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Nr. 8

SIR HENRY,
DER DRITTE
IM BUND

 

Lebendfrische Fracht

für Brighton

 

von

JOHN BALL

IMPRESSUM

 

DR. MORTON

erscheint im

ERBER+LUTHER VERLAG, Schweiz.

Konvertierung: DigitalART, Bergheim.

Alle Rechte vorbehalten.

Nachdruck, auch auszugsweise,

gewerbsmäßige Verbreitung in Lesezirkeln,

Verleih, Vervielfältigung/Reproduktion sowie

Speichern auf digitalen Medien

zum Zwecke der Veräußerung

sind nicht gestattet.

DR. MORTON ist auch als

Printausgabe erhältlich!

 

Bisher erschienen:

 

Band 01: Blaues Blut

Band 02: Das ist Ihr Sarg, Sir!

Band 03: Bad in HCL

Band 04: Biedermann und Rauschgifthändler

Band 05: Mr. Gregory kann nicht sterben

Band 06: Dr. Morton empfiehlt Selbstmord

Band 07: Morton’s totale Operation

 

 

 

In Vorbereitung:

 

Band 09: Ein Gangster killt den andern

Band 10: Sein erster Mord

Band 11: Gehirnoperation

Band 12: Ein Selbstmord kommt selten allein

Dr. Glenn Morton, Mitglied des Königlichen Kollegiums der Chirurgen, hatte die Chefvisite in seiner Privatklinik in Brighton beendet.

Aber er hatte noch einen Patienten zu besuchen.

Der lag allerdings nicht in einem der ebenso komfortabel wie praktisch eingerichteten Zimmer der Klinik, sondern etliche Meter tiefer in einem fensterlosen Raum, der wie die ganze unterirdische Anlage durch eine großzügig bemessene Klimaanlage versorgt wurde.

Auf dem Weg nach unten, den außer Dr. Morton nur noch William Grimsby, sein engster Mitarbeiter, kannte, dachte Dr. Morton an das bevorstehende Treffen mit Sir Henry, dem siebenten Earl of Saffron. Das ließ ihn lächeln. Sir Henry und er hatten einen Bootsausflug geplant, und Dr. Morton freute sich darauf, wie er sich lange auf nichts mehr gefreut hatte. Völlig unbeschwert und ohne alle Vorbehalte.

Grimsby erwartete ihn unten.

»Sie wollen nach Harroghby sehen, Sir?«

»Ja. Wie geht’s ihm?«

»Er erholt sich trotz allem ziemlich gut.«

Dr. Morton nickte. Er hob die linke Hand, in der er mehrere Zeitungen hielt.

»Wenn er das hier gelesen hat, wird er sich nicht sehr gut fühlen.« Grimsby grinste.

»Nein, Sir. Ganz bestimmt nicht.«

Sie betraten eins der kleinen Zimmer, von denen es hier unten eine ganze Reihe gab und die auch als Gefängniszellen dienten.

Mr. Harroghby lag still auf seinem Bett. Sein Blick war an die Decke gerichtet. Er tat so, als bemerkte er die beiden Männer gar nicht. Seine Stirn war kummervoll gerunzelt. Er hatte beide Hände über der Decke auf seinen Leib gelegt, der nicht mehr den gleichen Umfang hatte wie noch vor einigen Tagen; Dr. Morton hatte den notwendigen Eingriff dazu benutzt, Mr. Harroghby auch von einem Teil seines Bauchfetts zu befreien.

Morton nahm wortlos Platz, griff nach Harroghbys Hand und prüfte seinen Puls. Er setzte die Untersuchung schweigend fort.

»Ich bin recht zufrieden mit Ihnen, Harroghby«, sagte er beiläufig. »Irgendwelche Beschwerden?«

»Ich will hier raus«, knurrte der Patient. »Sie können mich nicht hier festhalten! Man wird Ihnen auf die Spur kommen! Wenn meine Leute …«

»Auf Ihre Leute sollten Sie nicht mehr hoffen«, sagte Dr. Morton. »Ich habe Ihnen ein paar Zeitungen mitgebracht. Sie finden die Berichte meist gleich auf der ersten Seite.«

Mr. Harroghbys Hände zitterten, als er nach den Zeitungen griff. Er war jetzt besonders blass um die Nase, und auch seine Lippen bebten. Er wusste zwar nicht, was in den Zeitungen stand, aber es war bestimmt etwas Entsetzliches.

Als er die ersten Fotos sah, begannen seine Hände so stark zu zittern, dass er die Zeitung für einige Momente sinken ließ. Sein Blick traf sich mit dem des Chirurgen.

»Mein Haus?«, fragte er flüsternd.

»Ja, Ihr Haus.«

»Oder was davon übrig ist«, berichtigte Grimsby fröhlich.

»Das waren Sie!«, sagte Harroghby leise, und obwohl seine Stimme völlig kraftlos war, klang sie anklagend.

»Das waren wir«, bestätigte Dr. Morton. »Mr. Grimsby und ich.«

»Warum …«

»Das können Sie sich doch denken. Ihre Leute wären unbequem geworden. Wir mussten sie ausschalten. Wir hielten es für am einfachsten und effektivsten, eine Art Bombe auf Ihr Haus zu werfen, als wir sicher waren, dass Ihre Leute sich alle dort aufhielten.«

»Bis auf einen«, meldete sich Grimsby. »Den habe ich erstechen müssen, als er vor der Klinik herumlungerte.«

»Man wird Sie erwischen«, murmelte Harroghby fast tonlos. »Sie kommen nicht ungestraft davon! Man kann doch nicht mitten in London eine Bombe auf ein Haus werfen und Menschen umbringen …«

»Nein? Aber man kann Hunderte von Menschen verkaufen, nicht wahr? Man kann sein Geld mit dem Elend und der Unfreiheit anderer Menschen verdienen. Sie haben seit vielen Jahren Ihre schmutzigen Hände im Menschenhandel gehabt! Sie hatten auch jetzt wieder ein Geschäft vorbereitet und mussten es verschieben, weil etwas dazwischen gekommen war. Jetzt ist es nicht nur verschoben, Mr. Harroghby. Jetzt ist es geplatzt. Und Sie werden nie wieder mit Menschen handeln.«

»Ebenso wenig wie mit Grundstücken«, sagte Grimsby trocken.

Mr. Harroghby sammelte seine Kräfte. Schließlich gelang es ihm, die Zeitungsberichte zu lesen. Sie widersprachen sich teilweise. Manche berichteten von acht Leichen, andere von zehn. Auch über die Ursachen des Unglücks bestand keine Klarheit.

Die Leute von Scotland Yard hatten die Reste eines Sprengsatzes gefunden. Wer ihn gelegt hatte und warum und wie: Darüber wusste man nichts, erging sich in mehr oder weniger phantasievollen Spekulationen.

Der skandalverliebte Daily Mirror hatte verschiedene Leute aufgetan, die von einem Hubschrauber berichteten, der nachts und bei dichtem Nebel über die Themse geflogen war und knüpfte daran die Theorie, der Sprengsatz sei von diesem Hubschrauber abgeworfen worden.

Der Daily Mirror berichtete allerdings auch, dass diese Theorie bei Scotland Yard auf wenig Gegenliebe stieß.

»Übrigens: Es war tatsächlich so«, sagte Dr. Morton, als Mr. Harroghby den Mirror las. »Grimsby und ich sind mit dem Hubschrauber zum Cheyne Walk geflogen und haben den Sprengsatz über Ihrem Haus abgeworfen.«

»War eine verdammt heiße Kiste«, murmelte Grimsby. »Ich hatte Bedenken, wie der Vogel auf den Explosionsdruck reagiert. Und dann Nebel – so dicht, dass man ihn greifen konnte.«

»Wären Sie doch dabei draufgegangen!«, keuchte Mr. Harroghby hasserfüllt.

»Und dann?«, fragte Grimsby höflich. »Dann wären Sie hier unten elend krepiert, Mr. Harroghby. Niemand hätte Sie gepflegt. Und wenn Sie nicht an mangelnder Betreuung Ihrer Wunde gestorben wären, dann wären Sie verhungert oder verdurstet.«

»Was haben Sie vor mit mir?«, fragte Harroghby nach einer Pause, an Dr. Morton gewandt.

Der zuckte die Schultern.

»Sie werden mir noch auf irgendeine Weise nützlich sein, Mr. Harroghby. Für die Welt da draußen sind Sie jedenfalls verloren.«

»Für die Welt sind Sie tot«, sagte Grimsby vergnügt. »Blättern Sie die Zeitungen ruhig durch. Einige Blätter berichten auch von der Einäscherung des Mr. William Harroghby im Krematorium von Brighton.« Er lachte. »Spätestens morgen werden Blätter wie der Daily Mirror herausgefunden haben, haben, dass es Ihr Haus war, das in die Luft geflogen ist. Ich bin gespannt, was sie ihren Lesern dann Abenteuerliches auftischen.«

Dr. Morton hatte die Türklinke schon in der Hand.

»Da fällt mir noch etwas ein, Mr. Harroghby«, sagte er. »Sie haben sich gar nicht nach Ihrer Frau erkundigt.« Harroghby verriet nicht die Spur von Interesse.

»Sie ist tot, nehme ich an.«

»Nein, sie ist nicht tot. Sie hat mir leid getan. Ich habe sie zu einem Kollegen nach Torquay geschickt. Dort kann sie sich erholen und endlich leben – nachdem Sie sie nicht mehr gefangen halten.«

Harroghby schwieg. Sein Gesichtsausdruck verriet jedoch, wie sehr es ihm missfiel, dass seine Frau sich derzeit in einer sehr viel angenehmeren Situation befand als er selbst.

»Ich werde mich auch weiterhin um Ihre Witwe kümmern«, fuhr Dr. Morton fort. »Ich werde dafür sorgen, dass sie in den Genuss des ihr zustehenden Erbes kommt. Da ist zunächst einmal die Versicherungssumme. Auch das Haus war versichert, nicht wahr? Zweifellos wird die Versicherung zahlen müssen.«

Harroghby schwieg und schien zu versteinern.

»Aber Sie haben ja bestimmt auch noch andere Vermögenswerte, Mr. Harroghby. In der Schweiz, vermute ich.«

»Da kommt niemand ran!«, zischte Harroghby. »Weder Sie noch meine Frau!«

Grimsby trat dicht ans Bett und grinste den Verstorbenen mitleidig an.

»Sie werden sich noch freuen, wenn Sie uns verraten dürfen, wo Sie Ihr Geld untergebracht haben«, sagte er kalt.

 

*

 

»So, das war’s wohl«, sagte Sir Henry, der siebente Earl of Saffron und rieb sich die Hände mit der Zufriedenheit eines Dockarbeiters, der seinen schweren Arbeitstag hinter sich hat und sich auf ein frisches Porter freut.

»Ja, wir haben alles verstaut«, stimmte Dr. Morton bei, während er sich noch einmal umsah und sich vergewisserte, dass tatsächlich alles an Bord der Drago war, was sie für ihre Fahrt entlang der englischen Südküste brauchten.

»Start in einer Stunde, Glenn?«

»Okay, Henry.«

»Was halten Sie davon, wenn wir eben noch mal nach Brighton reinfahren und einen kühlen Schluck nehmen? Die Pubs haben seit fünf Minuten geöffnet.«

»Den kühlen Schluck können wir auch drüben in Lannix Manor nehmen.«

»Ist nicht dasselbe«, widersprach Sir Henry. »Außerdem fürchte ich, dass noch irgendein verdammter Anruf aus Ihrer Klinik kommt und Sie aufhält.«

»Also gut«, sagte Dr. Morton lachend. »Setzen wir uns in den Wagen und fahren hinüber nach Brighton. Ich muss lange zurückdenken. Glaube, es ist mehr als ein Jahr her, dass ich in einem Brightoner Pub an der Theke gestanden habe.«

»Ganz schlecht«, sagte Sir Henry mit leichtem Spott. »Sie werden den Kontakt zum Volk verlieren. Man muss ihm auf Maul und Finger schauen, sonst versteht man die Welt bald nicht mehr.« Er setzte nach einer Pause hinzu: »Falls einem das heutzutage überhaupt noch gelingt.«

Sie tranken jeder zwei Pints und kehrten dann zur Drago zurück, die im Bootshaus von Lannix Manor lag; in einem Bootshaus, das durch einen Stichkanal mit dem Meer verbunden war.

Als sie in die Auffahrt des Landsitzes einbogen, erkannte Dr. Morton Grimsby, der vor dem Hauptportal stand. Er bremste ab und brachte den Wagen zum Stehen.

Grimsby grüßte höflich. Jetzt, da er nicht mit seinem Chef allein war, verriet sein Benehmen nicht die geringste Spur von Vertraulichkeit. »Gibt’s noch was, Grimsby?«,

»Nein, Sir, alles in Ordnung.«

»Gott sei Dank!«, sagte Sir Henry, der schon den Atem angehalten und sich auf eine unliebsame Überraschung gefasst gemacht hatte.

»Ich wollte nur fragen, ob ich mit hinüber zum Bootshaus fahren und den Wagen anschließend zur Garage bringen soll, Sir.«

»Gute Idee, Grimsby. Steigen Sie ein.«

»Vielleicht kann ich Ihnen sonst noch behilflich sein, Sir?«

»Danke, Grimsby. Wir haben die Drago schon reisefertig gemacht.«

Als sie hielten und ausgestiegen waren, blieben Dr. Morton und Grimsby wie zufällig ein paar Schritte zurück. Sie wechselten leise einige Worte. Grimsby nickte und versicherte:

»Ich werde auf alles achten, Sir.«

»Im Notfall können wir uns ja miteinander in Verbindung setzen, Grimsby.«

»Selbstverständlich, Sir. Auf der abgesprochenen Frequenz. Ich werde jeweils um zwölf Uhr mittags und um sechs Uhr abends im Funkraum sein, falls Sie mir etwas mitzuteilen wünschen.«

»Wird kaum der Fall sein«, sagte Dr. Morton. »Wir gehen ja auf eine Vergnügungsfahrt.«

Man könne nie wissen, meinte Grimsby skeptisch.

 

*

 

Die Drago war ein aufsehenerregendes Schiff. Ihr gut 15 Yards langer Rumpf glänzte mattschwarz. Schon wenn sie nur halbe Fahrt machte – das waren dann etwa 30 Knoten – hob er sich halb aus dem Wasser, und der spitze Bug ragte herausfordernd in die Luft.

Das Cockpit erinnerte an ein Flugzeug, und tatsächlich war die Drago über die normale Ausstattung hinaus mit einer Menge Technik vollgestopft, von der Sir Henry nicht viel verstand (und die ihn vermutlich gerade deshalb so faszinierte).

Dr. Morton erläuterte ihm, während sie ziemlich dicht unter der Küste westwärts fuhren, einige der zusätzlichen Einrichtungen, mit denen die Drago bei jedem Wetter zu manövrieren war, mit denen man aber auch jedes andere Fahrzeug nahzeitig und präzis orten konnte.

»Eine Neuentwicklung auf dem Gebiet des Radars«, sagte er. »Wenn Sie Einzelheiten wissen wollen, müssen Sie sich gelegentlich mit Grimsby unterhalten. Das ist sein Ressort. Er bleibt Ihnen bestimmt keine Antwort schuldig.«

»Überhaupt ein tüchtiger Mann«, sagte Sir Henry.

»Der beste, den ich mir denken kann.«

»Sie nannten ihn einmal Chauffeur, Pilot und Mädchen für alles, Glenn.«

»Ja«, sagte Morton einsilbig.

Aber Sir Henry ließ das Thema noch nicht fallen: »Mädchen für alles – das bedeutet sehr viel, nicht wahr?«

Dr. Morton sah ihn an, lächelte und bestätigte:

»In der Tat, Henry. Es bedeutet eine ganze Menge. Ohne Grimsby könnte ich nicht so leben, wie ich’s tue.«

Sir Henry nickte. Er wusste, dass es keinen Zweck gehabt hätte, jetzt weiter in Dr. Morton zu dringen. Er fand es überhaupt erstaunlich, wieviel Vertrauen der ihm entgegenbrachte. So lange kannten sie sich schließlich noch nicht, und ihre eben erst beginnende Freundschaft hatte noch keinerlei Belastungsprobe zu bestehen gehabt.

Sir Henry war sehr stolz auf das Vertrauen, das Glenn Morton ihm gegenüber zeigte. Er segnete den Tag, an dem er den Unfall gehabt und Dr. Morton ihn zusammengeflickt hatte, kurz bevor es zu spät und er verblutet gewesen wäre.

»Ich bekomme Hunger, Glenn. Ist’s Ihnen recht, wenn ich in die Galley steige und uns einen Imbiss zubereite?«

Dr. Morton lachte.

»Ich habe bestimmt nichts dagegen, dass Sie den Küchendienst übernehmen, Henry.«

Nachdem der Earl of Saffron unter Deck verschwunden war, brachte Glenn Morton die beiden je 450 PS leistenden Benzinmotoren auf Touren. Sie röhrten. Das Vibrieren wurde ein wenig stärker, der Bug hob sich weiter aus dem Wasser, und die Nadel des Geschwindigkeitsmessers kletterte ziemlich rasch über die 40 und auf die 50 zu.

Henrys Kopf tauchte über dem Niedergang auf.

»Habe ich Sie erschreckt?«, fragte Morton lächelnd.

»Keineswegs. Aber wenn Sie ein Wettrennen veranstalten, will ich dabei sein!«