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VAMPIR GOTHIC

Band 31

 

Gestohlenes
Leben

 

von

M. S. ARMSTRONG

VAMPIR GOTHIC

Herausgeber: ROMANTRUHE-Buchversand.

Cover: Romantruhe.

Satz und Konvertierung:

ROMANTRUHE-BUCHVERSAND.

© 2018 Romantruhe.

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Prolog und Rückschau

 

Vier Opyri. Die vier Unterhändler zwischen den menschlichen Inquisitoren und dem Volk aus der Dunkelsphäre. Unvereinbare Charaktere, Tod in den Augen auf beiden Seiten. Und doch waren diese vier das Bollwerk gegen eine Invasion von Vampiren auf der Erde. Die Inquisitoren von DARK hatten die vier mit Zauber an den Durchgang zur Dunkelsphäre gebunden, aber so konnte es nicht auf Dauer bleiben. Letztendlich galt Alena Labastida jedoch als tragendes Element, auch wenn sie es nicht wusste. Sie konnte das Tor verschließen oder öffnen.

Diese vier lebten noch! Ihre Körper waren ausgemergelt. Sie hingen dürr und knochig in den metallenen Fesseln wie Gefangene in den Kerkern des Mittelalters. An den schmutzigen Leibern trugen sie nichts weiter als zerschlissene Hosen oder deren Überreste, die gerade einmal ihre Scham bedeckten. Wären sie Menschen gewesen, hätten sie vermutlich meterlange Bärte und ebenso langes Haar getragen. Doch ihre Gesichter waren wie glatt rasiert. Ihre Blicke wirkten abgestumpft und leer. Die Augäpfel lagen so tief in den Höhlen, dass sie erst bei genauerem Hinsehen sichtbar waren. Doch in der Höhle leuchtete es violett, als ginge von den Vampiren an den Säulen ein überirdisches Leuchten aus.

Drei von ihnen sahen zu Boden und schienen vor sich hinzudösen. Sie hingen in den Fesseln, die Handgelenke waren wund gescheuert, doch wie es in der Natur der Opyri lag, heilten sie immer wieder von selbst, bis das schartige Metall sie erneut aufscheuerte. Der vierte blickte erschöpft auf. Blut verkrustete seine Lippen, ein Zeichen dafür, dass man ihn vor Kurzem erst gefüttert hatte. In einer Nebenhöhle wurden Schweine gehalten, um die Versorgung der Opyri zu gewährleisten.

Es war Alena Labastidas Aufgabe, die vier von ihrem Leiden zu erlösen, doch die Inquisitoren von DARK wollten sie daran hindern. Und auch der Weg in die Höhle mit den vier Säulen der Macht, den sie nach langem Suchen gefunden hatte, war nicht ohne Gefahren. Hinter der nächsten Biegung gab es einen Felsvorsprung. Alena nutzte ihn als Deckung und drückte sich mit dem Rücken dagegen. Sie tastete sich mit den Händen vorwärts und lugte um die Ecke. Fast hätte sie erschrocken aufgeschrien, als sie den Ursprung des violetten Leuchtens erkannte. Sie zog den Kopf zurück, presste sich fester gegen den Felsen. Langsam kam sie hinter dem Vorsprung hervor und hielt diesmal dem Anblick stand.

Sie hatte ihr Ziel erreicht.

Die Vier Säulen der Macht türmten sich direkt vor ihr in der Grotte auf. Ganz anders, als sie es sich je hätte erträumen lassen.

Am gegenüberliegenden Ende der Grotte schossen vier grell-violette Röhren aus einer gleichfarbigen Brühe im Boden in die Höhe bis hinauf zur Felsendecke. Vier Röhren aus gleißendem Licht. Vier Lichtsäulen. Doch das allein war nicht das Groteske, sondern vielmehr das, was Alena innerhalb der Röhren erkannte.

Gesichter. Und Hände. Sie sah vier Gestalten. Vier Köpfe, die sich in den Säulen befanden.

Macht!, dachte Alena. Jetzt ergibt alles einen Sinn.

Sie trat aus der Deckung hervor und ging in die Grotte hinein. Die Köpfe gerieten in Bewegung. Sie drehten sich, richteten ihre Augen direkt auf sie. Alena musste sie nicht lange ansehen, um zu erkennen, wer sie waren.

»Opyri.«

Sie musterte die Köpfe der Reihe nach. In dem hellen Licht waren ihre Gesichtszüge kaum zu erkennen, sondern wirkten fast so schemenhaft wie die Erscheinungen der Inquisitoren.

»Du bist endlich gekommen.«

Die Stimme! Das war die Stimme, die sie hierher gelotst hatte. Nun wusste Alena, warum sie ihr so seltsam vertraut vorgekommen war. Sie kannte sie. Und ihren Besitzer. Zögerlich einen Fuß vor den anderen setzend, näherte sie sich den Säulen. Sie blickte den Kopf an, zu dem die Stimme gehörte, sah ihm direkt in die leuchtenden Augen und versuchte Wesenszüge wiederzuerkennen. Die Nase. Seine Lippen. Trotz des hellen Violetts, das seine Miene umspielte und ihn förmlich strahlen ließ, wusste sie, dass er es war.

Ivo Dehollander, ein Freund, ein Geliebter aus vergangen Tagen – und Lord Gedeon Gifford. In kurzen Worten berichteten sie, wie DARK uralte Magie angewandt hatte, um die vier Opyri an die Säulen zu fesseln und das Tor in die Dunkelsphäre zu binden. Alena muss sie töten, um sie zu befreien und die Tore wieder zu öffnen. Oder doch nicht? Warum war sie hier? Um ein verschlossenes Tor noch einmal zu verschließen?

Und dann war plötzlich eine weitere Gestalt anwesend: Jannica Forsmann. Priesterin der Idun, eine der wenigen, die wirklich mit der Göttin gesprochen hatten. Sie wollte sich anstelle von Alena opfern? Sie wollte das Tor in die Dunkelsphäre für immer schließen? Oder wollte sie das Tor mit den Opyri vernichten? Auf diese Frage gab es vorerst keine Antwort.

Alena sah den Schatten, der aus dem Gang stürmte, viel zu spät. Sie war so sehr in Gedanken und noch geschockt von der Begegnung mit Dehollander und Gedeon, dass sie nicht reagieren konnte. Zuerst dachte sie, einer der Schemen raste an ihr vorbei, doch als sie letztendlich herumwirbelte und die Gestalt sah, die sich direkt auf die Säulen warf, prallte sie entsetzt zurück.

»Jannica?«

Das blonde Mädchen rannte genau auf die Säule links außen zu. Selbst wenn Alena im Vollbesitz ihrer Fähigkeiten gewesen wäre, hätte sie es unmöglich erreichen können, ehe das Unvermeidbare geschah. Jannica sprang vom Boden ab und hechtete in die Lichtröhre. Ihre Hände berührten den Kopf. Gleißen umfing sie. Für einen Moment war Alena geblendet, als die gesamte Säule in einer Lichtflut zu explodieren schien. Strahlendes Violett ergoss sich über die Grotte. Alena stürmte auf Jannica zu, doch sie war nicht schnell genug. Die junge Norwegerin federte ansatzlos vom Boden und sprang in die zweite Säule. Das Licht flutete durch die Grotte, und als hätte es für einen Moment Substanz angenommen, packte es Alena und schleuderte sie mitten im Sprung in eine andere Richtung, weit fort von Jannica und der Säule, in der Gedeon gefangen gehalten wurde.

Jannica stand auf und streckte die Hände vor. Sie drehte sich im Kreis und versuchte, blind, wie sie nun war, die letzte Säule zu orten. »Wo steckst du?«

»Hier!«, rief Gedeon. Im selben Moment begann auch seine Röhre zu flackern. Er schrie noch etwas, das Alena nicht verstand, dann verschwand sein Gesicht und mit ihm das violette Leuchten.

Finsternis umfing die beiden Frauen. Auch der lodernde Bodensatz war verschwunden. Zwei der Säulen waren endgültig zerstört, der Durchgang in die Dunkelsphäre war damit unmöglich geworden.

Die Vier Säulen der Macht waren für alle Vampire eine heilige Institution, ihre Zerstörung ein Schock, von dem sie sich nicht erholten. Doch waren sie wirklich zerstört? Jannica Forsmann hatte zwei der Säulen durch ihr Eingreifen vernichtet, aber die beiden anderen Säulen waren nur erloschen, nicht zerstört. In ihnen lebten zwei Opyri, die sich selbst nicht mehr kannten, die aber immer noch lebten. Ihr Geist irrte, nach menschlichem Ermessen jahrelang, durch die Dunkelheit und den Wahnsinn, bis sie sich zusammenfanden, um sich gegenseitig Halt zu geben. Aus diesen beiden entwickelte sich etwas vollkommen Unerwartetes.

Niemand hatte gewusst, wer die beiden Opyri waren, die daran gebannt wurden. Raphael Archambault und Irene de Beer hatten nie eine herausragende Rolle gespielt – bis zu dem Zeitpunkt, da Jannica den uralten Zauberbann brach. Es dauerte lange, bis sich die beiden verlorenen Seelen fanden und zu etwas Neuem formten: Eine verlorene Seele, die ihren Platz und ihre Bestimmung in der Welt suchte, keinen Begriff von Gut und Böse hatte, und auch nicht wusste, dass sie durch die Verschmelzung der eigenen Seelen viel Unheil anrichtete.

Der Seelenschmelzer war wie ein Kind auf der Suche nach seiner verlorenen Mutter. Nichtsdestotrotz gab es in seinem Umfeld Tod und Verderben.

1

 

Raphael Archambault und Irene de Beer; so lauteten einstmals die Namen der beiden Opyri, die an die Säulen der Macht gekettet waren. Als Jannica mit Gewalt und großer Opferbereitschaft die Fesseln sprengte, verloren sich die Seelen der beiden zunächst im Nichts. Es mochte Zufall sein, dass die Seelen von Ivo Dehollander und Gedeon wie ein fest gemauerter Leuchtturm in diesem Nichts einen festen Bezugspunkt bildeten. Die beiden waren endgültig verloren, das war das letzte Lebenszeichen, mit dem sie Raphael und Irene eine Möglichkeit zurück boten, ohne jedoch einen wirklichen Ausweg aufzuzeigen. Dann war da noch eine geistige Stimme, ein Zusammenschluss vieler Seelen, die immer wieder nach ihm/ihr riefen. Auch sie boten in der absoluten Leere einen Halt, zeigten einen Weg zurück. Raphael wollte sich nicht bedanken, er wollte zu dieser Stimme, die aus Tausenden bestand, um sich mit ihr zu vereinigen. Sie war wie eine Mutter, die nach ihrem Kind rief und festen Halt in der Verlorenheit gab.

Die beiden Opyri irrten dennoch zunächst umher und trafen dann durch einen Gedanken am »Leuchtturm« ein. Ein Sog bildete sich, der sie in den endgültigen Tod zerren wollte, aber der Lebenswille war in den beiden immer noch ungeheuer stark. Die Seelen umschlangen sich, wirbelten umeinander und befanden sich längst in Auflösung. Es war buchstäblich im letzten Augenblick, dass ein letzter Funken von Lebenswillen beide dazu brachte, diese Zwischenwelt zu verlassen, wobei sie auf geistige Weise eng aneinander gekettet blieben. Die Säulen der Macht hatten sie viele Jahre gefangen gehalten, und nun besaßen die beiden seltsame Fähigkeiten, die einen sofortigen Tod unmöglich machten.

Wo waren die Körper? Sie mussten dorthin zurück! Genau das war jedoch unmöglich, die Körper waren vernichtet. Aber irgendwo mussten sie hin. Aus dieser Not heraus, befähigt mit ungewöhnlichem Gaben, vereinigten sich die Seelen zu einer einzigen und drangen in die normale Realität ein, zurück auf die Erde.

Dabei ging jedoch einiges schief. Verschwunden waren die Erinnerungen an das frühere Leben, das gerade in der letzten Zeit vor dem Tod aus Qual und Leid bestanden hatte. Verschwunden waren auch die Namen; es gab nur noch Instinkte, die sich an das Leben klammerten – und den unstillbaren Wunsch, etwas zu suchen. Die Stimme zu suchen, die den Tod verhindert hatte.

Als Schemen glitten sie für lange Zeit durch die Welt der Menschen, wahrgenommen – falls überhaupt – höchstens als Nebelfetzen oder Schatten. Ruhelos schwebte diese neue Unität durch die Welt, bis sie ein Impuls von unglaublicher Stärke traf. Die beiden Bestandteile der einzelnen Seelen wurden von diesem Impuls angezogen, obwohl er von einem weit entfernten Ort kam. Es war nicht der Ruf aus dem Nichts, es waren sehr reale Gedanken, die das Wesen anlockten.

Es bedurfte nur eines Gedankens, und schon war es in der Nähe, um dort erstaunt festzustellen, dass es sich um zwei Personen handelte, deren jeder in vollkommenem Einklang zu dem jeweils anderen standen. Hier war die große bedingungslose Liebe; bereit, das eigene Leben zu opfern, um den anderen zu schützen oder zu retten. Diese beiden Menschen waren genau das, was die verschmolzenen Seelen brauchten, damit bot sich die Möglichkeit, an einen neuen Körper zu gelangen. Nicht zwei Körper, nein, nur einen.

Eine Weile beobachtete die Unität das Paar und stellte fest, dass es im Unfrieden mit der Umwelt lebte. Offenbar gab es Schwierigkeiten mit den Familien, sodass die Liebe der beiden keine Chance auf Erfüllung hatte. Die beiden hatten daher beschlossen, davonzulaufen, um ihr eigenes Leben zu leben. Sie brauchten keine Familie, solange sie die eigene Liebe besaßen.

Besser konnte es gar nicht laufen, niemand würde die beiden wiederfinden. In der Nacht, als das Paar in einer kleinen Hütte schlief, trennten sich die Seelen von Raphael und Irene, blieben jedoch durch ein mentales Band verbunden, das keinesfalls zerreißen durfte. Im Schlaf war es einfach, den Geist eines Menschen zu übernehmen. Raphael und Irene füllten den jeweiligen Körper mit allen Sinnen aus. Noch einmal würde sich eine solche Möglichkeit kaum bieten. Das perfekte Paar!

Der Seelenschmelzer benutzte geistige Gaben, von denen er vorher nichts gewusst hatte. Die Körper, die eng umschlungen auf einem alten Bettgestell lagen, veränderten sich; die Konturen zerflossen, verwischten sich, liefen ineinander – aus den zwei Körpern wurde einer, der keine Ähnlichkeit mit den beiden von zuvor aufwies, doch von jedem etwas besaß. Die Gesichtszüge wurden androgyn, männlich und weiblich gleichermaßen. Für den Körper galt das ebenfalls, schmal, schon fast überschlank, aber ohne eindeutige geschlechtsspezifische Merkmale. Die Seelen der beiden Übernommenen wehrten sich nur kurz, sie wurden von der mächtigen Kraft der verschlungenen Opyri-Seelen förmlich überrannt, den gewaltigen Kräften hatten sie nichts entgegenzusetzen. So wurden nicht nur die beiden Körper, sondern auch die Seelen einer großen Liebe ausgelöscht.

In den neuen Körper kehrten erste eigene Erinnerungen zurück, aber sie waren unvollständig und bruchstückhaft. Aber ein neues Wesen war entstanden, das nach Belieben das Geschlecht änderte und in einer männlich beherrschten Welt der männlichen Seite den Vorzug gab. Er entdeckte die Welt auf eine Weise neu, wie es kaum jemand geglaubt hätte. Nach einiger Überlegung kam er zu der Ansicht, dass er einen Namen brauchte, wenn er sich weiterhin in dieser Welt bewegen wollte.

»Ich bin Raphael de Beer«, stellte er schließlich fest und verschmolz auch die beiden ursprünglichen Namen zu einem Neuen.

 

*

 

Der Mittlere Westen der USA ist ein weites Areal, in dem es zahlreiche Landstriche fast ohne menschliche Behausungen gibt. Hierher hatte sich Raphael mit seinem neuen Körper zunächst zurückgezogen, um sich zu stärken und mit der neuen Welt vertraut zu machen, die sich stark von der früheren unterschied, in der er gelebt hatte. Hier fiel es kaum auf, wenn in einem einzeln stehenden Haus niemand mehr lebte. Jedenfalls für einige Tage.

Raphael brauchte Blut zum Überleben und er brauchte die Emotionen, die seine Opfer beim Sterben erlebten. Er trank sie förmlich, sowie er das früher als blutsaugender Vampir auch schon gemacht hatte. Der neu erschaffene Körper schien voll und ganz auf die Bedürfnisse des Vampirs eingestellt zu sein, bis auf eine Besonderheit. Raphael brauchte für jede Nahrungsaufnahme grundsätzlich zwei Seelen. Ruhelos blieb er nie lange an einem Ort, etwas trieb ihn immer weiter voran; er suchte – ohne zu wissen, wonach, oder wo er das Gesuchte finden sollte. Die Stimmen in seinem Innern trieben ihn weiter vorwärts, er wollte endlich DAS finden, was ihn vor dem endgültigen Tod bewahrt und wie eine Mutter Halt und Liebe gegeben hatte.

Entgegen seiner Annahme, dass das Verschwinden der Menschen nicht so schnell auffallen würde, musste er feststellen, dass die Leute viel zu schnell aufmerksam wurden, wenn sich jemand nicht mehr meldete. Das mochte zum einen daran liegen, dass Raphael nicht mit nur einem Opfer zufrieden war. So, wie er aus zwei Wesen entstanden war, so benötigte er stets zwei Opfer, deren Seelen er verschmelzen musste, um seinen Appetit zu stillen. Zum anderen waren die Menschen heutzutage durch vielfältige Methoden der Kommunikation miteinander vernetzt. Das Verschwinden einer Person fiel bereits nach kurzer Zeit auf, gleich zwei Vermisste sorgten für eine regelrechte Hexenjagd, wie Raphael fand. Er war wohl zu lange in den Säulen der Macht gefangen gewesen und hatte die Entwicklung der Zivilisation nicht verfolgen können. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der moderne Kommunikationsmittel überall eingesetzt wurden, überraschte ihn. Vieles hatte er durch die Übernahme des Liebespaares in der Theorie erfahren, und doch waren Theorie und Praxis zweierlei.

Dementsprechend dauerte es nicht lange, bis die Behörden auf einen Mörder aufmerksam wurden, der generell zwei Opfer hinterließ. Wie eine Spur aus Schwarzen Löchern zog sich eine Linie von spurlos verschwundenen Menschen oder ausgesaugten Leichen den Weg entlang, den Raphael genommen hatte. Dabei war die Linie nicht gerade, was dazu führte, dass es zwar in verschiedenen amerikanischen Bundesstaaten Meldungen und Fahndungsaufrufe gab, doch noch kein einheitliches Muster vorlag, wodurch das FBI eingeschaltet worden wäre. So war die Information über diesen Serienmörder noch nicht überall angekommen, Raphael konnte einige Zeit unbehelligt seinen Weg fortsetzen.

Sheriff Harvey Dobson, ein gemütlicher Mittfünfziger, der allerdings die Buchstaben des Gesetzes pedantisch genau erfüllte, war der Polizeichef von Springfield. Er führte die Stadt auf seine Weise, und die meisten der Einwohner waren zufrieden, sodass er bereits mehrmals wiedergewählt worden war.

Ganz anders sein Deputy David Gatskill, ein noch recht junger Mann, der zwar gutmütig über die kleinen Tempoverstöße der Einwohner von Springfield hinwegsah, andererseits aber bei dem geringsten Ärger explodieren konnte. Die beiden so ungleichen Männer saßen gelangweilt in ihrem Auto und beobachteten den Verkehr auf dem Highway. Die großen Lkw hielten sich im Allgemeinen an die Tempobegrenzungen. Die Fahrer schalteten den Tempomat ein und richteten ihre Aufmerksamkeit auf andere Dinge. Angesichts der schnurgeraden Straßen war das nur zu verständlich, wenn auch nicht ganz legal. Dennoch sahen die Polizisten meist großzügig darüber hinweg, solange kein Unfall passierte.

Die zahlreichen Pkw waren schon interessanter, die Fahrer ließen sich nur zu gerne verleiten, die erlaubten 60 Meilen pro Stunde zu überschreiten. Dann durfte der unscheinbar wirkende Polizei-Ford zeigen, wie viele Pferdestärken er unter der Motorhaube hatte, und manch ein Fahrer wischte sich verwundert die Augen, wenn das Polizeifahrzeug ihn überholte und zum Abbremsen zwang.

»Da kommt wieder einer«, brummte Dobson, der mit trägem Blick zum Horizont schaute, wo sich das endlose Band der Straße verlor. Eins, nein, gleich zwei Fahrzeuge kamen heran, und die jahrelange Erfahrung sagte dem Sheriff, dass beide Autos viel zu schnell unterwegs waren. Das würde gepfefferte Strafzettel geben, für die Stadt allemal eine gute Einnahmequelle.

Doch noch bevor Dobson den Wagen starten konnte, spuckte Gatskill seinen Kaugummi aus dem offenen Fenster und ließ einen obszönen Fluch folgen.

»Was macht denn der Kerl da? Wie zum Teufel kommt jemand zu Fuß hierher? Das nächste Haus gehört Miles Akroyd und ist noch fast zwei Meilen entfernt.«

Dobson wandte langsam den Blick und nahm ebenfalls die einsame Gestalt in Augenschein, ohne jedoch viel erkennen zu können.

»Vielleicht jemand, der ein Stück entfernt eine Panne hatte«, meinte der Sheriff ohne rechte Überzeugung.

»Das glaubst du doch selbst nicht. Er würde dann die gerade Straße entlanggehen oder wäre von einem anderen Auto schon längst mitgenommen worden. Jemand mit einer Panne nimmt immer den kürzesten Weg«, widersprach der Jüngere.

Dobson brummte und angelte im Handschuhfach nach dem Fernglas. »Was ist denn das für einer …«, entfuhr es ihm, nachdem er hindurchgesehen hatte. »Der sieht aus, als wäre er seit zwei Wochen in der Wildnis unterwegs.«