E-Book-Ausgabe 2020

© 2020 Verlag Klaus Wagenbach, Emser Straße 40/41, 10719 Berlin

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ISBN: 9783803142764

Auch in gedruckter Form erhältlich: 978 3 8031 3692 3

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DIGITALE BILDKULTUREN

Durch die Digitalisierung haben Bilder einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren. Dass sie sich einfacher und variabler denn je herstellen und so schnell wie nie verbreiten und teilen lassen, führt nicht nur zur vielbeschworenen »Bilderflut«, sondern verleiht Bildern auch zusätzliche Funktionen. Erstmals können sich Menschen mit Bildern genauso selbstverständlich austauschen wie mit gesprochener oder geschriebener Sprache. Der schon vor Jahren proklamierte »Iconic Turn« ist Realität geworden.

Die Reihe DIGITALE BILDKULTUREN widmet sich den wichtigsten neuen Formen und Verwendungsweisen von Bildern und ordnet sie kulturgeschichtlich ein. Selfies, Meme, Fake-Bilder oder Bildproteste haben Vorläufer in der analogen Welt. Doch konnten sie nur aus der Logik und Infrastruktur der digitalen Medien heraus entstehen. Nun geht es darum, Kriterien für den Umgang mit diesen Bildphänomenen zu finden und ästhetische, kulturelle sowie soziopolitische Zusammenhänge herzustellen.

Die Bände der Reihe werden ergänzt durch die Website www.digitale-bildkulturen.de. Dort wird weiterführendes und jeweils aktualisiertes Material zu den einzelnen Bildphänomenen gesammelt und ein Glossar zu den Schlüsselbegriffen der DIGITALEN BILDKULTUREN bereitgestellt.

Herausgegeben von
Annekathrin Kohout und Wolfgang Ullrich

Eine Frage der Perspektive: ›LOVE HATE‹ von Mia Florentine Weiss, 2019

1 | Hassbilder werden übersehen

Wenn vom Hass im Netz die Rede ist, dann geht es fast nie um Bilder. So auch nicht 2019 in der Debatte um einen Beschluss des Landgerichts Berlin. Vor diesem Gericht hatte die Grünen-Politikerin Renate Künast unter anderem die Preisgabe der Identitäten einiger Facebook-User gefordert. Ihnen warf sie vor, einen Facebook-Post, der seinerseits auf einen Online-Artikel der Zeitung Die WELT1 reagierte, mit »Beleidigungen« ihrer Person kommentiert zu haben. Zahlreiche User hatten der Politikerin unterstellt, im Jahr 1986 gewaltfreien Geschlechtsverkehr mit Kindern befürwortet zu haben. Die geposteten »Äußerungen«, gibt die Kammer Künasts Vorbringen wieder, »seien Paradebeispiele der sogenannten ›Hatespeech‹, die in einem Shitstorm auf sie niedergeprasselt seien«.2

Die gerichtliche Zurückweisung von Künasts Forderung erzeugte heftige öffentliche Kritik. In deren Zentrum standen die zwischenzeitlich bekannt gewordenen Äußerungen – allesamt textlich verfasste, teils derb herabsetzende Diffamierungen: »Stück Scheiße«, »Pädophilen-Trulla«, »Schlampe« oder »Drecks Fotze«, um nur einige der verhandelten Einlassungen zu nennen.3 Umso auffälliger aber war: Kaum jemand stellte die Frage, welche Rolle Bilder in diesem Zusammenhang gespielt haben, Bilder, die womöglich eine ähnlich intensive öffentliche Thematisierung verdient hätten wie die Texte. Da Bilder kein Gegenstand der gerichtlichen Auseinandersetzung4 waren und auch sonst kaum einmal mit Hassbotschaften in Verbindung gebracht werden, schien die Frage nach ihnen obsolet. Dabei hatten sie ausgerechnet in diesem Fall erhebliche Bedeutung für die Formierung des Hasses.

Um zu verstehen, wie digitalen Bildern Hassfunktionen zukommen, muss man ihre kommunikative Verwendung betrachten – und zwar möglichst detailliert. Daher soll es zunächst und exemplarisch um den Fall Künast anhand dreier Posts gehen. Beachtenswert ist nämlich, dass bereits der auslösende – und hier durch einen User neu arrangierte – Beitrag mit einem Bild arbeitet. (# 1) Dieser inzwischen gelöschte Beitrag wurde auf einem mutmaßlich rechtspopulistischen Blog5 veröffentlicht und im vorliegenden Facebook-Post als kommentierter Screenshot wiederveröffentlicht. Bei dem Bild handelt es sich um einen Teil jenes Fotos, das auch Die WELT ihrem Artikel vorangestellt hatte.6 (# 2) Der verengte Ausschnitt fokussiert auf mimische Regungen. Damit löst er Künast aus einer offiziellen Darstellung heraus und rückt sie in scheinbar gesteigerte Nähe, setzt also darauf, weniger die Politikerin als die Privatperson zu zeigen.

# 1 Hasspost gegen Renate Künast

# 2 Der auslösende WELT-Artikel

Der Bildausschnitt tritt mit drei Textebenen in Verbindung. So ist das Foto – erstens – mit einem Zitat der Politikerin (»Wenn keine Gewalt im Spiel ist«), einer fiktiven Fortschreibung des Zitats (»ist der Sex mit Kindern doch ganz okay«) und einem bezugnehmenden Kommentar (»Ist mal gut jetzt«) versehen worden. Daneben findet sich – zweitens – der vollständig einkopierte WELT-Artikel, der dadurch als eine Art Anklageschrift erscheint. Und – drittens – prangen über dem Bild, ähnlich Haupt- und Untertitel, zwei weitere Einlassungen des ursprünglichen Blog-Verfassers (»Künast findet Kinderficken ok, solange keine Gewalt im Spiel ist« sowie »Also mit Süßigkeiten überreden, geht für Renate Künast schon…«).7

Die formale Anlage des Posts erinnert an die Aufmachung antijüdischer Hetzschriften, wie sie bereits im 16. Jahrhundert in Umlauf waren. (# 3) Das hier gewählte Flugblatt zeigt Josel von Rosheim, einen anwaltlichen Fürsprecher jüdischen Lebens im Heiligen Römischen Reich. Das Blatt präsentiert ihn mit Geldsäckchen, Judenring, einer den Talmud symbolisierenden Schrift und dem auf einer Säule angebrachten goldenen Kalb. So belegte man ihn mit all jenen Zeichen, die seinerzeit als hinlänglich judentypisch aufgefasst worden waren.8

Sowohl im Facebook-Post als auch auf dem Flugblatt steht das Bild einer Person im Zentrum. Damals wie heute sollen einfassende Texte diese Person als abartig ausweisen. Und in beiden Fällen wird sie als Vertreterin einer verwilderten Gruppe gebrandmarkt. Somit suggerieren die Texte, vollständige Zitate der betreffenden Personen wiederzugeben. Die Flugschrift legt dem Abgebildeten sogar eine direkte Ansprache an die Empfänger des Blattes in den Mund: »Hört, ihr Herren allgemein, […] ich bin ein Jud, das leugn’ ich nicht.« Es soll, wie auch durch den Post, der Eindruck erweckt werden, hier lege eine Person öffentlich Bekenntnis ab.

# 3 Antisemitisches Flugblatt, Anfang 16. Jahrhundert

Entscheidend ist, dass die beiden vermeintlichen Bekenntnisse als frivole Eingeständnisse der eigenen Niedertracht verkauft werden. Das Flugblatt identifiziert Josel von Rosheim als »von Art« eines »schalkhaft[en] Bösewicht[s]« und als »Herold alle[r] Jüdischheit«.9 Ähnlich verfährt der Post, wenn er versucht, durch ergänzte Äußerungen die Politikerin als Verfechterin pädophiler Praktiken auszugeben. Der Verweis auf das »Kinderficken« ist die vulgär-kommunikative Entsprechung zum damaligen Hinweis auf die »Jüdischheit«. Über Sprache werden als abnormal gewertete Merkmale mit dem Bild einer Person verbunden – mit dem Ziel, möglichst umfassenden Hass auf diese Person zu lenken.

2 | Kommt der Körper ins Spiel, sind Türen zur Gewalttat geöffnet

# 4 Hasskommentare in Reaktion auf den WELT-Artikel

Ein zweites Beispiel: Der Facebook-Post des WELT-Artikels wurde vielfach kommentiert und geteilt – unter anderem durch einen User, der den Link zum Artikel mit der Frage überschrieb, »was […] man mit so einem Haufen machen« solle. (# 4) Ihm antworteten drei User. Der erste von ihnen schlug vor, »teeren und federn wäre schon mal ein Anfang«. Daraufhin riet ein zweiter User zur kollektiven Inhaftierung in einer Massenzelle (»Make a prison just for them and let them roam free in it«), was den Fragesteller dazu veranlasste, seinen Vorredner auf das Äußere der Politikerin aufmerksam zu machen (»Janice, just take a look in her face!«). Dies wiederum motivierte den Angesprochenen, eine körperliche Abartigkeit festzustellen (»She doesn’t look normal. Taking out both sides of her mouth.«).10

# 5 Hassbild als ultimative Antwort

Womöglich war es diese Verlagerung aufs Physische, die einen dritten User darauf brachte, das Bild einer Pistole mit umgedrehtem Lauf zu posten. (# 5) Auch dieses Bild war als Antwort auf die Ausgangsfrage gemeint. Entsprechend kommt es ohne textliche Erläuterung aus. Offenbar sollte es für sich selbst sprechen, und tatsächlich dürfte es als finalisierender Höhepunkt der knappen Kommentarkette angesehen worden sein. Wie hätte auch zielgenauer zum Ausdruck gebracht werden können, was man kundtun wollte? »Dem Hass im Netz«, schreibt Renate Künast im Jahr 2017, »folgen Straftaten in der physischen Welt, denen Menschen zum Opfer fallen.«11

Die Texte und das Bild vollziehen die persönliche Abwertung schrittweise. Die Herabsetzung entfaltet sich daher weder orientierungs- noch richtungslos. Vielmehr ist sie von Anfang an auf Eskalation angelegt. Wer auf die rhetorische Ausgangsfrage antwortet, tut dies im Bewusstsein, durch seinen Beitrag die Eskalation voranzutreiben. Dem so vorgetragenen Hass liegt der Kitzel eines sportlichen Wettbewerbs zugrunde: Wem gelingt es am ehesten, die gestellte Frage erschöpfend – und das heißt: derart schmähend – zu beantworten, dass es keiner weiteren Reaktion bedarf?

  (# 6)