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Tollkirschen der Nacht

Ein Buch von 20 Autoren

 

 

Mit einem Vorwort

von Wolfgang Hohlbein

 

 

 

 

 

 

 

Herausgeber

Stefan Geymayer

Veronika Serwotka

 

 

 

 

 

Impressum:

Cover: Karsten Sturm-Chichili Agency

Foto: fotolia.de

© 110th / Chichili Agency 2014

EPUB ISBN 978-3-95865-282-8

MOBI ISBN 978-3-95865-283-5

 

Urheberrechtshinweis:

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Autors oder der beteiligten Agentur „Chichili Agency“ reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

 

 

Konzept

Wer sagt eigentlich, dass nicht das Leben selbst unser größter Verfolger ist? Und dass Alpträume da sind, um uns vorsichtiger zu machen und uns vor der brutalen Realität zu warnen?

 

Diese Anthologie wurde von Jugendlichen für Jugendliche ab 13 Jahren als interaktive Geschichtensammlung konzipiert. Ins Leben gerufen wurde dieses Projekt aus dem Anliegen heraus, dem Leser die verschiedenen Seiten der Alpträume nahe zu legen – und ihn zum aktiven „Gedanken machen“ herauszufordern.

 

Nicht nur die negative Assoziation des Wortes findet in den einzelnen Geschichten Beachtung, nein, auch beispielsweise die Unermüdlichkeit der Liebe findet ihren festen Platz in der beinahe unendlichen Weite der Thematik. Die Liebe die einen im Alptraum unterstützt sich mit aller Kraft gegen das Unheimliche zu wehren.

 

Interessant sind jedoch nicht nur die einzelnen Aspekte der Alpträume, sondern vor allem auch die Tatsache, dass es sich bei den Autoren nicht um Veteranen in dieser Richtung handelt, sondern um Mädchen und Jungen im Schul- und Studienalter, von denen man eventuell nicht erwartet hätte, dass sie sich im Bereich der Literatur so engagieren.

 

Überraschend ist in diesem Zusammenhang sicher auch die Individualität der verschiedenen Beiträge, die tiefe Einblicke in die Seelen der Schreiber/innen gewähren. Gefühlvoll, dynamisch, spannend, traurig, nachdenklich – jeder für sich hat sich eingehend mit dem Feld der Alpträume beschäftigt, um die gesammelten Werke in einem großen Ganzen zu vereinen.

 

Kurzinhalt

Der Sternenwächter Orion begeht einen schwerwiegenden Fehler und wird vom Gericht einer Welt hinter den Wolken zu nichts geringerem als dem Leben selbst verdammt. In ‚Zersplittert‘ bekämpft sich ein Geschwisterpaar aufgrund verschiedener Ansichten bis zum Tod. Eine Sirene zieht den unglücklichen Geigenspieler in ihre allumfassende Freiheit. In ‚Bändigen‘ wird die Unbarmherzigkeit eines frostigen Winters gezeigt, sowie die Gefahr der Leichtsinnigkeit. Schließlich wird der Leser auf eine Zeitreise zu den Rittern der Tafelrunde mitgenommen, während der sich Protagonist Lars klar wird, dass Wut ein tödlicher Begleiter ist. ‚Winterhauch‘ zeugt von gesellschaftlichem Makel, dessen Aggression einen unschuldigen, verstoßenen Jungen das Leben kosten. Dass Alpträume allerdings auch bekämpft werden, lehrt uns ‚Stiller Freund‘, in dem sich ein Teddybär allen Gefahren der Nacht stellt, um seine Besitzen gegen jedes Übel zu beschützen.

 

Dies sind nur einige wenige Beispiele für die Vielfalt der einzelnen Geschichten und soll dazu ermuntern, tiefer in die Materie einzutauchen.

Die Autoren

Die Schreibergruppe besteht aus ausnahmslos jugendlichen Autoren und Autorinnen. Ob Schule, Lehre oder Ausbildung, niemand konnte bisher ausgiebig Erfahrung in der Welt der Erwachsenen sammeln, wodurch die Geschichten jedoch nicht an Authentizität verlieren. Im Gegenteil, die höchst interessante Sichtweise der Einzelnen gleicht einer Offenlegung der eigenen Gedanken in Bezug auf das Leben, in Bezug auf die Gefahren, die es birgt.

 

Christina Holzinger, *1994, Bayreuth, Abijahrgang 2013. Sie wurde bereits in der Anthologie „Die griechischen Götter und ihre Macken“ veröffentlicht.

 

Christina Schmidtke, *1994, Lüneburg, befindet sich derzeit in der Übergangsphase von Schule zu Beruf. Mit 8 Jahren fing sie an zu schreiben, was sich mit der Zeit zur Passion entwickelte.

 

Eva Kallrath, *1998, Flintsbach, zurzeit geht sie noch zur Schule. Auf die Idee zu Schreiben kam sie weil sie bei der Deutschlehrerin nachsitzen und eine Geschichte schreiben musste.

 

Franziska Sammet, *1997, Flintsbach am Inn, im Augenblick geht sie zur Schule. Zum Schreiben haben sie andere Bücher und Filme angeregt, durch die sie ihre Lust zum Schreiben entdeckte.

 

Gwendolin Ott, *1996 in München geboren, in dessen Umgebung sie auch mit zwei Halbgeschwistern aufgewachsen ist. Sie geht derzeit noch zur Schule und schreibt in ihrer Freizeit Kurzgeschichten.

 

Hanna Karthaus, *1995, zurzeit mitten im Abitur. Durch Bücher und Träumereien zum Schreiben gekommen, hofft sie einmal genauso Menschen verzaubern zu können wie ihre Lieblingsautoren.

 

Luke Pajman, *1991, wohnt in Graz, schreibt Science Fiction (Also falls dies ein SF-Verleger liest, bitte bei einem der Herausgeber melden…). Eine Leidenschaft von ihm ist der Tierschutz und er ist angehender Polizist.

 

Johanna Gruber, *1994, Graz, maturiert im Sommer 2013. Sie las und schrieb seit ihrer Kindheit und veröffentlichte mit 15 Jahren ihren ersten Roman "Schicksal - Was das Leben bereit hält".

 

Julia Fuchs, *1994, Wörgl, arbeitet zurzeit auf einer Farm in Schweden. Zu Schreiben bedeutet für sie eine eigene Wirklichkeit zu erschaffen und sich darin wohl zu fühlen.

 

Katharina Herrmann, *1987, Berlin, Arbeitet zur Zeit als Verkäuferin im Einzelhandel und möchte mit ihren Geschichten den Menschen gern Freude schenken.

 

Katharina Sammet, *1996, Flintsbach am Inn, zurzeit besucht sie noch die Schule. Sie liebt es in ihrer Freizeit Bücher zu lesen, sich Geschichten auszudenken und selbst welche zu schreiben.

 

Katharina Stein, *1994, Regensburg, macht 2013 das Abitur. Schreibt, weil sie hören und gehört werden will und dadurch immer wieder etwas Neues lernt. Deshalb ist schreiben ihr größter Traum.

 

Mareike S.A. Link, *1997, Asperg, zurzeit besucht sie die Schule. Um Abenteuer zu erleben, greift sie zu Büchern und denkt sich selbe gerne Geschichten aus, die sie dann oft aufschreibt.

 

Marie-Theres Scheibe,*1995, Magdeburg, macht gerade ihr Abitur und widmet sich neben dem Schreiben der Kunst. Das Schreiben ist für sie ein Abtauchen, wie das zeichnen und illustrieren.

 

Nadjen Schneider, *1995, wohnt in der Nähe von Mainz und befindet sich im Endspurt zum Abitur 2014. Neben dem Schreiben liebt sie es zu tanzen und sich mit Freunden zu treffen.

 

Natascha Honegger, *1992, Bülach, Studentin Jus. Neben kleineren Beiträgen in einer Anthologie und einer Festschrift erschien 2012 ihr erster Fantasy-Roman „Die Amulettmagier“.

 

Nicole Wöhrer, *1994, Linz, ausgelernte Goldschmiedin. Neben dem Schreiben begeistert sie sich für die Fotografie und genießt in den warmen Monaten die Natur beim Wandern.

 

Sandor Lembäcker, *1992, Graz, moderiert u. a. im Freien Radio Graz. Schreiben bedeutet für ihn, Gefühle in Geschichten zu vermitteln, die die Grenzen des Erlebbaren überschreiten.

 

Sonja Bochmann, *1990, Göttingen, Studentin der sozialen Arbeit. Lesen und schreiben sind eine große Leidenschaft für sie. Neben ihrem Studium näht sie, liest und schreibt sie und läuft als Nonne auf Mittelaltermärkten herum.

 

Stefan Geymayer, *1994, Graz, ist angehender Student. Zum Schreiben kam er aus Not: Es war Sonntag und am Abend musste ein Geschenk für seine Schwester her…

 

Veronika Serwotka, *1992, Schotten, macht eine Ausbildung zur MTAF an der Uniklinik Frankfurt. Möchte eines Tages als Drehbuchautorin arbeiten und sammelt bereits Inspiration und Erfahrung durch Romane und Kurzgeschichten. Filmen und Fotografieren gehört dabei ebenso dazu, wie Musik und Malerei.

 

Wolfgang Hohlbein (Vorwort)

„21 Autoren unter einen Hut zu bringen - ist das Löwenbändiger-Arbeit, schiere Begeisterung, der Aufbruch zu gemeinsamen Zielen? Ich weiß es nicht. Am Anfang meiner Karriere habe ich mich auch regelmäßig mit anderen Autoren getroffen und ausgetauscht, und hin und wieder sind in Zusammenarbeit mit Autoren wie Karl Ulrich Burgdorf, Frank Rehfeld und Dieter Winkler gemeinsame Projekte daraus entstanden. Aber 19 Autoren, die gemeinsam beschließen, eine Anthologie zu schreiben und das dann auch noch zügig umsetzen: Hut ab! Ich wünsche viel Erfolg bei dem gemeinsamen Unterfangen wie auch für jeden einzelnen literarischen Lebensweg.“ – Wolfgang Hohlbein –

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Dieses Buch widmen wir dem Nachwuchs.

Haltet durch!

Prolog

 

Wer sagt eigentlich, dass nicht das Leben selbst unser größter Verfolger ist? Und dass Alpträume da sind, um uns vorsichtiger zu machen und uns vor der brutalen Realität zu warnen?

 

Sich über Alpträume „Gedanken machen“. Dieser Aufgabe haben sich jugendliche Nachwuchsautoren gestellt. Gefühlvoll, dynamisch, spannend, traurig, nachdenklich – sie gewähren einen tiefen Einblick in ihre Seelen. Überraschend die Individualität der Beiträge, die mit großem Engagement das Unheimliche dieser Thematik zu Tage fördern.

 

1.----

Diese erste Kurzgeschichte erscheint bewusst ohne Titel. Man soll sich nach der Lektüre Gedanken darüber machen, welcher dazu passen könnte. Im Dank am Ende findet sich der Originaltitel – doch die Herausgeber raten dazu, nicht zu schummeln.

 

Ich bin wie ein Schwamm.

Die grausamen Bilder spülen über mich hinweg. Dunkelheit. Schatten. Tanzende Fratzen. Zähflüssiger Schleim, der in den Ecken klebt – dort, wo kein Licht ihn erreicht.

Ich will zittern, bewege mich aber nicht.

Es ist warm. Eine wohlige, mit Einhörnern bestickte Decke liegt über mir. An meiner Seite ein kleiner Heizkörper. Ein dünner Arm umschlingt mich, und winzige Finger liegen auf meinem Bauch. Es duftet so gut.

Ich sehe den schwachen Laternenschein durch das Fenster brechen, spüre, wie er sich beinahe vollständig auflöst und mit letzter Kraft tiefe Rillen in die Deckenbalken schnitzt.

Leiser, ruhiger Atem einer kleinen Lunge raschelt an meinem rechten Ohr, kitzelt mich und spendet mir den Trost, für den ich eigentlich verantwortlich sein sollte.

Und wieder der schwarze Mantel, der über mich hereinbricht. Er legt sich wie flüssiges Pech auf mich, drückt mich nieder und versetzt mich in tiefes Entsetzen. Ein Blitz aus Angst zuckt durch meine nachgiebigen Glieder. Bilder treten aus der Dunkelheit hervor, leuchten auf, wie Lettern aus Neonröhren.

Eine Hand wächst aus den Schatten heraus. Die Finger sind verknöchert und zu bedrohlichen Krallen gekrümmt. Ein heftiger Schlag lässt mich erschaudern. Körperlicher Schmerz brennt auf, ebenso wie die Hitze der Scham. Meine gläsernen Augen bleiben trocken und weit aufgerissen, obwohl ich weinen will.

Das Gefühl ist so echt – ist das … Leben?

In Nächten wie diesen verfluche ich mein Schicksal, meine Aufgabe. Den Grund, warum ich existiere. Es ist aufregend und traurig zugleich. Es erfüllt meine ausgestopfte Brust mit Sehnsucht und Stolz. So düstere Träume, so hasserfüllte, bösartige Grimassen – ich fürchte mich, ich fühle, spüre …

Wie muss erst die Erinnerung an etwas Schönes sein? Ich glaube, ich würde an der Freude ersticken!

Etwas dergleichen darf ich mir nur vorstellen, denn solche Träume sind nicht für mich bestimmt. Ich halte nur die düsteren Welten ab. Wie ein gutmütiger Schwamm, der alles Böse in sich aufsaugt, damit das Mädchen ruhig und ohne Furcht schlafen kann.

Ich bin ihr unbeweglicher Beschützer, der Tröster, der bereits so viele Kindertränen in sich aufgenommen hat. Mein Fell will sich bei all den vereitelten Albträumen, all der abgefangenen Angst sträuben. Stattdessen hüpft mein gutmütiges Bärenherz wie wild vor Aufregung, als mich die Schlafende fest an sich drückt. In solchen Momenten würde ich Schnurren wie ein Kater – wenn ich könnte.

 

2.Das Lied der Sirene

Ich hörte die Töne, und sie drangen tief in mein Herz. Die Finger meiner einen Hand huschten flink über die Saiten, während meine andere den Bogen führte. Ein wundervoller Klang entstand und erfüllte die kalte Nacht um mich herum. Es war einsam auf dem Meer, besonders um diese Zeit. Doch dies war gleichzeitig die einzige Zeit, in der ich dort in meinem kleinen Fischerboot wirklich für mich war.

Die Magie meiner Geige tanzte durch die Luft. Weit am Horizont konnte ich die Lichter meiner Heimatstadt erkennen. Während ich spielte, ließ ich meine Gedanken mit den Tönen über das Meer eilen. Doch sie fanden kein Ziel.

Dort in der Stadt war niemand, der meine Musik hören konnte. Es gab keinen, für den sie bestimmt war. Ich war alleine mit meiner Geige und dem Boot. Wellen plätscherten gegen die Bordwand, und die letzten Töne verhallten über dem Wasser.

Es wurde Zeit, die Netze einzuholen und nach Hause zu fahren.

Nach Hause.

Ich hatte kein Zuhause. Ich wohnte nur in einem schäbigen kleinen Zimmer, niemand erwartete mich. Niemand hieß mich willkommen. Ich war allein. Ein einsamer junger Mann, der noch nicht zurück wollte – in die stickige Atmosphäre des Dorfes.

Lieber war ich hier, nur mit den Wellen und der Musik.

Ich setzte die Geige erneut an und begann zu spielen.

Und so eilten die Töne von Neuem über das Meer. Eine traurige Melodie. Ein Lied voller Einsamkeit und Trauer. Sie spiegelten wieder, wie es in mir aussah, tief in meiner Seele.

Ich zögerte das Ende hinaus. Ließ die letzten Töne vibrieren und schließlich verklingen.

Obwohl ich die Geige sinken ließ und aufhörte zu spielen, hörte die Melodie nicht auf. Stattdessen strömte ein Lied zu mir herüber. Nicht gespielt, gesungen - und es war so vollkommen, dass ich es nicht glauben konnte. Jeder Ton war reinste Perfektion. Ich konnte jeden einzelnen tief in meinem Herz und in meinem Geist fühlen. Frieden erfüllte mich.

Ich schloss die Augen und lauschte.

In meinem Kopf entstanden Bilder zu dieser geheimnisvollen Musik. Bilder, die mich mit großer Sehnsucht erfüllten. Ein wunderschönes Mädchen mit blondem wallendem Haar stand auf einer blühenden Blumenwiese und lächelte mir zu.

Sie trug ein weißes Gewand, das ihren Körper umspielte und im leichten Wind wehte. Ihre Haut war rosig und weich, als sie mich an den Händen ergriff und mich an sich zog.

Ihre blauen Augen waren so dunkel und tief wie der Nachthimmel. Als ich in sie sah, erschien es mir, als würde ich ihr in die Seele schauen und ihr den gleichen Blick in die meine gewähren. Das Lied erstarb und ich sah auf.

Vor Überraschung durchzuckte es mich, brachte das Boot zum Schwanken und schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Das Mädchen aus meiner Vorstellung blickte mich an. Es hatte sich aus dem Wasser halb über die Reling meines kleinen Bootes erhoben und starrte neckisch in meine Richtung.

Ich hob die Hand, doch sie ließ sich schnell zurück in das Wasser gleiten. Mit einem leisen Platschen verschwand sie und als ich über die Reling sah, konnte ich nur noch einen kurzen Blick auf einen schillernden Fischschwanz erhaschen. Bestürzt sank ich zurück auf meinen Platz.

Das Lied war verklungen, doch die Sehnsucht blieb.

Was war das gewesen? Ein Mädchen mit einem Fischschwanz?

Ich besann mich und holte meine Netze ein. Sie waren leer. Ich suchte lange nach ihr, aber fand nichts. Das Mädchen ging mir nicht aus dem Kopf. Sie strahlte ein Geheimnis aus und ich wollte es ergründen. Nein, ich musste es ergründen.

Dieses Mädchen zog mich magisch an.

Wer war sie?

Was war sie?

 

Ich hörte mich im Hafen nach Gerüchten um. Von Wesen, die „Sirenen“ genannt wurden, erzählten die alten Seemänner, und von ihren Liedern, die Männer auf See erst betörten und dann mit unter Wasser nahmen. Für immer, weil die armen Menschen schmerzvoll ertranken.

Doch dieses Mädchen hatte mich verzaubert. Ich wollte sie wiedersehen.

Am Abend fuhr ich erneut aufs Meer hinaus.

Ich saß im Boot und lauschte. Würde ich den Gesang wieder hören? Doch außer dem Plätschern der Wellen konnte ich nichts vernehmen.

Die Warnungen der Männer hatte ich vernommen und ich hatte auch über sie nachgedacht. So sehr ich mich vor den Geschichten fürchtete, ich wollte dieses Mädchen treffen. Ich wollte in ihre Augen blicken und mich darin verlieren.

War sie wirklich eine Sirene? Eine der wunderschönen Frauen mit Fischschwanz, die Männer mit Magie zu sich holten?

Vielleicht hatten mir meine Träumereien auch einfach nur einen Streich gespielt. Waren so real geworden, dass ich…

Wurde ich etwa schon verrückt?

Trauer erfüllte mein Herz, und ich nahm meine Geige zur Hand.

Musik ist nicht Klang, sondern viel mehr Gefühl. Soviel Leidenschaft, Trauer, Liebe und Sehnsucht steckte in jedem einzelnen Ton.

So viele Gefühle, dass ich glaubte, mein Herz müsste bersten.

Schließlich konnte ich nicht mehr, das Lied erstarb und Stille senkte sich über das Wasser. Gequält drückte ich den Bogen an meine Stirn. Würde ich sie jemals wiedersehen?

Ein Klang füllte meine Ohren und mein Herz. Erst leise, fast unhörbar. Dann immer lauter. Der Gesang der Sirene.

Sofort verschwammen meine Sinne. Ich konnte nur noch eines: Zuhören.

Meine Augen schlossen sich, wieder war ich auf der Blumenwiese.

Und dort stand das Mädchen, das mich unwiederbringlich verzauberte.

Ihr Haar bewegte sich im leichten warmen Wind. Ihr Mund formte ein wunderschönes Lächeln und machte mich beinahe wahnsinnig. Ich ging zu ihr hin und nahm ihre Hand. Ich war durch und durch erfüllt nach Liebe. Mit jeder Faser meines Körpers wünschte ich mir, sie in die Arme zu nehmen, fest an mich zu drücken und niemals wieder loszulassen. Sie sollte mein sein – auf ewig!

Ihre Stimme erstarb. Sie sah mich an, ihr Blick so unergründlich und stechend, dass es mich schauerte.

Ihre Haut war blasser als in meiner Vision, doch alles andere wirkte wie eine Kopie meiner Erinnerung.

„Mir gefällt dein Spiel.“

Ihre Stimme klang wie die eines jungen Mädchens, hatte aber einen Nachhall wie das tiefe Vibrieren der Kirchenglocken, der mir den Atem nahm.

Ich räusperte mich und erwiderte kratzig: „Und mir gefällt dein Gesang.“

Sie lachte kurz und stützte ihren Kopf am Bootsrand ab.

„Das tut jeder.“

Es herrschte eine kurze Pause, in der nur die Wellen zu hören waren, und ich überlegte, was ich sagen sollte.

Sie war so wunderschön und strahlte doch auch etwas Mysteriöses und Gefährliches aus.

„Wer bist du“, fragte ich zögernd.

Sie zog nachdenklich die Stirn in Falten. Selbst das sah bezaubernd aus.

„Du wolltest eher fragen, was ich bin. Du weißt die Antwort bereits.“ Sie tauchte ab und legte im nächsten Augenblick ihre Hände von hinten um meine Schultern. „Du brauchst keine Angst vor mir zu haben. Glaube nicht an die Geschichten der Menschen. Ich habe gehört, wie du spielst. Dein Talent ist einzigartig. Niemals zuvor hat es ein Mann geschafft, mich derart in seinen Bann zu ziehen. Deine Musik ist viel mehr als die bloße Aneinanderreihung wohlklingender Töne. Sie ist Ausdruck deiner Gefühle.“ Sie beugte sich vor, sodass ihre Lippen sein Ohr berührten. Er schluckte, als er ihren heißen Atem spürte.

„Du sehnst dich nach Zweisamkeit. Ich habe es in deinem Spiel fühlen können. Teile den Schmerz, mein Geliebter, teile ihn mit mir.“

Wie sehr sehnte ich mich nach ihr. Nach ihren Berührungen und ihrer Liebe. Doch sie war eine Sirene. Sie verführte Männer und nahm sie mit in ihr Reich am Grunde des Meeres.

„Deine Musik hat mich verzaubert.“ Ihre Worte waren wie Seide und sein letzter Widerstand schmolz dahin.

„Ich weiß nicht, ob dies die richtige Wahl ist, doch wie sicher kann der Mensch wohl sein?“

Sie lächelte, er konnte es an seiner Wange spüren. Als ihre Hände ihren Griff um seine Schultern verstärkten, überkam ihn dennoch Angst.

„Warte! Was ist mit all denen geschehen, die euch bereits begegnet sind? Von denen nie jemand zurückkehrte?“

„Niemand?“, sie kicherte. „Woher stammen wohl die Legenden über uns?“ Sie legte einen Finger unter sein Kinn, sodass er sie ansehen musste.

„Glaube nicht den Geschichten. Niemand wollte jemals von uns zurückkehren. Am Grunde des Meeres existiert eine Welt, die so viel schöner ist als die eure. Dort herrscht Frieden. Keine Sehnsucht, keine vergeblichen Hoffnungen. Nur ein friedliches Leben voller Liebe. Komm mit mir.“

Sie klang so verführerisch und die Vorstellung, mit ihr für immer und ewig leben zu können, war traumhaft.

„Aber ich kann unter Wasser nicht atmen“, flüsterte ich. Ein letztes Aufbegehren. Ich spürte, dass ich ihr längst verfallen war.

„Das musst du nicht. Ich gebe dir meine Luft.“

Sie zog mich, und ihre roten Lippen berührten die meinen.

Der Kuss nahm mir den Atem. Ihr heißer Mund verschlang meinen, sie ließ sich langsam rückwärts in das Wasser gleiten und zog mich mit sich.

Das Wasser umspülte mich und meine vollgesogene Kleidung wurde schwer. Der Sog des Meeres überstieg all meine Kräfte.

Ihre Lippen drückten sich immer noch fest an meine, und sie ließ die Luft aus ihren Lungen in meine strömen.

Die Kälte des Wassers lähmte meine Glieder. Auf einmal war es so still. Eine friedliche Stille – doch in Wirklichkeit gefährlicher als aller Lärm der Welt. Und Dunkelheit. So vollkommen, dass ich daran zweifelte, ob dies, was gerade geschah, Wirklichkeit sein konnte.

Es kostete mich einige Überwindung, aber schon bald gewöhnte ich mich an den Druck ihrer Lippen auf meinen und diese neuartige Art des Atmens. Von mir aus könnte sie mich bis in alle Ewigkeit halten.

Irgendwann sah ich von unten ein Licht heraufleuchten. Es zeichnete die Konturen meiner Geliebten nach - ihren schlanken Körper und ihr Haar, das wie ein Fächer um ihren Kopf ausgebreitet war.

Meine Augen brannten vom Salz im Wasser, doch es war mir egal. Ich wollte sie sehen. Wollte die Frau sehen und bewundern, während sie mich mitnahm.

Ab der Taille verwandelte sich ihre weiche, menschliche Haut in einen schuppigen, glatten, bunt schillernden Fischschwanz. Doch sie machte mir keine Angst mehr. Wir drehten uns in leichten Spiralen nach unten und ein tiefer Friede durchdrang mich.

Plötzlich löste sich ihr Mund von meinen und ich sah sie erschrocken an.

Aller Sauerstoff war verbraucht, sie hielt mich fest umschlungen. Ihr Gesicht zeigte keinerlei Grausamkeit. Nur pure Schönheit.

Krampfhaft hielt ich meinen Mund geschlossen. Meine Lunge schrie schon bald nach Luft und kleine Blasen stiegen aus meiner Nase auf.

Ich wollte atmen - wollte Luft holen.

„Atme. Atme das Wasser, und wir werden für immer zusammen sein“, flüsterte mir die Sirene zu.

Sie begann zu singen. Unter Wasser hörte sich ihr Lied noch viel wunderbarer an. Es drang in kleinen Wellen zu mir und übernahm meine Sinne. Die Sehnsucht brandete in mir auf. Ich wollte sie. Wollte mit ihr zusammen sein. Im Leben oder im Tod.

Ich öffnete den Mund und atmete das Meer.

 

Was ist dir in dieser Geschichte aufgefallen?