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Mario Gaida

God Pattern





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Das Grab auf der Straße

Er verließ das Büro durch den Vordereingang. Ein paar Meter die Straße entlang, dann kurz an der Fußgängerampel auf Grün warten.

Zuerst fiel ihm das Leuchten auf dem schmalen Rasenstreifen zwischen Asphalt und S-Bahn-Schienen auf. Dann der Strauß Blumen daneben. Sieh an. Nach vielen Wochen ohne Gesteck und Kerzen schien sich zum Jahrestag des Unglücks jemand die Mühe gemacht zu haben, die kleine Ecke neben dem Übergang in einen Schrein zu verwandeln.

Doch was war das?

Ein massives Steinkreuz, in seiner quadratischen Grundform geradezu dicklich wirkend, stand behütend neben Blumen und Kerze. Das war brandneu. Wie aufwendig und beeindruckend!

Nein, eher bedrückend. Eigentlich gab es keinen Grund mehr, ständig an die Frau zu denken, die vor einem Jahr von zwei Stadtbahnen erfasst und im Verlauf von zwanzig Metern Mitschleifens sowohl Arm als auch Leben verloren hatte.

Ihm stand noch gut das Bild der Szenerie vor Augen, als die Rettungskräfte damit begannen, die vielen Quadratmeter Folie aufzudecken, um anschließend die Körperteile abzutransportieren.

Bisher bestand seine Vorstellung von der jungen Frau aus dem abgetrennten Arm und einem Stück weißen Fleisches, von dem er bis heute nicht wusste, ob es zu Rücken oder Vorderseite gehörte.

Nun stand da ein kleines Kreuz, das ihn irgendwie an eine Skulptur von Niki de Saint Phalle erinnerte, und auf diesem Nana-Kreuz war ein Foto mit Daten befestigt. Dunkle Haare, unbekannter Name, womöglich ein rundliches Gesicht.

Mehr wollte er nicht sehen. Zum einen war er auf dem Weg zum Bus und im Begriff, offenbar gefährliche Eisenbahnschienen zu überqueren. Zum anderen wollte er nicht gaffen.

Da werden sich die Fahrer der Stadtbahnen aber freuen. Nun konnten sie jederzeit das Gesicht der Person sehen, die sie unter Tonnen von Stahl zerrissen hatten. Ein Detail der Zeitungsberichte damals war die notwendige psychologische Betreuung der armen Teufel gewesen.

Er überlegte kurz, ob er sich im Namen der Fahrer bei den Stadtwerken beschweren und die Entfernung des Kreuzes einfordern sollte. Immerhin war das hier kein Friedhof. Wie wäre es, wenn alle Opfer von Autounfällen Denkmäler an den Straßen bekämen? Das würde Ausflügen eine völlig neue morbide Seite geben. Die deutsche Friedhofsroute. Fünftausend Tote in fünf Tagen.

Er schüttelte den Sarkasmus ab und konzentrierte sich darauf, nicht selbst ein Opfer des Feierabendverkehrs zu werden. Seine Lieblingsband trällerte aus den Ohrstöpseln den Walk Of Life heraus.

Er ließ die Gleise hinter sich und kehrte dem Ort des Geschehens den Rücken zu.

Doch konnte er nicht aufhören, über den Grabstein nachzudenken.