. nahm an diesem Vergnügen teil.

Da uns zufälligerweise einmal der Regimentskommandeur, Oberstleutnant von Bernhardi, auf seinem Pferde begegnet und ich ihm bei dieser Gelegenheit den Grafen Z. vorstellte, war er keineswegs ungehalten darüber, sondern stellte dem jungen Grafen Z. selbst eines seiner Pferde zur Verfügung, das er bei seinem unfreiwilligen Aufenthalte nach Belieben benutzen durfte.

In anderer Beziehung wirkte die Revolution in Polen und Russisch-Litauen auch sehr anregend auf mich.

Zunächst hatte ich Gelegenheit, das Treiben der Insurgenten und russischen Soldaten aus nächster Nähe zu beobachten. Solange die Grenze von unseren Mannschaften noch nicht militärisch besetzt war, hatten wir ja oft Scharmützel zwischen Insurgenten und Russen auf preußischem Boden mitangesehen. Und als zur Grenzsperre das Militär herangezogen wurde, gewährte es uns ein inniges Behagen, zu sehen, wie die Schmuggler unsere Grenzwachen überlisteten und Waffen und Munition aus den Lagern unserer Kaufleute den Polen zuführten. Wenn wir auch nicht direkt Polen waren, so konnten wir uns doch nicht verhehlen, daß die Zustände in Rußland so auf die Spitze getrieben waren, daß notwendigerweise einmal ein Gewitter losbrechen mußte. Es ist ganz naturgemäß, daß man immer zuerst die Partei der Schwächeren ergreift.

Etwas abgekühlt wurde unsere Teilnahme allerdings, als die ursprünglich vom Patriotismus beseelten Führer allmählich zu reinen Bandenhäuptlingen herabsanken. So mancher Edelmann, der seinem Vaterlande zur Zierde gereicht hätte, ist an diesem Treiben zugrunde gegangen.

Die Ausschreitungen der Insurgenten forderten aber wiederum die Rache der russischen Behörden heraus, und ich bin mehrere Male Zeuge gewesen, in welch schrecklicher Weise russische Justiz an den Insurgenten geübt wurde, wenn sie den Russen in die Hände fielen.

Kaum war der Aufruhr in Litauen gedämpft, da flammte schon der Krieg mit Schleswig-Holstein am Horizonte auf. Dieser fand – wie überall auch in meiner Heimat – die freudigste Zustimmung.

Ich erinnere mich noch lebhaft, mit welchem Jubel die Artillerie bei uns empfangen wurde, als sie unsere Stadt passierte, um die Werke in Memel mit ihren Geschützen zu besetzen. Damals sah ich zum ersten Male Gußstahlgeschütze neben Bronzegeschützen.

In dem Augenblick habe ich noch nicht daran gedacht, daß diese Geschütze mit allem, was drum und dran hängt, für mich noch ein Unterhaltungs- und Belehrungsmaterial für viele schwere und traurige Stunden abgeben würden.

Ich suchte mich über alles, soweit mein kindliches Verständnis es zuließ, zu informieren und den Ursachen der Dinge nachzuforschen, die sich vor meinem Geiste und vor meinen Augen abspielten.

Es ist unnötig, Einzelheiten aus diesen Jahren meines Lebens wiederzugeben, da sie weniger bestimmend auf meinen späteren Lebenswandel einwirkten.

Das, was in der Jugend gesät war, trug zunächst noch keine Früchte. Es schlummerte noch im Keime.

Meine Lehrzeit war indessen beendet. Meines Bleibens konnte in Tilsit nicht sein, da mein Geist mich in die Ferne trieb.

So zog ich denn, begleitet von den Tränen und Segenswünschen meiner guten Mutter, begleitet von meiner kleinen elfjährigen Schwester, zu den Toren der Stadt hinaus, mein weiteres Glück in der Ferne zu suchen, weil die Heimat es mir nicht bieten konnte.

War ich nun auch reif dafür?

 

Für gefälschte Postanweisungen 12 Jahre Zuchthaus

aus: de.wikipedia.org

Es ist gewiß ein schwerer Schritt, wenn man aufs Ungewisse hinaus seinen Weg in die Fremde nimmt. Ich hatte die Hoffnung mit mir genommen, in der Ferne mein Glück zu suchen und zu finden, so setzte ich meinen Weg über Königsberg nach Danzig fort.

Königsberg, in bezug auf meine Rückerinnerungen, war mir nicht sympathisch. Danzig kannte ich noch nicht. Übrigens wollte ich die See sehen und setzte deshalb meinen Weg von Danzig nach Stettin über die Ostsee fort.

In Neufahrwasser traten mir zum ersten Male die großen Positionsgeschütze von Gußstahl in ihrer stattlichen Würde in greifbarer Nähe entgegen. Der Dampfer, mit dem ich die Überfahrt machte, hatte zwei Geschütze für die Befestigungen von Swinemünde geladen, und ich benutzte die Mußestunden während der Fahrt, mich mit dem Mechanismus der Geschütze vertraut zu machen.

Mein Reiseziel war Berlin. Ich fuhr mit der Bahn und traf, soweit ich mich erinnere, eines Sonnabends abends in der Hauptstadt ein.

Meine dort wohnende Tante hatte nach dem Tode ihres ersten Mannes wiederum eine Ehe geschlossen, und ihr Ehemann, mein Onkel, hatte sein ursprüngliches Schneiderhandwerk an den Nagel gehängt und sich mit einem gewissen Scharfblick für die Bedürfnisse der Zeit der Photographie zugewendet. Nachdem er in Tilsit seine Vorstudien beendet, war er anfangs der sechziger Jahre nach Berlin übergesiedelt. Ich nehme an, daß er in seinem Fache geschickt war, denn kurze Zeit, nachdem er in Berlin ein Geschäft eröffnet hatte, legte er auch in Köln am Rhein ein Zweiggeschäft an. Meine Cousine, seine Stieftochter, übernahm die Verwaltung des Geschäfts in Köln und meine Tante das in Berlin. Mein Onkel ließ die Sachen in Berlin arbeiten, die in Köln in Auftrag gegeben worden waren. Nebenbei hatte er auch eine Kunsthandlung aufgemacht.

Da nun meine Mutter und ihre Schwester in einem gesunden geschwisterlichen Verhältnis standen, so konnte ich mit Recht erwarten, daß sie mir die Unterstützung, deren ich in meiner bedrängten Lage benötigt war, auch zuteil werden lassen würde. Es war also keineswegs ein Sprung ins Dunkle, auch nicht die Lust am Großstadtleben, das ich ja damals noch nicht kannte, die mich nach Berlin geführt hatte.