Über das Buch:
Die junge Witwe Eliza kennt nach dem Tod ihres Schwiegervaters nur ein Ziel: Allein kämpft sie um die Rettung der Obstplantage, die seit Jahrzehnten das Ein und Alles der Familie ihres Mannes war. Schnell wird der Mutter von drei kleinen Kindern klar, dass dieses Vorhaben nur gelingen kann, wenn Gott einen Engel schickt, wie die verrückte Tante Gracie meinte. Tatsächlich steht bald ein geheimnisvoller Fremder vor Elizas Tür. Ist er wirklich der erhoffte Gottesbote, oder hegt er finstere Absichten? Immerhin scheint er nicht der zu sein, der er zu sein vorgibt. Doch wer ist das schon? Eliza ist selbst gefangen in einem Netz aus Lügen über ihre Herkunft, und auch in der Familie ihres Mannes schlummert mehr als ein dunkles Geheimnis. Nur langsam fügen sich die Bruchstücke der Vergangenheit zu einem Gesamtbild zusammen. Wird Eliza letztlich alles verlieren, was ihr lieb und teuer ist, oder gewinnt sie sogar mehr, als sie je zu träumen gewagt hat?

Über die Autorin:
Lynn Austin ist verheiratet, hat drei Kinder und lebt in Illinois. Ihre große Familie, die vier Generationen umfasst, ist ebenso Aufgabe wie Inspiration für sie. Wenn ihr nach dem Tagesgeschäft noch Zeit bleibt, ist sie als Vortragsreisende unterwegs und widmet sich der Schriftstellerei.

Kapitel 5

„Ich wette, Sie sind es leid, den ganzen Tag so auf dem Rücken herumzuliegen“, sagte Tante Crazy zu Gabe, als sie ihm am nächsten Morgen das Frühstück brachte. Ich hatte in der Apotheke in Deer Springs Jod und einige andere Medikamente gekauft und versorgte sein Bein. Er hatte immer noch erhöhte Temperatur.

„Komm bloß nicht auf die Idee, ihn aus dem Bett zu holen“, sagte ich, „sonst reißt die Wunde an seinem Bein gleich wieder auf.“

„Soll ich Ihnen helfen, sich aufzusetzen“, fragte sie, „damit Sie vielleicht ein Buch lesen können?“

„Das schaffe ich schon“, erwiderte Gabe, während er sich hochstemmte. „Sie müssen mich nicht bemuttern, Tante Crazy – obwohl ich Ihre Freundlichkeit zu schätzen weiß.“

„Das macht überhaupt keine Mühe. In der Bibel steht, dass sich, als Elia völlig erschöpft war, die Engel um ihn gekümmert haben, deshalb denke ich, dass wir alle manchmal einen Engel brauchen können, nicht wahr? Also, was für Bücher lesen Sie denn gerne, Gabe?“ Sie begann in der erstbesten Kiste zu wühlen. „Sieht aus, als wären das hier alles Abenteuergeschichten. Interessieren Sie sich für so etwas?“ Sie zog zwei Bücher heraus und reichte sie ihm. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hätte sie ihm genauso gut die Kronjuwelen aushändigen können.

„Wow! Gefahr im Dschungel und Der afrikanische Schatz von Herman Walters!“

„Sie kennen ihn?“, fragte sie.

„Wer kennt ihn nicht! Er war einer der beliebtesten Abenteuerschriftsteller seiner Zeit. Ich habe diese Bücher geliebt, als ich ein Junge war! Ich habe sie bestimmt hundertmal gelesen.“

„Oh, dann wollen Sie ja vielleicht lieber etwas anderes lesen.“ Sie bückte sich, um noch mehr Bücher aus der Kiste zu holen, und stapelte sie neben ihm auf dem Bett.

„Die sind ja alle von Herman Walters!“, sagte Gabe erstaunt. Er lehnte sich vor, um in die Kiste zu sehen. „Ich fasse es nicht! Wie viele haben Sie denn davon?“

„Ich besitze jedes einzelne Buch, das er jemals geschrieben hat.“

„Und das sind auch noch alles Erstausgaben“, sagte er, nachdem er in einigen geblättert hatte. Er benahm sich wie ein aufgeregtes Kind am Weihnachtstag. „Was für ein Anblick – sie sind in hervorragendem Zustand! Haben Sie eine Ahnung, wie viel diese Bücher wert sind?“

„Warten Sie mal. Dreiundvierzig – nein, vierundvierzig Bücher – zu je fünfundsiebzig Cent, das macht …“ Sie fing an, wie auf einer unsichtbaren Tafel Zahlen in die Luft zu malen, und versuchte, die Summe auszurechnen.

„Für einen Sammler sind sie viel mehr wert als nur fünfundsiebzig Cent das Stück!“, sagte Gabe. „Vor allem, wenn das hier Herman Walters’ gesammelte Werke sind. Verkaufen Sie sie bloß nie so billig, Tante Crazy. Sie würden Sie förmlich verschenken.“

Verwirrt und besorgt sah sie ihn an. „Ach du meine Güte, ich fürchte, ich habe sie schon verschenkt.“

„Ja? Das verstehe ich nicht. Wie kommt es dann, dass Sie sie immer noch haben?“

„Eine Ausgabe habe ich Matthew und Samuel gegeben, und eine habe ich selbst behalten. Die Jungs haben sie so gerne gelesen, als sie klein waren.“ Sie lächelte bei der Erinnerung daran.

„Das habe ich auch“, murmelte Gabe, der immer noch in den Büchern blätterte. „Ich bin mit diesen Büchern groß geworden. Sie sind ein Grund dafür, dass ich das Schreiben zu meiner Lebensaufgabe gemacht habe.“

„Na, ist das nicht ein Zufall?“, rief Tante Crazy aus. „Und diese Bücher hier sind Herman Walters’ Lebenswerk! Sie erinnern mich ein bisschen an ihn.“

„Sie kannten Herman Walters?“, fragte er staunend.

„O ja. Sehr gut sogar. Schließlich hat er jedes einzelne dieser Bücher in meinem Steinhäuschen unten am Teich geschrieben.“

Ich beschloss, dass es Zeit war, mich in die Unterhaltung einzumischen. „Das ist kaum zu glauben, Tante Crazy. Er war ein berühmter Schriftsteller und –“

„Wow!“, unterbrach Gabe mich. „Sie haben auch alle Bücher von Betsy Gibson?“ Er hatte sich über die Bettkante gezogen und kramte in einer zweiten Bücherkiste. „Mir war nicht klar, dass Miss Gibson so viel geschrieben hat!“

„Ja, zweiundsechzig davon hat sie in meinem Cottage geschrieben.“

„Jetzt sag nicht, du hast auch Betsy Gibson gekannt“, sagte ich skeptisch.

„Doch, sie war eine gute Freundin von mir – aber wir erzählen es niemandem, nicht wahr, Liebes? Es kann unser kleines Geheimnis bleiben.“

Gabe und ich starrten sie an und überlegten, ob wir ihr glauben sollten oder nicht. Als Mädchen hatte ich jedes Betsy-Gibson-Buch gelesen, dessen ich habhaft werden konnte. Es waren positive Geschichten von mutigen jungen Mädchen, die auf der Suche nach Abenteuer und Liebe waren – und dabei meist irgendeine wichtige moralische Lektion lernten. An dem Tag, als ich in Deer Springs aus dem Zug gestiegen war, hatte ich mir eingeredet, dass ich genauso mutig sein konnte wie eine dieser Heldinnen. Aber konnte Tante Crazy wirklich die Autorin all dieser Bücher gekannt haben? Ich dachte an den Schreibtisch, der ihr ganzes Esszimmer ausfüllte, und die riesige Schreibmaschine, die darauf thronte. Ich kramte in einer dritten Kiste.

„Was ist mit all den anderen Schriftstellern?“, fragte ich, um sie auf die Probe zu stellen. „Jack London, Mark Twain, Charles Dickens. Haben sie auch alle ihre Bücher in deinem Häuschen geschrieben?“

„Sei nicht albern! Denen bin ich doch nie begegnet.“

„Aber Betsy Gibson und Herman Walters hast du gekannt?“, fragte ich.

„O ja, und zwar recht gut. Aber um ehrlich zu sein, ich mochte Mr Walters immer ein kleines bisschen lieber. Er war der Aufregendere von den beiden.“

Gabe lehnte sich in sein Kissen zurück und lachte. „Das ist unglaublich! Ihr Cottage war ein Schreibparadies für Herman Walters? Jetzt kann ich es gar nicht mehr abwarten, das Dach zu reparieren.“

Mir fiel wieder ein, was Gabe gerade versehentlich über sich selbst gesagt hatte, und ergriff die Gelegenheit, mehr über ihn zu erfahren. „Ich habe zufällig gesehen, dass Sie eine Schreibmaschine mit sich herumtragen, Gabe. Es schien mir ein merkwürdiger Besitz für einen Landstreicher. Sie haben gesagt, das Schreiben sei Ihre Lebensaufgabe?“ Sein Grinsen verflog.

Tante Crazy klatschte vergnügt in die Hände. „Oh, Sie sind ein Schriftsteller? Wie wundervoll! Was schreiben Sie denn so?“

Ich merkte, dass Gabe die Frage am liebsten nicht beantwortet hätte, aber während er in offensichtlicher Bewunderung von dem Buch in seiner Hand zu Tante Crazy aufsah, gestand er schließlich: „Ich bin Journalist. Ich schreibe als freier Mitarbeiter für die Chicago Tribune und manchmal für die Saturday Evening Post.“

„Und im Moment haben Sie keine Aufträge“, fragte sie, „oder ist das Ihre Verkleidung?“

„Ich habe recherchiert, Tante Crazy. Ich schreibe über das Leben als Landstreicher und über all die interessanten Menschen, die ich unter ihnen getroffen habe.“

„Darauf wäre ich nie gekommen!“, rief sie. „Sie sehen wirklich wie ein richtiger Penner aus, mit all dem zotteligen Haar – und Sie riechen sogar wie einer!“

„Danke“, sagte er mit einem schwachen Lächeln. „Ich bin schon eine ganze Zeit lang unterwegs, und meine Geschichte ist beinahe fertig. Ich war auf dem Weg zurück nach Chicago, um die Arbeit meinem Redakteur vorzulegen, als das kleine Missgeschick mit meinem Bein passiert ist.“

„Also, da Sie noch eine Weile aus dem Verkehr gezogen sind“, sagte Tante Crazy, „können Sie doch Ihre Geschichte auch hier tippen und sie mit der Post schicken. Ich bin Ihnen gerne behilflich. Was brauchen Sie, Schreibmaschinenpapier? Vielleicht einen kleinen Tisch, auf den wir Ihre Schreibmaschine stellen können? Wir können alles für ihn herrichten, nicht wahr, Liebes?“

„Ich denke schon“, stimmte ich zu. Bei Tante Crazy klang es so einfach, dass es sowohl Gabe als auch mir schwerfiel, es ihr abzuschlagen.

Noch am selben Tag schleppte sie ihre riesige Schreibmaschine samt einem Stapel Papier in mein Haus, weil sie darauf beharrte, dass sie viel besser sei als Gabes kleines klappriges Modell. Gabe arbeitete die ganze Woche über, wann immer sein Fieber es erlaubte. Er wurde noch schnell müde und musste immer wieder Pausen einlegen, um zu schlafen, aber dann hörte ich ihn wieder tippen, manchmal sogar mitten in der Nacht.

Als ich zu meiner Verabredung mit Mr Wakefield in die Stadt fuhr, war Gabes Geschichte fertig. Tante Crazy wickelte alles in Packpapier, und ich nahm das Päckchen mit nach Deer Springs und schickte es nach Chicago.

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„Wir haben ein Problem, Eliza.“ Die ersten Worte des Anwalts jagten mir einen Schauer über den Rücken. Ich brauchte keine weiteren Probleme. Ich hatte so schon genügend davon. Wie konnte Gott nur auf den Gedanken kommen, mir noch mehr aufzuladen?

„Wissen Sie, dass Ihr Schwiegervater in ziemlich großem Stil mit Warentermingeschäften zu tun hatte?“, fragte Mr Wakefield.

„Ich weiß gar nichts über seine Geschäfte. Ist das so, als wenn man an der Börse spekuliert?“

„Es ist ähnlich, nur dass es dabei um landwirtschaftliche Produkte geht und nicht um Firmenaktien. Leider können Warenterminhändler viel mehr Geld verlieren, als sie investiert haben – und wie es aussieht, hat Frank seine ganzen Ersparnisse verloren.“

„Das heißt, es ist überhaupt kein Geld mehr da? Wie soll ich dann Mr Preston von der Kreditbank ausbezahlen?“

Mr Wakefields kummervolles Gesicht erinnerte mich an einen schwermütigen Bluthund. „Es tut mir leid, aber das Geld muss immer noch innerhalb von neunzig Tagen bezahlt werden, sonst geht das Anwesen in den Besitz der Gläubiger der Bank über. Manche Leute veranstalten Auktionen und verkaufen die Betriebseinrichtung, um an Geld zu kommen. Aber ich muss Sie warnen, dass Sie bei der jetzigen Rezession nicht annähernd so viel für Ihre Sachen bekommen werden, wie sie wert sind. Und das gilt auch für Ackerland, fürchte ich.“

Ich war zu schockiert und fassungslos, um zu weinen. „Sie … Sie wollen also sagen, dass ich … abgesehen von der Plantage und den Arbeitsgeräten … pleite bin?“

Mr Wakefield schloss einen Moment lang die Augen, bevor er weitersprach. Ich fragte mich, ob er vielleicht betete. „Ich fürchte, es ist noch schlimmer, Eliza. Also, wie ich weiß, wollte Sam, dass das Anwesen an Sie und Ihre Kinder geht, aber Ihr Mann ist vor Ihrem Schwiegervater verstorben, deshalb hat Franks Testament Vorrang. Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber Frank hat alles seinem ältesten Sohn, Matthew Wyatt, hinterlassen. Hof und Land würden nur dann an seinen zweiten Sohn Samuel und dessen Familie fallen, falls Matthew ohne Erben sterben sollte. Franks Testament erwähnt Sie und Ihre Kinder mit keinem Wort. Offenbar wurde es vor längerer Zeit aufgesetzt.“

„Was wollen Sie damit sagen?“

„Der rechtmäßige Eigentümer von Wyatt Orchards ist Matthew Wyatt, und nicht Sie. Wir können den Titel nicht auf jemand anderen übertragen, es sei denn, Matthew verzichtet auf jeglichen Erbanspruch.“

„Matthew! Aber er ist doch tot, oder nicht?“

„Tja, das weiß ich nicht. Meine Kenntnis beschränkt sich darauf, dass Matthew etwa 1916 oder ’17 zur Armee gegangen ist und drüben in Frankreich gekämpft hat, aber Frank hat nie etwas davon gesagt, dass sein Ältester gestorben ist. Auch die Gedenkplakette an der Kirche, auf der die Namen all derer aufgelistet sind, die ihr Leben geopfert haben, enthält nicht den Namen von Matthew Wyatt. Ich hatte gehofft, Sie wüssten, wo er sich nach dem Krieg niedergelassen hat, so dass ich mich mit ihm hätte in Verbindung setzen können.“

Ich schüttelte den Kopf. „Weder mein Mann noch mein Schwiegervater haben jemals über ihn gesprochen. Nicht ein einziges Mal. Ich dachte immer, das läge daran, dass es ein zu großer Kummer für sie war. Ich war sicher, Matthew sei tot und –“ Ich verstummte, als mir klar wurde, dass ich dasselbe von meiner Mutter angenommen hatte.

„Vielleicht ist er ja tot, Eliza. Aber nach dem Gesetz brauche ich einen Totenschein, bevor ich die Besitzurkunde auf Sie überschreiben kann.“

„Und was soll ich jetzt machen?“

„Ich schlage vor, Sie gehen nach Hause und versuchen, in Ihren Unterlagen etwas über Ihre Familie zu finden. Sehen Sie nach, ob die Armee beispielsweise eine Benachrichtigung über seinen Tod geschickt hat, oder falls es in all den Jahren irgendeine Kommunikation mit Matthew gegeben hat, liefert vielleicht der Absender irgendeinen Hinweis. In der Zwischenzeit schreibe ich nach Washington. Die Akten, die dort gelagert sind, werden uns sagen können, ob Matthew gefallen ist oder entlassen wurde.“

„Wie lange wird das denn dauern? Die Bank will das Geld innerhalb von neunzig Tagen.“

„Es tut mir leid, aber das kann eine Weile dauern. Und was Alvin Greers Angebot betrifft, kann ich nicht aktiv werden, weil die Plantage nicht auf Ihren Namen läuft.“

Ich war erleichtert, dass es wenigstens eine positive Nachricht gab. Ich wollte Alvin Greer die Plantage nicht verkaufen, auch wenn er uns dort wohnen lassen würde.

„Aber nach allem, was ich Franks Papieren entnehmen kann“, sagte Mr Wakefield traurig, „gehört alles Matthew – das Haus, das Land, der Traktor und alle anderen Arbeitsgeräte … sogar der Lieferwagen.“

Ich hatte Frank Wyatt noch nie so sehr gehasst wie in diesem Augenblick. Er hatte meinen Kindern nicht nur ihren Vater genommen, sondern jetzt auch noch ihr Erbe, indem er alles, was rechtmäßig ihnen gehörte, seinem undankbaren Sohn vermacht hatte, der vor Jahren weggegangen war.

„Und was ist mit all den Jahren, die mein Mann für seinen Vater gearbeitet hat“, schrie ich, „und sich bei jedem Wetter abgerackert hat, um ihm auf der Plantage zu helfen? Was ist mit all der Knochenarbeit, die Sam geleistet hat, während Matthew Gott-weiß-wo war? Zählt das denn überhaupt nicht? Mein Mann ist gestorben, weil er für seinen Vater gearbeitet hat, und Sie sagen, seine Kinder bekommen nichts?“

„Es tut mir leid, Eliza … Ich weiß, wie Sie sich fühlen …“

„Nein, das wissen Sie nicht! Diese Plantage ist mein Zuhause und das meiner Kinder!“ Ich kämpfte gegen die aufsteigenden Tränen an, weil ich nicht weinen wollte, aber eine einzelne Träne kullerte trotzdem über meine Wange. Selbst Mr Wakefield schien feuchte Augen zu haben.

„Wenn wir Matthew Wyatt gefunden haben“, sagte er, „werde ich tun, was in meiner Macht steht, um ihn zu überzeugen, dass Sie und Ihre Kinder eine gerechte Entschädigung für all die Arbeit verdient haben, die Sam geleistet hat. Aber realistisch betrachtet wissen Sie doch auch, dass Sie Wyatt Orchards alleine nie weiterführen könnten. Vielleicht wusste Frank das auch.“

Frank wusste nur, dass ich eine Fremde war, und dafür hasste er mich. Das hier war seine Art, Sam dafür zu bestrafen, dass er keine gute Partie gemacht und kein zusätzliches Land in das kleine Königreich seines Vaters gebracht hatte. Das konnte ich verstehen. Was ich nicht verstand, war, wie ein Mensch seine eigenen Enkel enterben konnte – sein eigen Fleisch und Blut!

Als ich nach Hause kam, saß ich noch eine Weile draußen in der Auffahrt im Lieferwagen – Matthews Lieferwagen – und versuchte meine Gefühle in den Griff zu bekommen, bevor ich hineinging. Am liebsten hätte ich auf Frank Wyatts Grab gespuckt. Es war so ungerecht! Ich war entschlossener denn je, an diesem Land und diesem Zuhause, das eigentlich mir gehören sollte, so lange wie möglich festzuhalten. Ich musste herausfinden, was mit Matthew Wyatt geschehen war. Falls er wirklich noch am Leben war, bestand allerdings die Gefahr, dass ich ihn eigenhändig umbringen würde, so wütend, wie ich im Moment war.

Ich begann in Franks Büro. Wie es schien, hatte er in den letzten zwanzig Jahren über jeden Geschäftsvorgang, jede Rechnung, jede Quittung sorgfältig Buch geführt. Aber es gab nicht den geringsten Papierschnipsel mit Matthews Namen darauf – geschweige denn einen Brief oder eine Anschrift.

Als ich meine Suche dort erfolglos beendet hatte, holte ich die Trittleiter und kletterte auf den Dachboden. Während ich zwischen ausgemusterten Möbeln in staubigen Kisten und alten Überseekoffern kramte, musste ich daran denken, was Tante Crazy bei Franks Beerdigung gesagt hatte: „Auf dem Dachboden dieses Hauses liegt so unendlich viel Kummer.“ Sie wusste gar nicht, wie recht sie hatte!

Ich durchwühlte einen riesigen Berg mit Sachen, auf der Suche nach Fotoalben, Briefen oder anderen Erinnerungsstücken, die irgendwelche Informationen über Matthew beinhalten könnten. Es war viel zu kalt, um lange dort oben zu bleiben, deshalb trug ich alle Kisten, die vielversprechend aussahen, ins Wohnzimmer.

„Ach, sieh mal hier“, sagte Tante Crazy und zog eine perlenbestickte Handtasche aus einer der Kisten. „Die gehört meiner Schwester Lydia. Ich sehe sie noch vor mir – diese Tasche am einen Arm und einen Verehrer am anderen. Wie gerne das Mädchen doch getanzt hat!“

„Tante Crazy, kannst du bitte mit mir diese Bilder durchsehen?“, bat ich, als ich ein Fotoalbum der Familie zutage befördert hatte. „Vielleicht kannst du mir sagen, wer all diese Leute sind.“ Einige der Bilder waren mit Erläuterungen versehen, die mit weißer Tinte auf die schwarzen Seiten geschrieben worden waren, aber unter den meisten Fotos stand nichts. Mir wurde bewusst, dass ich Matthew nicht nur nie begegnet war, sondern dass ich auch noch nie ein Bild von ihm gesehen hatte.

„Warte, ich hole meine Brille.“ Sie kam damit zurück und setzte sich neben mich aufs Sofa, mit Becky auf dem Schoß. Zusammen blätterten wir drei durch das Album. „Eine Menge von denen sind Verwandte von Frank Wyatt“, sagte Tante Crazy, als wir die ersten Seiten betrachteten.

„Ich habe erst vor kurzem erfahren, dass er Verwandte in Deer Springs hatte“, sagte ich. „Es war eine ziemliche Überraschung, als Mrs Greer sagte, sie sei Franks Cousine.“

„Oh, ein paar von ihnen gibt es noch. Kennst du Julia Foster, die Frau vom Sheriff? Sie ist auch eine Wyatt-Cousine.“

„Ist das hier ein Bild von Lydia?“, fragte ich, während ich weiter in dem Buch blätterte. Meine Schwiegermutter war ein weiteres Rätsel, das ich nie verstanden hatte. Sowohl Sam als auch sein Vater waren sofort einsilbig geworden, wenn ich versucht hatte, etwas über Lydia zu erfahren. Da ich auf der anderen Seite ja auch nicht wollte, dass irgendjemand mir Fragen über meine Vergangenheit stellte, hatte ich die schlafenden Hunde lieber nicht geweckt.

„Lass mich mal sehen … hier! Das ist meine Schwester Lydia.“

„Oh, sie ist so schön!“ Die Frau, auf die Tante Crazy zeigte, war alles andere als die stämmige, von schwerer Arbeit gekennzeichnete Bauersfrau, die ich erwartet hatte. Lydia war eine solche Schönheit, dass es mir den Atem verschlug. Zum ersten Mal sah ich in das Gesicht meiner Schwiegermutter, und ich konnte mich gar nicht sattsehen. Ihre Schönheit war so zart, dass sie gleichzeitig unschuldig und verführerisch wirkte.

„Man käme nie darauf, dass wir Schwestern sind, oder?“, sagte Tante Crazy kichernd.

Ich sah Tante Crazy an und entdeckte nur wenige Ähnlichkeiten, abgesehen von den geschwungenen Augenbrauen und dem feinen Knochenbau beider Schwestern. Ich betrachtete Lydias dunkle Augen und anmutige Brauen und ihr unwiderstehliches Lächeln und suchte nach einer Ähnlichkeit zwischen meinem Mann und seiner Mutter. Aber ich fand keine. Sam war kräftig gebaut gewesen und hatte das kantige Gesicht, das helle Haar und die blauen Augen seines Vaters geerbt. Und doch kam mir irgendetwas an seiner Mutter bekannt vor, als hätte ich sie schon einmal gesehen, obwohl ich wusste, dass das nicht der Fall war.

Auf den nächsten Seiten sah ich Lydia auf verschiedenen Bildern, meist umgeben von ihren drei Söhnen in unterschiedlichem Alter. Es fiel mir schwer, Bilder anzusehen, auf denen Sam jung und stark und gesund gewesen war. Es faszinierte mich immer wieder, wie sehr mein Jimmy ihm glich. Auf beinahe allen Fotos stand Sam wie ein Schatten bei seinem älteren Bruder Matthew – so wie Luke immer an Jimmys Rockzipfel hing.

Lange starrte ich jedes Bild an, auf dem Matthew Wyatt zu sehen war. Er hatte das dunkle Haar und die dunklen Augen seiner Mutter und sah Sam so unähnlich, wie man seinem Bruder nur sehen kann. Der jüngste Bruder Willie sah wieder ganz anders aus. Dass Willie tot war, wusste ich sicher, denn ich hatte sein Grab in der Familiengruft neben den Grabstätten von Lydia und Frank gesehen – er war neben meinem Sam begraben. Den Daten auf Willies Grabstein nach zu urteilen, war er im Alter von neun Jahren gestorben – in Jimmys Alter. Tante Crazy zeigte auf das Bild.

„Das muss eines der letzten Fotos sein, das sie von dem kleinen Willie gemacht haben“, sagte sie mitfühlend.

„Wie ist er gestorben?“, fragte ich. „Ich habe vergessen, was Sam mir erzählt hat.“

„Armer Junge. Er ist in einem Winter auf dem Teich ins Eis eingebrochen und ertrunken.“

Ich spürte, wie ich bei diesem unheimlichen Zufall eine Gänsehaut bekam, als wäre ich gerade selbst in das eisige Wasser eingetaucht. Genauso war der Junge in Gabe Harfners Geschichte gestorben.

„Warst du dabei, als es passiert ist?“, fragte ich.

Sie wand sich ein wenig auf dem harten Sofa. „Na ja, der Teich ist ja gleich hinter meinem Haus, weißt du. Da bekomme ich schon eine Menge mit.“

„Hast du auch mitbekommen, was an dem Tag passiert ist, als Willie starb?“

Tante Crazy schob Becky sachte von ihrem Schoß und gab ihr die Perlenhandtasche, damit sie etwas hatte, womit sie auf dem Fußboden zu unseren Füßen spielen konnte, dann zog sie ein geblümtes Taschentuch aus dem Ärmel ihres gelben Pullovers und begann es duchzuwalken.

„Die drei Jungen waren mit ihren Schlitten den Hügel hinter meinem Haus hinuntergefahren – genauso wie deine drei Kinder es tun. Ich habe sie rufen und johlen hören, und dann war es auf einmal ganz ruhig. Ich dachte, sie wären vielleicht nach Hause gegangen. Aber als ich aus dem Fenster sah, standen Matthew und Willie draußen am Teich. Die Jungen liefen gerne Schlittschuh, wenn der Teich fest zugefroren war. Ich hatte Angst, sie würden es an diesem Tag versuchen, und ich wusste, dass es noch zu früh im Dezember war, als dass es ganz sicher hätte sein können.“

Wieder kroch mir eine Gänsehaut über den Rücken, als sie genau die Einzelheiten von Gabes Geschichte wiedergab.

„Ich versuchte, sie durch Rufen auf mich aufmerksam zu machen“, fuhr Tante Crazy fort, „aber sie hörten mich nicht. Ich ging, um meinen Mantel und meine Stiefel zu holen – ich habe mir hinterher immer Vorwürfe gemacht, weil ich so lange brauchte, um mich anzuziehen. Als ich schließlich hinausging, war Matthew ganz hysterisch und schrie, dass Willie ins Eis eingebrochen sei. ,Hol ihn raus! Hol ihn raus!‘, rief er. Ich musste meine ganze Kraft aufbringen, um ihn davon abzuhalten, hinterherzuspringen. Wir holten Hilfe, so schnell wir konnten, aber es war zu spät.“ Ich hörte die Tränen in Tante Crazys bebender Stimme. „Das arme Kind … und arme, arme Lydia.“

Es tat mir leid, dass ich solche schmerzlichen Erinnerungen wachgerufen hatte, aber ich musste noch etwas wissen. „War Willie Franks Wyatts Lieblingssohn?“, fragte ich.

„Es war eine Schande, wie er den Jungen vorzog und die beiden anderen misshandelte. Sie waren höllisch eifersüchtig auf ihn, und ich konnte es ihnen nicht verdenken. Der arme Matthew fühlte sich so schuldig am Schicksal des kleinen Willie, dass er immer wieder sagte, es sei seine Schuld gewesen. Ich habe ihm gesagt: ‚Hör damit auf! Sag das niemals, wenn dein Vater dabei ist!‘“

„War es denn die Wahrheit? War der Unfall Matthews Schuld?“

„Die Wahrheit ist, dass Frank Wyatt Willie getötet hat, weil er ungerecht war.“

Es gibt nur eine andere Person, die davon weiß, und ich glaube nicht, dass sie jemals etwas sagen wird, hatte Gabe geschrieben. Mein Herz begann wie ein Rennpferd zu galoppieren. Was, wenn unter all dem zotteligen Haar und wuchernden Bart – was, wenn Gabe Harfner in Wirklichkeit Matthew Wyatt war?

Ich dachte daran, wie er an jenem ersten Abend in meiner Küche gestanden und mich an Sam erinnert hatte. Er hatte sogar den Kopf geneigt und vor dem Essen gebetet, wie Sam es immer getan hatte. Und er hatte genau gewusst, welche Arbeiten draußen im Stall zu tun gewesen waren. Außerdem hatte er schuldbewusst dreingesehen, als ich ihn gefragt hatte, woher er meinen Namen kannte. Wieder lief mir ein Schauer über den Rücken.

Langsam blätterte ich weiter und starrte bei jedem Bild auf Matthew Wyatts Gesicht, auf der Suche nach einer Ähnlichkeit mit dem zottelhaarigen Mann in meinem Gästezimmer. Hatte Tante Crazy nicht auch gesagt, dass ihr Gabe irgendwie bekannt vorkam, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte? Und er nannte sie ganz natürlich Tante Crazy, wie es ein Fremder nicht getan hätte.

Vielleicht weigerte sich Gabe deshalb, zum Arzt zu gehen – vielleicht hatte er eine Narbe oder ein Muttermal oder irgendetwas, was der Hausarzt der Familie erkennen würde, vielleicht sogar diese Narbe auf seiner Brust. Und vielleicht war Gabe deshalb so verärgert gewesen, als ich ihm gesagt hatte, ich hätte seine Sachen durchsucht. Er wollte nicht, dass ich die Wahrheit herausfand.

Aber warum all die Geheimnistuerei, vor allem jetzt, wo sowohl sein Vater als auch sein Bruder tot waren? Warum legte er nicht einfach die Karten auf den Tisch und sagte, wer er war, wenn es stimmte? Ich konnte ihn schließlich schlecht fragen, ohne damit zuzugeben, dass ich in seinen Büchern gelesen hatte. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie er reagieren würde, wenn er erfuhr, dass das Haus und die Plantage jetzt ihm gehörten. Würde er uns alles wegnehmen? Uns in den Schnee hinausjagen? Es konnte doch sein, dass Gabe – oder Matthew oder wie auch immer er hieß – irgendwo selbst eine Frau und Kinder hatte, die nur darauf warteten, hier einzuziehen.

„Tante Crazy, was ist eigentlich aus Matthew geworden?“, fragte ich schließlich.

„Matthew?“ Sie sah sich mit besorgter Miene im Zimmer um, als wäre er gerade noch da gewesen und sie hätte ihn verlegt. Dann fasste sie sich wieder. „Nein, der Kleine heißt ja Jimmy“, sagte sie laut. „Matthew ging zur Armee und nach Frankreich, wo er im Krieg gekämpft hat.“

Der Krieg. Gabe hatte eine Feldflasche der US-Armee in seiner Tasche.

Ich war hin- und hergerissen. Einerseits wollte ich, dass Gabe Matthew war, damit er die Hypothek auslösen und mir auf der Plantage helfen konnte, andererseits hatte ich Angst, die Kinder und ich könnten unser Heim verlieren, und das durfte ich unter keinen Umständen zulassen.

„Der Krieg ist seit mehr als zehn Jahren zu Ende, Tante Crazy. Was ist danach mit Matthew passiert? Weißt du irgendetwas darüber? Ist er jemals wieder zurückgekommen?“

Tante Crazy kniff die Augen zusammen, während sie versuchte sich zu konzentrieren. „Matthew war immer noch in Frankreich, als seine Mutter starb. Ich habe ihm geschrieben, um ihm zu sagen, dass sie heimgegangen ist. Lydia hatte mir seine Adresse gegeben und mich gebeten ihm zu schreiben, bevor … bevor sie von uns ging …“ Es schien, als wollte Tante Crazy noch etwas hinzufügen. Ich wartete.

„Matthew schrieb mir nur das eine Mal“, fuhr sie fort. „Er dankte mir für die Nachricht und bat mich, für Sam zu sorgen. Das war alles – nur dieser eine kurze Brief. Ich glaube nicht, dass seither irgendjemand wieder von ihm gehört hat.“

„Hast du den Brief noch? Könnte ich ihn sehen?“ Ich kannte Gabes Handschrift und würde die beiden Schriftproben problemlos vergleichen können.

„Ich weiß nicht, ob ich den Brief aufgehoben habe. Ich könnte danach suchen. Ist es denn wichtig?“

„Ja, es ist sehr wichtig.“ Aber ich wusste, dass die Suche angesichts des Zustands, in dem Tante Crazys Haus sich momentan befand, hoffnungslos wäre. „Wenn Matthew in Frankreich gestorben wäre“, sagte ich, „hätte Frank Wyatt es dir dann erzählt?“

„Niemals! Frank hat seit der Nacht, in der er das Haus meines Vaters niedergebrannt hat, kein Wort mehr mit mir gesprochen.“

„Er hat das Haus deines Vaters niedergebrannt?“

„Ja, das hat er! Er wollte Pfirsichbäume auf dem Grundstück anpflanzen und mein Haus war ihm im Weg. Oh, er hat versucht es so aussehen zu lassen, als wäre es ein Unfall gewesen, aber ich wusste es besser. Ich sage dir, Liebes – so sicher wie Äpfel an Apfelbäumen wachsen: Frank Wyatt hat damals das Feuer gelegt. Und ich musste seitdem in dem kleinen Cottage wohnen.“

Sie beschrieb eine Geschichte, von der ich nichts wusste, und ich war gar nicht sicher, ob ich mehr darüber erfahren wollte. Vom ersten Tag an hatte ich Angst vor meinem Schwiegervater gehabt. Später hatte ich ihn gehasst, weil er Sam hatte sterben lassen. Er hatte immer darauf beharrt, Tante Crazy sei verrückt. Jetzt fragte ich mich, wem ich glauben sollte.

„Wenn ich es mir recht überlege“, sagte sie, „würde es mich nicht wundern, wenn Frank Wyatt auch mein Küchendach zum Einsturz gebracht hätte.“

„Aber er ist letzten November gestorben. Wie soll er –“

„Oh, du kennst ihn nicht so gut wie ich, Liebes! Er könnte die Dachbalken angesägt und auf den Schnee gewartet haben.“

Ich seufzte erschöpft. Eine Frage hatte ich noch, bevor ich beginnen konnte, nach den Antworten zu suchen. Ich blätterte zur letzten Seite des Albums und fand das letzte Bild von Matthew. Er war ungefähr achtzehn Jahre alt und stand neben seinem Bruder Sam. Hinter ihm sah man das frisch gemalte Schild an der Scheune: Wyatt Orchards – Frank Wyatt & Söhne. Vorsichtig löste ich das Foto heraus und reichte es Tante Crazy.

„Ich muss Matthew finden, Tante Crazy. Hast du irgendeine Ahnung, was mit ihm passiert sein könnte?“

Tante Crazy antwortete nicht. Ihre Gedanken waren an einen anderen Ort, in eine andere Zeit entflohen. In der Stille hörte ich den Güterzug hinter der Plantage entlangrattern. Der klagende Ton der Signalpfeife erinnerte mich wie immer an all die Jahre, in denen ich mich nach einem Zuhause gesehnt hatte. Ich war mit dem Zug kreuz und quer durchs Land gereist und hatte die Lichter in den Häusern gesehen, an denen ich vorbeigefahren war, während ich von einer eigenen Familie und einem Haus wie diesem geträumt hatte. Vor zehn Jahren hatte ich die Entscheidung getroffen, mir Wyatt Orchards zu eigen zu machen – ohne die verborgenen Geheimnisse und Qualen zu kennen und gänzlich unvorbereitet auf das, worauf ich mich eingelassen hatte.

Aber jetzt hatte ich drei Kinder, an die ich denken musste. Kinder, für die ich mein Leben opfern würde. Ich musste eine Möglichkeit finden, wie ich für sie sorgen und ihr Zuhause behalten konnte, auf das sie ein Recht hatten. Ich musste beweisen, dass Matthew Wyatt tot war.

„Bitte, Tante Crazy. Wenn du irgendetwas über Matthew weißt, dann sag es mir bitte!“

Sie runzelte die Stirn. „Wenn du verstehen willst, was mit Matthew geschehen ist, dann musst du zuerst meine Schwester Lydia verstehen.“

„Erzähl mir alles, was du für wichtig hältst. Ich will diese Plantage nicht verlieren. Ich will sie für meine Kinder. Sie ist ihr Zuhause – mein Zuhause.“

Sie warf mir einen skeptischen Blick zu, und ihre Miene war plötzlich zornig. „Bist du sicher, dass du diesen Ort für die Kleinen behalten willst? Der Preis ist sehr hoch.“

„Ich weiß. Der Mann von der Bank will fünfhundert Dollar, und wenn ich sie nicht innerhalb von neunzig Tagen bezahlen kann, verlieren wir alles.“

Sie wandte sich ab. „Oh, sie kostet noch viel mehr. Sie hat bereits das Leben der Menschen gekostet, die ich geliebt habe …“

Teil 2

Lydias Geschichte
Deer Springs, 1894

„Wir müssen Engel füreinander sein, um einander Kraft und Trost zu geben. Denn nur wenn wir uns ganz klar darüber sind, dass der Krug des Lebens nicht nur ein Krug des Leidens, sondern auch ein Krug der Freude ist, werden wir ihn bis zur Neige auskosten können.“

Henri Nouwen