Make love, not war!

Robert Müller

(Pf)Affenliebe

Verbotene Liebe:
Vom Segen in die Taufe

Ein #MeToo-Roman

Ein gesellschaftskritischer Roman über menschliche Süchte und Leidenschaften, über Intrigen und kriminelle Machenschaften an einem nicht erst durch #MeToo aktuellen Thema.

Personen und Handlung sind frei erfunden. Allfällige Bezüge zu aktuellen oder früheren politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen sind gewollt, nicht aber eine Bezugnahme auf bestimmte Personen oder Parteien.

Ich danke meiner Frau
für die gewohnt gewissenhafte Korrektur
und die Unterstützung und Zeit,
dieses Werk verfassen zu können.

Text und Grafik: R. v. M.

Eigenverlag, Wien 2018

Alle Rechte vorbehalten

Kontakt und Bestellwunsch siehe letzte Seite sowie

www.buecher-rvm.at

Vorwort

Täglich verbreiten die Boulevard-Medien Vorwürfe wegen (angeblicher) sexueller Übergriffe, quer durch alle Institutionen. Befeuert wurden diese Vorwürfe durch die #MeToo-Bewegung. Deren Bekenntnisse und Anschuldigungen gewähren einen unerfreulichen Einblick in unsere Gesellschaft. Sie waren der Geburtshelfer für diese (inzwischen – siehe S. 208 – auf fünf Bände angewachsenen) Reihe gesellschaftskritischer Sex&Crime-Romane, die sich jeweils anderen Schwerpunkten des #IchAuch, widmen.

Band 1 geißelt anhand einer schockierenden Gruppenvergewaltigung die rücksichtslose sexuelle Gier in der ‚honorigen‘ Nadelstreifgesellschaft.

Band 2 hinterfragt sehr gefühlsbetont am Lebensabend eines alten Mannes das Phänomen sozialer wie sexueller Belästigung als innerfamiliäres #Me-Too-Erlebnis.

Dieser dritte Band widmet sich nun dem Verhältnis von Kirche und Staat zu Sex, Ehe und Kindersegen, angelehnt an ein Klischee, das – vielfach ohne jeden intellektuellen Anspruch – in derben Schwänken schon oft Theaterluft schnupperte.

Viel Vergnügen beim Lesen und darüber Nachdenken!

R. v. M.

Kap_1 Paula

Paula hatte sich schon den ganzen Tag auf den heutigen Abend gefreut. Das hatte sie die mühsame Arbeit des Erdbeerbrockens weniger mühsam erscheinen lassen. Ja, Erdbeeren, oder Ananas – wie manche fälschlich sagten, obwohl das die Verwechslung mit einer ganz anderen exotischen Bodenfrucht zuließ – mussten noch von Hand geerntet werden. Ebenso der gerade jetzt Ende Mai besonders gut gedeihende grüne Salat ‚Maikönig‘.

Das war eine der wenigen Möglichkeiten, wie man auch als Kleinhäusler wirtschaftlich überleben konnte. Mit dem Welthandelspreis für großflächig angebaute Ackerfrüchte wie Getreide, Raps, Zuckerrüben konnte sie nicht mithalten. Gegen diese großindustriell organisierte Konkurrenz hatte sie keine Chance. Wie hätte sie jemals den Maschinenpark sich zulegen oder gar effizient nützen sollen? Wie einige Kollegen, die mit ihren Mähdreschern als Lohnarbeiter werkten? Nein. Dafür hatte sie weder das Geld noch das technische Know-How.

Ihr Mann Heinz hatte es auch nicht, hatte es nie gehabt und würde es auch nicht mehr kriegen. Zunehmend von ihrer immer schwierigeren wirtschaftlichen Situation mit gerade Mal zwei Hektar Land für Gemüse- und Blumenanbau, ein wenig Geflügelhaltung und Bienenzucht desillusioniert, hatte er sich immer mehr dem Suff ergeben. Nicht, dass er nicht auch schon früher dann und wann ein wenig – falsch: ganz deutlich – zu viel getrunken hätte. Aber jetzt war er fast dauernd vollfett, wie der Volksmund so sagt. Von ihm war daher keine Hilfe zu erwarten.

Von ihren beiden Kindern, Egon und Erich, auch nicht. Die waren schon außer Haus und standen im Berufsleben. Egon hatte Tischler gelernt, Erich den Beruf des Schlossers.

Nur bei sehr lauten Hilfeschreien ihrerseits kamen sie an einem Wochenende, um ihrer Mutter bei der Arbeit zu helfen. Da sie aber fast nie laut um Hilfe rief, außer die Arbeit war wirklich unaufschiebbar dringend, kamen sie auch fast nie. Beide hatten schon selber eine Familie und daher weiß Gott selbst genug zu tun.

Dennoch war Paula zufrieden, was aus ihren beiden Söhnen geworden war. Zwei anständige, arbeitsame Männer mit Familie. Denn immerhin, aber das wusste nur ihre beste Freundin Agnes, waren beide von Heinz im Suff gezeugt worden. Nicht einmal Heinz war sich dessen bewusste, da er ja bei ihrer nicht ganz gewaltfreien Begattung stockbesoffen war. Dass er sein bestes Stück damals dennoch hoch und zur Entladung gebrachte hatte, war ja schon ein Wunder.

Das wahre Wunder war, dass ihre Kinder dennoch nicht zu Rauschkegeln wurden, wie der Volksmund solche Kinder herablassend nennt. Nein, sie waren wohlgeraten, indem sie mehr ihr als dem Vater nachgeraten waren. Gott sei Dank.

Jeden Tag dankte sie dem Herrgott dafür. Jeden Tag ging sie dazu in die Kirche, goss die Blumen am Altar oder erneuerte sie mit Blumen aus ihrem eigenen Garten, falls das nötig war. Der junge Pfarrer, den sie seit kurzer Zeit hatten, dankte es ihr jedes Mal mit einem freundlichen Händedruck, manchmal auch mit ein paar Münzen.

Obwohl dieses Bakschisch kaum der Rede wert war, empfand sie Dankbarkeit. Denn sie musste wirklich jede Münze dreimal umdrehen, bevor sie sie ausgeben konnte.

Heinz ließ sie von diesen Gaben nichts wissen und gab ihm auch nichts ab. Der würde das Geld sofort in Alkohol umsetzen. Wenn er das mit seiner eigenen kleinen Frührente tat, war es schon schlimm genug. Aber wie sollte sie das verhindern? Ihm seine Geldbörse wegnehmen? Das hätte ihr nicht gut bekommen. Heinz wurde zum Berserker, wenn man ihm seinen Alkohol vorenthielt, oder noch schlimmer, wegnahm. Nein, das wagte Paula nicht.

Sie fügte sich in ihr Schicksal mit der ihr eigenen Duldsamkeit und Gläubigkeit. Die Last, die mir der Herr aufgeschultert hat, muss ich eben tragen, sagte sie sich immer wieder. Dieses Leben ist mein Kreuzweg, von dem mich Gott irgendwann erlösen und in eine schönere Welt holen wird. Aber das liegt in seinem gütigen Ermessen.

Kap_2 Agnes

Gegen 18 Uhr kam ihre beste Freundin Agnes, um Paula zur Maiandacht abzuholen. Der neue Pfarrer hatte die Andacht, die der alte Pfarrer nicht mehr halten wollte oder altersbedingt halten konnte, wieder neu belebt.

Jedenfalls bei den Frauen. Denn Männer sah man dort praktisch nie. Denen war die ewige ‚Gegrüßet seist du Maria‘-Litanei offenbar zu langweilig.

Agnes war im gleichen Alter wie Paula, nämlich knapp 50 Jahre alt. Deswegen hatten sie auch gemeinsam die Schulbank gedrückt und waren seit Kindertagen dickste Freundinnen.

Während Paula durch die schwere Arbeit und das Kreuz, das sie trug, älter und erst auf den zweiten Blick als noch immer attraktive Frau wirkte, war Agnes eine auf den ersten Blick begehrenswerte Frau. Sie wusste darum und tat auch viel dafür.

Niemals wäre sie so ärmlich und unvorteilhaft angezogen wie Paula zur Kirche gegangen, wie es diese immer wieder tat. Nein. Sie hatte immer ein fesches Dirndl mit einem tiefen Dekolleté an, das einen mehr als deutlichen Vorgeschmack darauf gab, was Wunderbares sich hinter den Spitzen noch versteckte.

Paula hingegen ging hochgeschlossen und gab nicht preis, dass sie über einen noch immer sehr attraktiven Körper verfügte. Wozu auch, fragte sie sich, weil ja Heinz an diesen optischen Reizen sehr viel weniger Interesse hatte als an den hochprozentigen.

„Hallo, Paula“, rief Agnes im Näherkommen. „Es ist höchste Zeit, mit dem Ernten der Erdbeeren aufzuhören. Unsere Maiandacht beginnt in wenigen Minuten.“

„Ich weiß“, antwortete Paula. „Ich wollte unbedingt die eine Steige noch voll kriegen. Die Gottesmutter Maria wird meine Gebete auch erhören, wenn ich mich nicht mehr umziehen kann und in meiner Arbeitskluft zu ihr komme.“

„Wie du meinst“, gab sich Agnes geschlagen. Dabei war es ihr gar nicht so unrecht. Denn erstens musste sie so nicht darauf warten, bis Paula sich umgezogen hatte. Und zweitens wollte sie den Blick des feschen jungen Pfarrers mehr auf sich gerichtet wissen als auf Paula. Dass der gerade deswegen mehr auf Paula schauen würde, konnte sie nicht ahnen.

Paula hatte inzwischen die Obststeige in den kühlen Schatten gestellt und sich am Brunnen die Hände und das Gesicht gewaschen.

„So, ich bin fertig. Wir können gehen.“

Ohne sich von Heinz zu verabschieden, der das in seinem Delirium ohnehin nicht mitkriegen würde, öffnete sie das Gatter, um es gleich hinter sich wieder sorgfältig zu schließen. Ihre Hühner, die bei ihr frei im Garten herumliefen, sollten schließlich drinnen bleiben.

„Brauchst du vielleicht ein paar Eier, Agnes?“, fragte Paula.

„Nein, mein Lebensgefährte Fritz hat mir welche aus dem Supermarkt mitgebracht. So wie deine aus Bodenhaltung.“

Blödsinn, dachte sich Paula bitter. Meine Hühner leben viel besser und gesünder als Hühner in der Bodenhaltung. Der Platz, der Hühnern bei dieser Haltungsart per Gesetz zusteht – bis zu 9 Hühner dürfen sich auf einem einzigen Quadratmeter tummeln – ist ein Bruchteil von dem, was meine frei im Garten herum laufenden Hühner zur Verfügung haben. Darüber hinaus keine Hormone, keine vorbeugenden Antibiotika. Und auch das Futter ist ganz anders – völlig bio. Kein genmanipulierter Mais. Dazu jede Menge Grünfutter, Insekten und Regenwürmer und die Schalen der von mir verwendeten Eier. Aber was hilft das. Agnes Lebensgefährte ist auch einer von den Schnöseln, die trotz akademischer Bildung den Unterschied nicht kennen – oder kennen wollen. Aber rechnen können sie: Denn bei mir kosten 10 Eier 2 Euro, im Supermarkt aber nur 1,69 Euro. Ein lächerlich kleiner Mehrpreis für ein deutlich besseres Produkt.

Dass Agnes trotzdem immer wieder ihren Lebensgefährten Eier-aus-Bodenhaltung statt ihrer Voll-Bio-Eier kaufen lässt, verzieh Paula ihrer besten Freundin immer weniger. Immerhin wusste Agnes um Paulas miserable finanzielle Lage Bescheid.

Nach wenigen Minuten waren die beiden in der Kirche angekommen, wo der Pfarrer sie ebenso wie die spärlichen anderen Besucherinnen am Tor empfing.

„Es ist schön, Paula, dass Sie trotz der vielen Arbeit, die Sie ersichtlich haben, dennoch Zeit finden zu unserer Maiandacht zu kommen.“

Agnes war wütend. Allen anderen Frauen, auch ihr, hatte er nur die Hand geschüttelt, aber nichts Freundliches zu ihnen gesagt. Das nächste Mal komme ich auch so abgerissen. Vielleicht nimmt er dann mich mehr wahr als Paula.

Kap_3 Chorprobe

Nach der Maiandacht gingen einige Frauen nach Hause, andere, unter ihnen Paula und Agnes, nicht. Denn heute, wie an jedem Dienstag um 18:30 Uhr, probte der Kirchenchor. Ein reiner Frauenchor, sieht man vom Pfarrer als dessen Leiter ab. Der war über das Fehlen von Männerstimmen nicht sehr glücklich, aber das sei das Los der Kirche seit Anbeginn, sagte er immer wieder. Ohne die Frauen gäbe es keine Kirche.

Als einige Frauen das näher ausgeführt hören wollten, blockte er das mit dem Hinweis ab, dass man das gerne im Rahmen einer Veranstaltung des Kirchengemeinderates diskutieren könne.

Allen war klar, dass er damit nur einige Frauen dorthin locken wolle, da er zuletzt händeringend nach Pfarrgemeinderäten für die Kirche gesucht hatte. Paula war zunächst die einzige, die Interesse gezeigt hatte. Nach einigem Zögern hatte sich dann auch Agnes gemeldet.

Wie immer begann man mit den üblichen Stimm- und Atemübungen: Ha-ha-ha-ha-ha, he-he-he-he-he, hi-hi-hi-hi-hi, …hallte es vom Chor-Balkon durch das große, dunkle Kirchenschiff. Der Pfarrer meinte, dass man dort üben solle, wo man fast jeden Sonntag auftritt. Also hier in der Kirche, nicht so wie früher im Pfarrsaal. Jeder Raum hat seine eigene, charakteristische Akustik, und an die müsse sich der Chor eben gewöhnen.

Zudem stand dort die Orgel, sodass die Kommunikation mit dem Organisten ganz einfach und direkt war. Heute brauchte der Pfarrer ihn aber nicht. Heute stand a-cappela Gesang auf dem Programm.

„Liebe Frauen meiner Gemeinde“, beschloss der Pfarrer die heutige Probe: „Heute Vormittag hat sich ein Brautpaar bei mir zur kirchlichen Trauung angemeldet. Ich habe ihnen gesagt, dass der Eheunterricht aus vier Besprechungen besteht, die im Wochentakt abgehalten werden. Zudem sollte eine Aushangsfrist gewahrt werden. Demgemäß habe ich mit den Brautleuten einen Termin frühestens Anfang August ins Auge gefasst, aber noch nicht fixiert. Schließlich ist ja auch noch die Tafel zu organisieren. Um diese Zeit, wo sehr viele heiraten, ist es oft gar nicht so einfach einen würdevollen und gleichzeitig erschwinglichen Ort und Rahmen für die Hochzeitstafel zu finden.“

Warum erzählt er uns das, fragte sich Paula? Bei Hochzeiten singen wir immer unser Standardprogramm. Das war schon unter dem alten Pfarrer so und wird wohl auch so bleiben. Sie sollte gleich eine Antwort auf ihre Frage erhalten.

„Die Brautleute haben sich aber ausbedungen, nicht die ewig gleichen Lieder singen oder hören zu müssen. Sie wollen ihre Hochzeit zu einer besonderen machen. Hier“, der Pfarrer schwenkte ein Notenblatt, „steht drauf, was sie zum Zeitpunkt des Ringtausches hören wollen. Es ist etwas Neues, ein Stück, das wahrscheinlich keine von euch kennt. Wir haben es jedenfalls noch nicht gesungen.“

Auf den Gesichtern der Frauen war Unsicherheit zu erkennen.

„Und“, fuhr er fort, „das Musikstück enthält einen Soloteil – für eine Frauenstimme. Ich selbst kann das also nicht singen. Ich brauche eine Freiwillige aus euren Reihen. Wer traut sich, na?“

Die Unsicherheit verdichtete sich zu dunklen Wolken in den Gesichtern der Frauen und entlud sich in zu Boden gesenkten Blicken.

„Niemand? Wirklich niemand?“, fragte der Pfarrer nochmals, sichtlich enttäuscht. „Selbst wenn Ihr falsch singen oder einsetzen solltet: Niemand kann von unten sehen, wer hier gepatzt hat – außer Ihr verpetzt eure Kollegin, was Ihr als ordentliche Christenmenschen wohl nicht tut. Also. Nur Mut!“

Paula nahm all ihren Mut zusammen und hob die Hand. Der Pfarrer sah sie nicht gleich, weil sie, wie üblich, in der zweiten Reihe stand. Nicht, weil sie eine schlechte Stimme hatte. Paula hatte eine der schönsten im Chor. Sondern weil sie, anders als ihr Vorname vermuten ließe, nicht kleinwüchsig war und daher in der zweiten Reihe stehen musste.

Endlich sah sie der Pfarrer: „Wunderbar. Ich bin gerettet. Bitte Paula, bleiben Sie noch ein wenig hier. Ihr anderen könnt gehen. Gott sei mit euch.“

Kap_4 Besprechung

Kaum waren die anderen Frauen verschwunden, ergriff der Pfarrer ihre Hand und drückte sie voller Freude. „Ich bin Ihnen so dankbar, liebe Paula. Es ist meine erste Hochzeit hier in dieser Kirche. Die muss einfach schön werden. Hier – ich gebe Ihnen das Notenblatt mit, damit Sie es zu Hause studieren können.“

Paula warf nur einen kurzen Blick auf das Notenblatt und meinte: „Das wird nicht gehen.“

„Warum?“, fragte der Pfarrer irritiert. „Zu schwer? Oder nicht Ihre Stimmlage? Vielleicht kann es der Organist transponieren?“

„Nicht nötig“, antwortete Paula. „Es reicht, wenn mir der Organist die Melodie ein paar Mal vorspielt. Ich kann nämlich nicht Noten lesen.“

„Aber Sie sind eine der Besten im Chor, wie ich inzwischen weiß. Eine wunderbare Stimme und ein wunderbares Gehör, fast absolut. Sie halten Ihre Stimme, selbst wenn Ihre Nachbarinnen, bedingt durch deren Aufregung bei der Aufführung, zu steigen beginnen. Wie machen Sie das alles, wenn Sie gar nicht Noten lesen können?“

„Sie haben es schon gesagt, Herr Pfarrer. Ich habe ein sehr gutes Gehör. Ich habe bisher alle unsere Stücke allein durch Zuhören gelernt. Wenn Sie also wirklich wollen, dass ich das singe, dann müssen es der Organist oder Sie mir vorspielen, und zwar einige Male, bis ich es mir gemerkt habe.“

Man sah, wie der Pfarrer nachdachte. Offenbar hatte er plötzlich eine Idee. „Kommen Sie bitte mit, Paula.“

Er eilte die Treppe vom Balkon hinunter, durch die Sakristei und dann durch einen kurzen Gang direkt ins Pfarrhaus bis in sein Wohnzimmer. Paula immer hinter ihm.

Agnes, die draußen auf Paula gewartet hatte, sah das und konnte sich darauf keinen Reim machen.

Als Paula aber nach weiteren fünf Minuten noch immer nicht herauskam, pfiff sie kurz durch die Zähne und brach das Warten ab.

Inzwischen hatte der Pfarrer seinen Computer eingeschaltet.

„Was soll das werden?“, fragte Paula erstaunt.

„Sie wissen wohl, Paula, dass ich nicht Orgelspielen kann. Sonst hätte ich das Stück auf diesem Notenblatt gleich in der Kirche Ihnen vorgespielt. Das Gerät hier wird uns beiden aus der Patsche helfen.“

„Wie soll das gehen? Kann der Computer vielleicht gar meinen Part vorsingen?“, gab sich Paula zweifelnd.

„Ja, der kann das. Ich habe hier ein Programm installiert, das ein im Notenbild vorliegendes Stück vorspielen kann.“

„Allerhand, was es heute alles gibt“, zeigte sich Paula überrascht.

„Das Notenblatt, das ich Ihnen gab, ist übrigens hier im Computer schon gespeichert. Denn ich erhielt es per E-Mail vom Brautpaar zugeschickt. Daher brauche ich es nur mehr in das Programm laden – und gleich werden wir das Stück hören.“

Tatsächlich spielte der Computer Sekunden später das Stück ab.

„Bitte nochmals“, bat Paula. „Ich muss es mir einprägen.“

„Und wie oft möchten Sie es hören?“, fragte der Pfarrer.

„So oft es geht“, war Paulas Antwort.

„Dann werde ich es Ihnen als mp3-File abspeichern und Sie können es zu Hause anhören, so oft Sie wollen.“

Paula sah verwirrt aus. „Was ist ein mp3-File? Wie soll ich mir das anhören?“

Jetzt war der Pfarrer sichtlich verwirrt. „Nun eine Datei, die so ähnlich wie früher die Schallplatten die Musik enthält. Das File laden Sie in Ihren Computer. Anders als jetzt direkt vom Notenblatt, wofür man spezielle Programme benötigt, kann jeder moderne Computer mp3-Dateien abspielen.“

„ … ich habe keinen Computer. Was soll ich damit. Ich kenne mich damit nicht aus. Ich habe nur eine achtklassige Volksschule hinter mir“, unterbrach ihn Paula.

„Dann laden Sie es halt in Ihr Handy. Auch das kann mp3-Files abspielen.“

„ … ich hab auch kein Handy“, warf Paula ein.

„Dann also in Ihrer Musikanlage.“

„… ich habe auch keine Musikanlage, sondern nur ein uraltes Radiogerät. Das reicht, um mir die Nachrichten und einige interessante Diskussionssendungen anzuhören oder um mich im Garten bei der Arbeit mit Musik berieseln zu lassen.“

„Haben Sie auch keinen Fernseher?“, zeigte sich der Pfarrer zunehmend überrascht, ja bestürzt.

„Nein, auch den nicht. Ich käme vor lauter Arbeit sowieso nicht dazu, mir etwas anzuschauen.“

„Und Ihr Mann. Will der sich nichts anschauen? Zum Beispiel Fußball.“

„Nein. Der ist meist zu betrunken, um sich überhaupt etwas anschauen zu können. Und wenn doch, dann geht er zum Wirt. Dort gibt es einen Fernsehapparat.“

Der Pfarrer war von den Socken, dass es das noch heute mitten unter ihnen gibt; einen Menschen fast auf medialem Steinzeitniveau. Man sah, wie er angestrengt nachdachte und unschlüssig den Kopf wiegte, bis er sich zu einem Entschluss und einer Antwort durchgerungen hatte.

Kap_5 Heimliche Proben

„Ich werde dieses File nun verwenden, um für Sie eine Audio-CD zu brennen.“

Paula verschwieg diesmal beschämt ihr Unwissen, was eine Audio-CD ist. Woher hätte sie es auch wissen sollen? Sie sah mangels Fernsehapparat keine Werbung im Fernsehen, las keine Zeitung, auch nicht im Wirtshaus, weil sie dort aus Kostengründen nicht hinging. Sagen wir besser, nicht einkehrte.

Denn manchmal ging sie hin – um ihren Heinz zu suchen und heimzuholen. Ein eigenes Zeitungs-Abonnement konnte sie sich schon gar nicht leisten und die Gratiszeitung gab es nur in der Stadt. Aber auch dorthin kam sie aufgrund der miserablen Anbindung an das öffentliche Verkehrsnetz und mangels eigenem Fahrzeug, sieht man von einem Leiterwagen und einem Fahrrad ab, praktisch nie. 35 km hin und dann auch wieder zurück hielten sie von Rad-Besuchen in der Stadt ab – außer sie musste einmal zu Fachärzten oder gar ins Krankenhaus. Zum Glück war das in den letzten Jahren nie der Fall gewesen.

„Setzen Sie sich her zu mir. Das wird nämlich ein paar Minuten dauern. Ich zeige Ihnen dann, wo meine Musikanlage ist und wie Sie diese bedienen. Sie haben ja keine.“

Paula fiel ein Stein vom Herzen. Sie musste ihr Unwissen diesmal nicht preisgeben. Ja, über den Erdbeer- und Gemüseanbau, die Hühnerhaltung und Bienenzucht wusste sie wohl mehr als jeder und jede Andere hier im Ort. Aber mit der modernen Technik hatte sie nichts am Hut.

Endlich war es soweit. Die fertige CD wurde vom Computer automatisch auf einer Art Schlitten nach außen gefahren, jedenfalls ein kleines Stück weit. Der Pfarrer zog den Schlitten ganz heraus und nahm die CD vorsichtig im Mittelloch und am Rand.

„Dass Sie mir das ja auch so tun“, schärfte er Paula ein. „Schmutzige Finger hinterlassen schnell Spuren auf der Oberfläche der CD. Und wenn diese nicht mehr schön glänzt, kann die Musikanlage die Daten auf dieser CD nicht mehr lesen.“

„Ist das so wie früher mit den Schallplatten? Waren die erst einmal zerkratzt, war es auch vorbei mit dem Abspielen“, wollte Paula beweisen, dass sie sich früher, in ihrer frühen Kindheit, sehr wohl mit der damaligen Technik ausgekannt hatte. Aber das war lange her.

„So ähnlich“, sagte der Pfarrer. Sollte er ihr, einer Frau fern jeder Technik, den Unterschied zwischen analog und digital erklären, ihr sagen, dass die CD von innen nach außen statt wie eine Schallplatte von außen nach innen abgetastet wird, dass kleine Kratzer bis zu mehreren Millimetern Länge einer CD im Allgemeinen wegen des hochredundanten, selbstkorrigierenden Cross Interleaved Reed-Solomon-Code nichts anhaben können, dass großflächige Schmutzflecken viel gefährlicher waren? Nein, das würde ihr nicht weiterhelfen. Was sie brauchte, war eine praktische Anleitung, wie man die Musikanlage einschaltet, die CD einlegt, die Lautstärke variiert, die CD auswirft und das Musikcenter wieder abdreht.

„Kommen Sie her zu mir, bitte etwas näher. Ich beiße nicht. Ich zeige Ihnen nun die fünf Schritte, die Sie stets abzuarbeiten haben.“

Dann demonstrierte der Pfarre das Prozedere ganz langsam und einprägsam.

„Und jetzt bitte Sie, Paula!“

Paula legte das erste Mal in ihrem Leben eine CD ein und war begeistert, als plötzlich dieses wunderbare Stück erklang.

„Darf ich nochmal?“, fragte sie wie ein kleines Kind nach der ersten Runde am Ringelspiel.

„Bitte, bedienen Sie sich.“

Und Paula bedient sich, noch und noch.

Der Pfarrer überlegte, ob er ihr sagen sollte, dass man die CD gar nicht jedes Mal herausnehmen und wieder einlegen müsse, wenn man sie noch einmal abspielen will. Aber er entschied sich angesichts der vielen Knöpfe, Taster und Schalter auf seiner Musikanlage, sie besser nicht in deren Bedeutung einzuführen. Sicher ist sicher.

Stattdessen sagte er: „Sie dürfen kommen so oft sie wollen, um sich hier das Musikstück anzuhören. Die Tür zur Sakristei ist meistens offen. Dorthin können Sie ja, weil Sie einen Schlüssel zur Kirche haben, um den Blumenschmuck pflegen zu können. Aber“, setzte er leise hinzu, „bitte kein Wort zu den anderen. Das könnte Sie und mich in ein schiefes Licht rücken.“

Paula sah das ebenso und sagte zu. Sie wollte sich erst gar nicht vorstellen, wie ihr ewig betrunkener und zu Gewalttätigkeit neigender Mann reagieren würde, wüsste er um ihre heimlichen Besuche beim Pfarrer Bescheid. Immerhin war der Pfarrer ein junger und fescher Mann zwischen 30 und 35 Jahren.