Celans Kreidestern
Ein Bericht
Mit Briefen
und anderen unveröffentlichten Dokumenten
Unter Mitwirkung von Bertrand Badiou
Suhrkamp
ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010
© Suhrkamp Verlag Berlin 2010
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das
des öffentlichen Vortrags, der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen
sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile.
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme
verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.
www.suhrkamp.de
eISBN 978-3-518-73420-9
Inhalt
Vorbemerkung
Autobiographische Einleitung: Von Linz nach Paris
Kindheit und Jugend (1928-1951)
Spätere Jahre in Paris (nach 1962)
Erinnertes: Paul Celan
»Im Nichts einer Nacht« – Erste Begegnung (1952) 31
Schuberts »Unvollendete« (1953-1957)
»Wie machst du das, du, mit deiner Seele?« –
Meine Notizen (1957-1958)
Im Schatten der »Goll-Affäre« (1959-1960)
»Man muß sich auf den Abend vorbereiten«
(1960-1962 und spätere Jahre)
»Verjuden« (1961-1962)
Zeitloses
Anmerkungen
Bildteil
Dokumente: Briefwechsel und Texte
Abbildungen
Danksagung
Siglen
Register
Werkregister
Personenregister
Es war nicht meine Absicht, meine Erinnerungen zu schreiben und mit verschiedenen Zeugnissen, die mir von meiner Begegnung mit Paul Celan verblieben sind, zu veröffentlichen. Ich hätte es nicht getan, wenn mir nicht bekanntgeworden wäre, daß einige meiner Briefe und ein Bündel unveröffentlichter Gedichte im Nachlaß Paul Celans, im Deutschen Literaturarchiv Marbach, aufbewahrt und daher im Prinzip zugänglich sind, ohne daß der vielleicht darauf stoßende Forscher wissen könnte, wie sie dorthin gelangt sind: Ich war bisher der Überzeugung, daß Paul Celan sie zerstört hat. Im Verlauf der vielen Jahre, die seit dem Tod des Dichters vergangen sind, habe ich wohl das steigende Interesse für sein Werk wahrgenommen wie auch die unzähligen Interpretationen, die in letzter Zeit den Büchermarkt überschwemmen, um den neuerdings – besonders aus französischer Sicht – »größten Dichter deutscher Sprache« unserer Zeit ins Licht zu stellen. Ich habe sie nicht gelesen. Mit wenigen Ausnahmen.1 In manchen Vorträgen – etwa von Jürgen Habermas, George Steiner oder Jean Bollack – fiel sein Name immer öfter. Wobei ich den Eindruck gewann, daß die Kommentatoren von jemand mir ganz Unbekanntem sprachen; was sie sagten und meine Erinnerungen stimmten nicht überein. Von Zeit zu Zeit kamen mir eine Zeitschrift, ein Zeitungsartikel unter die Augen, aber erst kürzlich die hervorragenden und äußerst genauen Editionsarbeiten2 in Deutschland und in Frankreich, insbesonders dank des Nachlaßbetreuers und vielfachen Herausgebers Bertrand Badiou, der als erster Mitarbeiter der Paul-Celan-Forschungsstelle an der École normale supérieure (ENS) auch als Übersetzer hervorgetreten ist.3 Nach langem Zögern meinerseits war es dann Bertrand Badiou, der mich dazu brachte, das Schweigen der Intimität zu brechen. Es ist durchaus möglich, daß meine Erinnerungen nicht immer festgegründet sind, mein Gedächtnis schwankend: wie immer, wenn ein Gedenken weit zurückgreifen muß – mehr als ein halbes Jahrhundert in diesem Fall. Obwohl es vermutlich nur noch wenige in jener Zeit beheimatete Gegenstimmen gibt, die mein Zeugnis da und dort berichtigen könnten, will ich mein möglichstes versuchen. Manche Bilder und Aussagen sind mir gegenwärtig, so als wäre es gestern gewesen; vieles taucht auf aus der Verschwommenheit, wenn Fragen an mich gerichtet werden; lange und ständig wiederholte Gespräche mit Bertrand Badiou, von seiner genauen Kenntnis von Werk und Mensch gespeist, waren mir von großer Hilfe, um einiges schon Vergessengeglaubte ins Gedächtnis zu rufen. Celans Sohn Eric bin ich ganz besonders zu Dank verpflichtet für seine überaus freundliche Zustimmung, die geheime Seite des Lebens seines Vaters ins öffentliche Licht zu stellen. Er war es schließlich, der mein Manuskript der Schriftstellerin und Leiterin des Suhrkamp Verlags, Ulla Unseld-Berkéwicz, anläßlich eines Treffens mit ihr im Hotel Lutetia in Paris überreichte.
Auf das Risiko hin, den Bericht weniger flüssig zu gestalten, habe ich viele erst jetzt bekannte Einzelheiten und Fakten meinen Daten gegenübergestellt, nicht ohne die unterschiedlichen Zeitebenen jeweils so genau als möglich anzugeben. Ich möchte unterstreichen, daß diese Gegenüberstellung, wenn ich so sagen darf, eine »Entdeckungsfahrt« in unbetretenes Land für mich bedeutete, die nicht nur dazu diente, Längstvergangenes und Nieerzähltes wieder hervorzuholen, sondern mir selbst dazu verhalf, mir völlig unbekannt gebliebene Aspekte von Celans Leben und Werk neu einzuordnen.
Wenn auch meine Erlebnisse mit der Existenz eines nicht leicht zu verstehenden Dichters zu tun haben – in keinem Fall kann es sich hier um Gedichtinterpretationen handeln, um »Entzifferungsversuche«, die jedem Leser in der persönlichen Konfrontation mit dieser Dichtung überlassen bleiben. »Aber das Gedicht spricht ja!«4– nur in diesem Sinn, von seiner Wirklichkeit her, soll hier davon die Rede sein. Gleichwohl wird es nicht zu umgehen sein, daß so manches auch in den Gedichten mich persönlich Berührende in den Bericht einfließt, jedoch möchte ich es soweit als möglich in Grenzen halten und es nur insoweit berücksichtigen, als es den zu beschreibenden Zeitraum (1952-1962) zu erhellen beiträgt.
Dem allen mögen einige biographische Angaben vorangestellt sein, die anzeigen sollen, wo ich herkam und welche Erlebniswelt – von Krieg und Nachkriegszeit geprägt – ich mitbrachte, als ich mich im November 1951 in Paris niederließ. Von so manchen Episoden und frühen Eindrücken mag ich Celan erzählt haben, ohne daß ich zu sagen wüßte, welche es gewesen sind.
Ich wurde am 11. August 1928 in Linz als drittes Kind meiner Eltern, Josef und Elisabeth Eisenreich, geboren. Mein Vater – ursprünglich Präzeptor für Latein, Griechisch und Mathematik in einem adeligen Haushalt im oberösterreichischen Innviertel, wo auch meine Mutter Deutsch, Englisch und Französisch unterrichtete – war später Bankbeamter in der Linzer Hypothekenanstalt. Er verstarb schon im Jahr 1931 im Alter von nur 38 Jahren. Meine Kindheit und frühen Jugendjahre habe ich nicht unweit von Linz, in Enns, verbracht – der historisch nicht unbedeutenden Stadt, angeblich die älteste Österreichs, nahe der Ennsmündung in die Donau auf einem Hügel gelegen, von wo aus der Blick zum ersten Mal die weiten Ebenen des Ostens, fast schon Pannoniens, erahnt. Wir wohnten in einer der kleinen Villen mit Garten im alten Vorort Lorch, dem römischen Lauriacum, auf dessen versunkenen Resten unser Haus stand. Meine Eltern, die längere Perioden ihres Lebens bei österreichischen Großadelsfamilien in jetzt zu Italien oder Böhmen gehörenden Gegenden verbracht hatten, stammten noch aus der alten Welt der Habsburgermonarchie, insbesonders meine 1885, noch in der Blütezeit des 19. Jahrhunderts, in Südtirol geborene, in Meran ausgebildete Mutter war ihr in unverbrüchlicher Treue verbunden. Trotz aller materiellen Schwierigkeiten ihrer Witwenschaft hat sie es nie bereut, dem guten Kaiser Franz Joseph gegen Ende des Ersten Weltkriegs ihr kleines Vermögen überschrieben zu haben – eine verlorene Staatsanleihe, für die sie einen metallenen, bleifarbenen Ring erhielt, in den »Gold gab ich für Eisen« eingraviert war. Staunend habe ich ihn als Kind betrachtet. Zunächst wurde ich einer Kinderfrau anvertraut, mit der ich die meiste Zeit in Küche und Garten verbrachte, bis sie unseren verarmten Haushalt verlassen mußte. Ich war kein gefügiges Kind, gelegentlich lief ich davon, und die Geschichte mit Gott, trotz aller Frömmigkeit meiner Mutter, schien mir schon sehr bald verdächtig. Nur an die Engel glaubte ich fest – es waren ja die Toten, mein Vater und ein Brüderchen »im Himmel«, die durch die Lüfte flogen und dort sonst nichts zu tun hatten, als auf mich wohlwollend herabzublicken. In Enns habe ich auch die Volksschule und dann die Hauptschule, bis zu meinem 14. Lebensjahr, frequentiert. Ich galt als begabt, aber nicht gerade fleißig – »wenn sie nur wollte«, hieß es. Dann wurde ich »Fahrschülerin«, um die damals so genannte Mädchenoberschule im zwanzig Kilometer entfernten Linz zu besuchen (1942-1944), wobei ich das letzte Jahr zumeist im Luftschutzkeller verbringen mußte. Dann, bis zum Herbst 1945, wurden die Schulen gesperrt, nachdem die Jugendlichen noch gezwungen worden waren, am letzten Aufgebot des »totalen Kriegs« teilzunehmen. Die 17- bis 18jährigen, also die Mädchen der Altersklasse vor mir, mußten sich als »Flak-Helferinnen« ausbilden lassen. Verwandte von mir – alte Reservisten und blutjunge Rekruten – wie auch so manche Spielgefährten aus früher Zeit sind nicht aus dem Krieg zurückgekommen, einer verlor in Berlin, als unfreiwilliger »Volksstürmer«, ein Auge; Klassenkameradinnen kamen schwarzgekleidet, dem Vater oder dem Bruder nachtrauernd, in den Unterricht. Die noch jüngeren Mädchen, also auch ich, wurden zu allerlei Zivildiensten eingesetzt – Schutt der zerbombten Häuser wegräumen, im Kindergarten aushelfen, nächtliche Hilfsdienste bei den durch die Stadt ziehenden Flüchtlingsströmen aus dem Osten leisten; ich mußte bei der Post als Telegrammausträgerin mit meinem Fahrrad über Land fahren – bis in die entlegensten Bauernhöfe. Häufig handelte es sich um Todesanzeigen gefallener Söhne. Ganz zum Schluß sollte ich helfen, am Ufer der Enns Schützengräben als Wall gegen die herannahende Rote Armee auszuheben. Gemeinsam mit anderen, noch viel jüngeren Kindern aus dem Städtchen wurde ich von Gendarmen geholt; wir sollten Schaufeln mitbringen, die meisten aber hatten nur kleine Kohlenschaufeln, ein junger übereifriger Leutnant überwachte uns. Der Boden erwies sich als vollständig von den Wurzeln der Weiden durchwachsen und also undurchdringlich. Ich war zunächst guten Willens, weil ich mir dachte, daß vielleicht irgendein Soldat in dem Loch seine Haut retten könnte. Dann aber sagte ich dem Leutnant, wie unsinnig das Unternehmen wäre, worauf er drohend mit seiner Pistole herumfuchtelte und wir einander böse in die Augen blickten. Die Kinder nützten die Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen, und auch ich und der Leutnant zogen ab. Auch die Stadtbevölkerung weigerte sich, Bollwerke aufzustellen, wie die bei Kriegsende dort stationierte und immer noch anwesende SS-Einheit es forderte. Enns war eine alte Garnisonstadt mit einer Heeresschule und einer Dragonerkaserne, die aus k. u. k. Zeiten stammten und dann, nach einem Zwischenspiel im Rahmen der Ersten Republik Österreich, in die Hände der deutschen Wehrmacht übergegangen waren. In der sogenannten »Dollfuss-Zeit«, die die Zeit meiner Kindheit war, gab es dort eine Ansammlung von weiß uniformierten »Einjährig-Freiwilligen« hoch zu Roß, meist Söhnen des alten Adels, die ich als Kind noch selbst durch die Straßen hatte reiten sehen und bei denen ich, da einer von ihnen bei uns Quartier genommen hatte, aufgeregt und herzklopfend sogar einmal aufsitzen durfte. Im Verlauf des Krieges bildete sich in den Kasernen eine Widerstandsgruppe heraus, von deren Existenz ich bei Kriegsende Kenntnis hatte, deren tatsächlich unternommene Aktionen jedoch lange geheim blieben, wie es die Natur der Sache forderte. In der dort befindlichen Reitschule aber, in einer Zeit, da es noch keine Medien gab, wurde die Bevölkerung zusammengetrommelt, um Hitlers und Goebbels’ Reden anzuhören – auch ich mußte dem einmal beiwohnen, jedoch erinnere ich mich nicht, daß die Reden, die aus den Lautsprechern dröhnten, eine besondere Begeisterung ausgelöst hätten; die Leute rund um mich verhielten sich schweigend.
Das Schlüsselerlebnis meiner Kindheit war der Einmarsch der deutschen Truppen im Jahr 1938 gewesen, der sogenannte »Anschluß«, als ich noch nicht ganz 10 Jahre alt war. Neugierig stand ich am Straßenrand der Wiener Landstraße, die dann Wiener Reichsstraße hieß, und sah die fremdartigen Gesichter unter den Helmen und die staubbedeckten Stiefel, sah die blumenwerfende Menge, die aber so gar nicht der üblichen Bevölkerung, sondern eher dem Pöbel glich, sah daheim die Verzweiflung meiner Mutter und ihrer Freunde, aber auch den stillen Jubel einer von mir sehr verehrten Lehrerin, die bei uns wohnte. Zum ersten Mal verstand ich, was, im Gegensatz zum österreichischen Selbstbehauptungsgefühl der ersten Republik und des Ständestaats, der Begriff »großdeutsch« bedeutete, daß es eine andere Welt gab als die mir bekannte und daß diese Welt, ganz allgemein, nicht so einfach war, wie ich sie bisher erlebt hatte. Die sogenannte »großdeutsche Lösung« – das heißt der Zusammenschluß der deutschsprachigen Minorität des 1918 aufgelösten Großreichs Österreich-Ungarn mit der Weimarer Republik – wurde allseits, auch von den Sozialisten, was heute vielfach in Vergessenheit geraten ist, aktiv unterstützt und unterscheidet sich dadurch vom gesetzeswidrigen »Heim-ins-Reich«-Streben der bis 1938 in Österreich »illegalen« Nationalsozialisten. Unvergeßlich sind mir die zuvor überall plakatierten pathetischen Aufrufe des Bundeskanzlers Schuschnigg – in einer Kastanienallee auf dem Schulweg sehe ich mich noch davor stehen und begreifen lernen; auch an die aufgeregten Gespräche der potentiellen Nein-Sager – darunter meine Mutter – anläßlich der von den neuen Machthabern organisierten Volksabstimmung kann ich mich gut erinnern. In Enns, mit seinen ungefähr fünftausend Einwohnern, gab es schließlich deren zehn oder zwölf, und jedermann wußte, daß es die alten Monarchisten waren, Barone, Grafen, ausgediente Generäle und Offiziere der ehemals kaiserlichen Armee, von denen etliche in Enns ansässig waren. Der Rest der Bevölkerung, auch durch kirchliche Aufrufe des Wiener Erzbischofs Innitzer dazu aufgemuntert, stimmte dem Anschluß zu. Oder hatte Angst vor den vorhersehbaren Folgen jedweder ablehnenden Haltung – allgemein wurde angenommen, daß die Wahl »Für« oder »Wider« nicht geheim war. Wie mit einem Schlag begriff ich damals, daß hinter dem Gartenzaun die große, vielleicht böse Welt begann.
In der übrigens ausgezeichneten, noch von der bekannten Glöckel-Reform5 her bestimmten Volksschule wurde meine Lehrerin von heute auf morgen abgesetzt; eine von den neuen Machthabern in den Kreisen der »Illegalen« willkürlich erwählte Privatperson sollte an ihre Stelle treten. Da sich erwies, wie unfähig diese war, eine Klasse zu führen, kam bald darauf die angestammte, sehr katholische Lehrkraft wieder zurück. Im »Österreichischen Liederquell«, Grundlage der Gesangsstunden, mußte die Bundeshymne durch das »Deutschlandlied« überklebt werden, die Kreuze in den Klassen wurden abgeschafft, der Religionsunterricht wurde durch »Leibesübungen« ersetzt, neue Lieder mußten gesungen werden, darunter jenes von den »morschen Knochen« mit dem berüchtigten Refrain: »Wir werden weiter marschieren, / Wenn alles in Scherben fällt, / Und heute gehört uns Deutschland / Und morgen die ganze Welt.« (So wurde gesungen. Der Originaltext des Kampfliedes der SA von Hans Baumann, der noch vom »Hören« bzw. Gehörtwerden der Bewegung spricht, findet sich in diesem Lied schon kurz vor Kriegsbeginn in Eroberungsgelüste umgemünzt.) Die Kinder wagten es gelegentlich, den Religionslehrer, solange es ihn noch gab, zu verspotten, der neue Direktor der Hauptschule war offensichtlich, mit seinen zahlreichen »Schmissen« im Gesicht, in seiner Jugend bei den schlagenden und »deutschnational«, wenn nicht gar »alldeutsch« gesinnten Burschenschaften gewesen, aber im großen und ganzen blieb der Unterricht neutral. In der Oberschule gab es eine Geschichtsprofessorin, die mit glänzenden Augen von Georg von Schönerer 6 schwärmte, Stresemann 7 als erbärmlichen Unhold darstellte und den Aufstieg des Nationalsozialismus zum Studienobjekt machte; der es auch gelungen war, mir im Verein mit den ihr gleichgesinnten Turn- und Zeichenlehrerinnen genügend schlechte Noten auszustellen, um mich aus der Schule kurzfristig auszuschließen. Es erwies sich, daß die übrigen Lehrer, meist unparteiische Damen oder aus der Pensionierung zurückgeholte ältere Herren, mit ihr keineswegs solidarisch waren. Jedoch hat sie sich, was mich anbelangt, nicht wirklich geirrt – ich gehörte schon längst zu den Widerspenstigen, die sich in katholischen Gruppierungen wiederfanden, die sich bemühten, so gut sie konnten und unter dem Deckmantel liturgischer Erneuerungsziele, subversives Gedankengut zu verbreiten. In Enns geschah das im Verein mit einem im Widerstand aktiven Priester; in Linz, bei Treffen in der Krypta des Doms, unter Anleitung eines geistlichen Herrn, der uns nicht nur die verbotenen Lehren Freuds und Einsteins erklärte und sogar von Darwin zu berichten wußte, sondern auch in Lichtbildervorträgen die Höhepunkte deutscher Kunst vor Augen führte, das andere Deutschland sozusagen – unvergeßlich sind mir die Gestalten des Isenheimer Altars von Grünewald, der in die Nacht weisende hochgereckte Finger Johannes des Täufers, die schmerzgekrümmten Frauen zu Füßen des Kreuzes. Celan wird das Museum Unterlinden in Kolmar, das den Flügelaltar ausstellt, kurz vor seinem Tod, am 25. März 1970, besuchen und, beim Anblick des als »König der Juden« Gemarterten und Gekreuzigten, ausrufen: »Es ist genug!« 8 Die Inschrift auf dieser Darstellung – »INRI«, das heißt Iesus Nazarenus Rex Judæorum – ist verhältnismäßig groß und fällt deshalb besonders ins Auge.
In Enns war der junge Kaplan der Gestapo verdächtig erschienen, aber da er von einem Mädchen unserer Gruppe rechtzeitig von ihrem Eintreffen verständigt wurde, konnte er noch alles kompromittierende Material vernichten. Auch ich wurde verhört, man suchte mich einzuschüchtern und wollte wissen, was wir denn an der Kirche Besonderes fänden, warum wir stehend die Gebete und Lesungen vortrügen und nicht sitzend wie jedermann und so weiter. Daraufhin hat die Gestapo mich, mit Staunen meine »liturgischen Erklärungen« zur Kenntnis nehmend, zu meinem Glück eher als leicht verrückt denn als wirklich gefährlich für das System eingestuft. Wegen der politischen Einstellung meiner Mutter dürfte meine Familie schon längst auf der »schwarzen Liste« gestanden haben; die Verdächtigung durch die Gestapo, daß ich der monarchistischen Untergrundbewegung »Das blaue Band« angehöre, traf keineswegs zu; von ihren Beamten erfuhr ich erst, daß es diese überhaupt gab. Daß ich gelegentlich mit dem Fahrrad nach Linz fuhr, um verschlüsselte Nachrichten an auch mir unbekannt bleibende Personen zu übermitteln, verriet ich wohlweislich nicht.
Die im Rahmen der katholischen Kirche sich zusammenfindenden Gruppierungen boten in der Hitler-Zeit in meinem Umkreis die einzige Möglichkeit, gegen den Strom zu schwimmen; sie bedeuteten mir letzten Endes wenig im ideellen Bereich, und so war es mir ein leichtes, mich im besiegten, aber noch nicht unabhängigen Nachkriegsösterreich davon zu trennen. Hingegen näherte ich mich dann einer bald verschwundenen, sehr links ausgerichteten Bewegung, der für den christlichen Solidarismus eintretenden »Demokratischen Union«. Den führenden politischen Gremien der Jahre nach 1945 konnte ich nichts abgewinnen, eine leuchtende hoffnungversprechende Zukunft schien sich nicht abzuzeichnen, vergleichbar etwa den utopischen Vorstellungen, die mich anzogen: Gleich nach Kriegsschluß war in Enns ein Mann aufgetaucht, der für die Idee des »Weltbürgertums« warb. Eine »Weltbürgerin« wollte ich sofort sein, und so bekam ich eine Mitgliedskarte mit der Nummer 1. Andere »Weltbürger« habe ich allerdings dann nicht mehr getroffen, das Ganze hat sich augenscheinlich im Sand verlaufen.
Das zweite einschneidende Erlebnis meiner jungen Jahre war der Beginn des Zweiten Weltkriegs, mit Hitlers Einmarsch in Polen. Ich war auf Ferien in Italien, in Südtirol, bei meinen Verwandten mütterlicherseits, und sollte bis Mitte September dort bleiben. Italien verfügte sofort die Ausweisung aller Ausländer, so daß ich mich von heute auf morgen, allein mit meinen elf Jahren, in einem schon verdunkelten, nur von einer blauen Glühbirne trüb erhellten und überfüllten Nachtzug befand, eingekeilt zwischen Menschen, die nur schaudernd vom vorigen Weltkrieg und dessen Schrecken zu berichten wußten. Niemand bewies auch nur einen Hauch von Kriegsbegeisterung – Angst und Sorge war auf allen Gesichtern zu lesen. Wie ganz allgemein zu beobachten war – die große Begeisterung von 1938 war sehr bald in manchen Kreisen einer gewissen Ernüchterung gewichen, besonders infolge einschneidender »Eindeutschungen« im Verwaltungswesen, die von den zugewanderten sogenanten »Reichsdeutschen« getragen wurden, als »Piefkes« schon wegen des Sprachunterschieds nicht allzu beliebt. Jedoch glaubte man weiterhin, ebenso vage wie unerschütterlich, an Hitler, an die Unbefleckte Empfängnis und an den Osterhasen.
In den folgenden Jahren gelang es mir, den eigentlich pflichtmäßigen Schulungen und Sportveranstaltugen der Hitlerjugend zu entgehen. Wie die meisten »Bonzen« (die im Hinterland verbliebenen Parteifunktionäre) war die Anführerin meiner BDM-Gruppe nicht ortsansässig und zudem ziemlich dumm. Einmal wurde ich unter Strafandrohung zu den Heimabenden hinbeordert; nachdem ich mein in der Schule erworbenes Wissen über das altgermanische Julfest, das Weihnachten ersetzen sollte, zum besten gegeben hatte, wobei ich sie an Kenntnissen einigermaßen übertraf und sie den Eindruck gewann, daß ich sie lächerlich gemacht hatte, ließ man mich fortan in Ruhe. Von diesem Mädchen wurde mir noch bekannt, daß es im Rahmen der Hitlerjugend freiwillig die Panzerfaust »Werwolf« zu bedienen erlernte und dann in den letzten Kämpfen umgekommen ist.
In Enns gehörte die städtische Bevölkerung mehrheitlich der traditionell »roten«, vor dem Krieg von der Arbeitslosigkeit schwer getroffenen Arbeiterschaft an, die aber bald, im Verlauf des Krieges, nur mehr durch ihre Frauen und Kinder vertreten war; einige Bürger und Kaufleute waren am meisten mit dem Regime verbunden; im Umkreis gab es Großbauern und Kleinhäusler, traditionell »schwarz«; fast alle wurden in den Sog der Propaganda und auch der fortan blühenden Kriegswirtschaft gezogen. In Linz waren meine Schulkolleginnen meist bürgerlicher und kleinbürgerlicher Herkunft; eine einzige unter ihnen glaubte felsenfest an die neue Lehre und wurde wegen ihres pantheistischen Gottglaubens gehänselt – ob denn der Tisch vor ihr auch von göttlicher Substanz durchdrungen sei, ob sie gar auf ihr säße? Im Gegensatz zu den obligatorischen Lesebüchern, die voller Nazi- und »Blubo«-Literatur9 waren, retteten sich die Lehrer in klassische Werte – man las Lessing, Kleist, Goethe und Conrad Ferdinand Meyer, man hörte von der Ilias und griechischer Geschichte ebenso wie von der nordischen Sagenwelt, man vermied es aber, alles Verbotene auch nur zu erwähnen. Das Gebäude meiner Schule war dasselbe, das einst Hitler besucht hatte, weshalb in den Gängen einige ihm zugeschriebene Aquarelle recht konventionellen Stils hingen, die niemand beachtete. Nur in der Zeichenstunde sollte man seinen »Ahnenpaß« normengerecht darstellen; da die Herkunft meines Großvaters, Josef Eisenreich, im dunkeln liegt und mein eher bildhafter Name für so manchen einen jüdischen Klang hatte, galt ich auch hier als verdächtig.
Im allgemeinen aber wurden »Rassenreinheit« und »Germanentum« nicht thematisiert. Derlei ideologische Theoreme kamen aus den Rundfunkansprachen, aus der Wochenschau im Kino, aus den Zeitungen, aus den Plakaten und Transparenten auf den Straßen auf uns zu und beherrschten den öffentlichen Sprachgebrauch. Von der Existenz jüdischer Bevölkerungsteile wußte ich in meinen jungen Jahren wenig, doch die Gehässigkeit eines Slogans – »Jetzt herrscht der Russe Molotov und nicht der Jude Litvinov« – fiel mir allsogleich auf,10 genauso wie die Fadenscheinigkeit der Begründung für die Enteignung des Großkaufhauses Kraus und Schober in Linz. Obwohl von der »Ausrottung der Juden« schon bei Hitler nachzulesen ist und die radikale Ausgrenzung der Juden im Parteiprogramm11 festgeschrieben war, wurde darüber eigentlich nicht debattiert, und wenn, dann hinter geschlossenen Türen. In Enns gab es, soviel ich weiß, vor der Naziherrschaft einen Juden und zwei »Halbjüdinnen«. Der Jude, ein Beamter in Untermiete, wurde von seinem Zimmerherrn als solcher denunziert und verschwand. Kommentarlos. Die eine »Halbjüdin« war ein junges Mädchen, deren im Ausland lebende Eltern sie in einem Heim langfristig untergebracht hatten; sie wurde dazu mißbraucht, Dienstbotenarbeit zu leisten, noch dazu unter dem Vorwand, daß sie dadurch vor der Verhaftung geschützt sei. Die andere war eine ältere Dame, eine Baronin Baselli, die bei ihrem Onkel, einem Offizier aus der Zeit der Monarchie, wohnte. Als sie sich melden sollte, versteckte sie dieser in einem großen barocken Schrank, in dem sie die Tage zwei Jahre lang hinbrachte und den sie nur nachts, mit größter Vorsicht, verließ. Schließlich wurde sie wahnsinnig, stürzte sich aus dem Fenster, blieb aber unglückseligerweise in einem Fensterkorb hängen, wurde deportiert und ist ums Leben gekommen. Sie war katholisch getauft und als äußerst fromm bekannt. So reihte sich ein Ereignis ans andere, das in der Bevölkerung Unwillen und Abscheu hervorrief, weit über die anfänglichen »Flüsterwitze« hinaus, die das Regime mehr oder minder lächerlich gemacht hatten. Wer aber hat wirklich von den Greueln gewußt, die sich in nächster Nähe abspielten? Von der aus Linz vertriebenen, deportierten und zum beträchtlichen Teil umgekommenen Judengemeinde12 Von Mauthausen und dessen Nebenlagern; von Hartheim, wo die ersten Versuche zur Vernichtung erblich Belasteter und Geisteskranker durch Gas durchgeführt wurden, ehe sie in den Vernichtungslagern des Ostens perfektioniert wurden? Alle schwiegen darüber – die einen, weil sie die Vollstrecker dieser Taten waren und nur im Abseits der Lager agierten, die anderen, Mitläufer oder vielleicht sogar gegnerisch gesinnt, weil sie durch offenen Widerstand selbst Verfolgungen ausgesetzt oder, wie sie meinten, sogar zu Tode gekommen wären. »Sei still, sonst kommst du ins KZ« war eine geläufige Redewendung, lang bevor Genaueres bekannt wurde. Erst gegen Ende des Krieges kamen mir Gerüchte zu Ohren, denen zufolge die »Einheitsseife« – ein graues, wenig wirksames Etwas – aus Menschenknochen hergestellt sei und daß die plötzlich auftauchenden neuartigen, total verschlossenen, eigentlich zum Transport von Erzen dienenden Eisenbahnwaggons zur Vernichtung von Menschenleben dienten – es war eine Verwechslung mit der geheimgehaltenen Wirklichkeit der tödlichen Gasverwendung in Lastkraftwagen.
Es gab heimliche Zeichen des inneren Widerstands. Zum Beispiel eine Gaststätte in Linz in der Herrengasse, Zum schwarzen Bären, wie ich mich zu erinnern glaube, die ostentativ das Zeremoniell besserer Zeiten einhielt. Wer dort hinging, wußte, ohne zu kommunizieren, daß er, auf das höflichste bedient, die wenigen von der Lebensmittelversorgung autorisierten Bissen auf erlesenem Porzellan und mit Silberbesteck unter Gleichgesinnten zu sich nahm – ein allerdings nur stiller Protest. Oder der Film »Münchhausen« des Jahres 1943, von dem wir annahmen, daß er subversive Elemente enthielte – vermutlich wegen des Siegs der Phantasie über den Ungeist oder weil Erich Kästner, dessen Bücher 1938 verbrannt worden waren, das Drehbuch geschrieben hatte. Die Zahl 129, als konstante Jahresdifferenz zwischen Hitlers und Napoleons Aufstieg und Untergang, wurde zur Geheimziffer: die Jahre 1804 /1933 sahen beide als Alleinherrscher, 1812/1941 verwiesen auf die desaströsen Feldzüge in Rußland, 1813/1942 auf die jeweils verlorenen Schlachten von Leipzig und Stalingrad – die völlige Niederlage wurde folgerichtig für 1944 vorhergesagt, 129 Jahre nach Waterloo. Derlei Zahlenkombinationen, wären sie Celan zu Ohren gekommen, hätten sicherlich sein immer waches Interesse für zahlenmäßige Abfolgen und Zusammenhänge erweckt. Unter den Nichtkonformisten gab es auch Gymnasiasten mit langen Haaren und in nachlässiger Kleidung, sogenannte »Schlurfe«, die eben anders aussehen wollten als die »Hitler-Pimpfe«13 – auch mein Bruder war, ehe er Soldat werden mußte, einer von ihnen. In einem Zeitraum, da im Rahmen des »totalen Kriegs« sogar der gewöhnlichste Tanzkurs untersagt war, freute man sich, wenn man Leute fand, die noch wußten, wie man den als »entartet« deklassierten und verbotenen Charleston tanzt. Meine Mutter gehörte weiterhin der kleinen Gruppe schweigender Gegner an, wenn sie auch im allerengsten Familien- und Freundeskreis nicht versäumte, ihrer Meinung Ausdruck zu verleihen: »So, jetzt ist es um ihn geschehen!« prophezeite sie triumphierend, als Hitler in Sowjetrußland einmarschierte.
Es hat auch kämpfende Gegner gegeben. Als in den letzten Apriltagen 1945 die geschlagene und zerlumpte Armee in Massen auf der Flucht vor den Russen über die Enns in den Westen drängte, wurde dort, an der Ennsbrücke, ein Galgen mit einem daran aufgeknüpften Soldaten aufgestellt, mit der Inschrift: »Wer diese Grenze überschreitet, ist ein Deserteur und kommt vor ein Kriegsgericht.« Viele kamen und wurden ergriffen und erschossen, in einem an die Stadt grenzenden Wäldchen. Der Priester, den ich kannte, durfte ihnen, wenn sie es wollten, beistehen. Er war also Zeuge der täglichen Erschießungen, deren Salven man oben in der Stadt hören konnte. Es kam vor, sagte er mir, daß manche der standrechtlich Verurteilten mit dem Ruf »Es lebe Österreich« starben. Wien war seit dem 13. April durch die Rote Armee befreit, nicht ohne den Einsatz der Widerstandsgruppe 05, bei welcher die Ziffer 5 für den Buchstaben E steht, so daß Oe = Österreich zu verstehen war – ein Erkennungszeichen, das auf den Mauern des Stephansdomes in Wien eingraviert ist. Es mag sich bei diesen letzten Opfern des »totalen Krieges«, zumindest teilweise, um versprengte Anhänger dieser Kampfgruppe gehandelt haben. Genauere Daten darüber entstammen einem von der Gendarmerie verfaßten »Lagebericht für die Jahre 1933 bis 1945 in Enns«, von verschiedenen Dokumentationen – allerdings nicht immer übereinstimmend – zitiert.14 Die Inschrift auf dem diesen Toten gewidmeten Denkmal lautet: »Sie starben im festen Glauben an den Sieg des Rechtes. Den letzten Opfern im Kampf um Österreichs Freiheit in den ersten Monaten des Jahres 1945.«
Als dann am 5. Mai 1945 der endgültige Sieg der Alliierten auf dem Hauptplatz der Stadt Enns, der sieben Jahre lang Adolf-Hitler-Platz geheißen hatte, unter großem Massenandrang und viel Jubel gefeiert wurde, wurde ich auserwählt, eine vom Schlossermeister des Ortes verfaßte, gereimte Lobeshymne auf das wiedererstandene Österreich zu deklamieren. Der Mann war als Handwerker gelegentlich zu uns ins Haus, zu meiner frommen und ach so monarchistischen Mutter gekommen, hatte aber nie ein Wort über seine (wahrscheinlich sozialistische) Gegnerschaft verlauten lassen. Es gab zunächst Volksgerichte und sogar Hinrichtungen, einige Parteifunktionäre wurden verhaftet und kamen in ein Straflager, vom Gauleiter des Landes »Oberdonau« (so hieß »Oberösterreich« damals), der im Radio bis zum Schluß zum Kampf aufgerufen hatte, erfuhr man, daß er sich aus dem Staub gemacht habe: seinem Schicksal entging er indessen nicht – im »Mauthausen-Prozeß« wurde er 1947 zum Tod durch den Strang verurteilt. Knapp vor dem Ende aber war ich Zeuge geworden von einem der grauenhaften Todesmärsche, dessen Opfer am Rande der Stadt auf der sogenannten Wiener Reichsstraße dahinwankten und, im Falle äußerster Schwäche, getötet wurden. Einzelheiten darüber habe ich später Paul Celan mitgeteilt.
Ich war damals noch nicht 17 Jahre alt. Diese Ereignisse sind mir in viel deutlicherer Erinnerung geblieben als die Bombenangriffe auf Linz, die ich auch teilweise miterlebt habe. Linz verfügte über sehr gute »Luftschutzkeller«, tiefe Stollen in den anliegenden Sandhügeln – ehemalige Kellereien. Wenn man herauskam, war manchmal oben nicht mehr viel da, doch hatte man die Erschütterungen der Einschläge nicht verspürt. Schlimmer war es im Keller der Schule – einem ganz gewöhnlichen Keller mit vielen Rohren, wo wir Schüler saßen, plaudernd, lachend, Karten spielend, während die Lehrer aufgeregt durch die Reihen liefen, ohne unsere jugendliche, wenn auch gespielte Gleichmütigkeit verstehen zu können. Und noch schlimmer, sich in einem Zug zu befinden, der die riesige Industriezone der »Hermann-Göring-Werke« (heute »Vereinigte Österreichische Stahlwerke«) durchqueren mußte oder gar wenn Tiefflieger den Zug beschossen. Man kannte aber und vermied den Zeitpunkt (gegen Mittag) der Großangriffe, wenn die Geschwader der Bomber ganz hoch oben, wie silberne Riesenvögelzüge, den blau leuchtenden Himmel durchflogen und nicht nur von Tod und Zerstörung, sondern auch vom nahen Ende der Tyrannis kündeten. Ich war damals der Überzeugung, daß nach der Befreiung vom Totalitätsanspruch des Horrors und der Unfreiheit den Menschen die Augen aufgehen müßten und daß notwendigerweise eine schönere Zukunft bevorstünde, kurz, daß die Menschen sich grundlegend geändert haben würden.
Im Herbst 1945 wurde meine Schule als »Mädchenrealgymnasium« neu eröffnet, so daß ich zunächst das verlorene Jahr nachholen konnte. Ich wohnte in Linz, die materiellen Verhältnisse waren weiterhin katastrophal, ein Drittel meiner Mitschülerinnen waren Flüchtlinge aus Siebenbürgen, aus dem Banat, aus den Sudetenländern, die Lehrer kamen vom Krieg zurück und wollten (oder konnten) nicht nach Wien und in die sowjetisch besetzte Zone heimkehren. Nicht weit von meiner Schule befand sich das Realgymnasium, wo mein Bruder ebenfalls die Matura (Reifeprüfung) nachholen mußte. Nicht nur seine Lehrer, sondern auch alle seine Kollegen waren Kriegsteilnehmer, viele von ihnen eltern- und heimatlos. Sie lebten in einer Art Schülerheim, trieben Schwarzhandel mit der amerikanischen Besatzungstruppe, zerhackten die Türen, um Brennholz zu gewinnen, kochten auf dem eisernen Ofen aus amerikanischen Konserven und Trockeneiern fast ungenießbare Eierspeisen (Pfannkuchen), lehrten mich amerikanische Songs – »Sentimental journey«, »Don’t fence me in« beispielsweise – und sagten auch, wenn ich sie gelegentlich mit nach Hause, mit nach Enns nahm, meine Schwester Klavier spielte und wir die Erbsensuppe teilten, schöne romantische Gedichte auf. Vom Krieg erzählten sie nichts.
Nach der Matura im Jahr 1947 arbeitete ich zwei Jahre als Erzieherin in einem Schülerheim und dann, bis 1951, als Sekretärin in einem Bau- und Architekturunternehmen, nicht ohne mich gleichzeitig auf die Lehrbefähigungsprüfung für Englisch vorzubereiten. In diesen Jahren kündigte sich schon die weitere politische Entwicklung an; man sah, wie sehr die konservativen Kräfte die Oberhand gewannen und wie wenig die Menschen aus dem Fiasko Hitlerdeutschlands gelernt hatten: Schon damals ging das Gerücht um von der »böswilligen Erfindung« der Vernichtungslager durch die Besatzungsmächte. Nach Verurteilungen durch Volksgerichte und anfänglichen Maßnahmen gegen alle notorisch Engagierten im NS-System galt die wiedererstandene Republik Österreich bald als erstes Opfer der kriegerischen Expansion; das langsame Aufblühen nationalen Selbstbewußtseins fand sich mit einer verdrängten Tatsache, fast möchte man sagen: Geschichtslüge verknüpft.15
Im Verlauf meiner Kindheit und Jugend – auch das spielte eine Rolle – habe ich nicht nur Krieg und Not, Unfreiheit und Unterdrückung, sondern auch den teils hell erstrahlenden, teils düsteren Zauber des katholischen Ritus und Brauchtums vor Augen gehabt, besonders in der Weihnachts- und der Osterzeit: Der Jahreslauf war bebildert von »Heiligen Drei Königen«, von den Segenssprüchen der Lichtmeß und des Blasius-Gedenktags, von Fronleichnamsumzügen, vom Aschermittwoch, den verdunkelten Kirchen in der Karwoche und ihren Tumba-Gebeten, der blutig-grausamen Darstellung der Passion in den Kreuzgängen mitsamt der äußerst dramatisch figurierten »Grablegung«, gefolgt von der feierlichen »Auferstehung« und deren Glockengeläut; er war geprägt von Beichttagen und Rosenkranzgemurmel, von Kinderängsten in Erwartung des »Krampus«, Nikolaus’ teuflischem Begleiter; vom Totengedenken zu Allerseelen; dann wieder zeigte er sich spärlich erhellt vom Kerzenschein des Adventkranzes in den »Rorate-Messen«, in Erwartung der jährlichen Wiederkunft des »Christkinds« in den bunt aufgestellten Krippen; es roch nach Weihrauch, golden erglänzten die Monstranzen, die Gläubigen sangen »Erbarme dich unser« und beugten das Knie, zum »Gloria in excelsis« erbrausten die Orgeln – kurz, es war die schaurig-schöne Pracht der barocken Katholizität, die mich umgab, bis ich ihr eines Tages den Rücken kehrte: den Glanz sah ich nicht mehr, nur das Provinziell-Steckengebliebene, nur den Abglanz.
Die hier vorliegende Niederschrift meiner Erinnerungen betrifft das Jahrzehnt 1952-1962, das von meiner Ankunft in Paris und der ersten Begegnung mit Celan bis zu unserer Trennung reicht. Alle weiteren in Paris verbrachten Jahre stellen in einem gewissen Sinn eine vollständige Wende in meinem Leben dar. Da sie mich allein betreffen und mit Paul Celans Geschick nicht mehr in Beziehung stehen, will ich sie hier nur kurz zusammenfassen.
Seit 1963 mit einem Österreicher verheiratet, hatte ich zunächst die Absicht, in mein Ursprungsland zurückzukehren. Doch erwiesen sich meine Berufsaussichten an der École pratique des hautes études (EPHE), später École des hautes études en sciences sociales (EHESS), als nicht allzu schlecht, und so blieb ich. Meine Tochter, Amélie, kam im Dezember 1963, allerdings verfrüht, zur Welt. Die ersten Jahre waren erschwert durch die fast ständige Wohnungssuche. Nachdem ich viele Jahre lang mit der wissenschaftlichen Dokumentation und Information in der afrikanistischen Sektion innerhalb der »Aires culturelles« genannten Abteilung der EPHE betraut war, konnte ich, nach meiner Einbürgerung im Jahr 1976 zum »Maître-Assistant« und später »Maître de conférences« promoviert, eine akademische Laufbahn verfolgen: Die EHESS bot damals die Möglichkeit, anstelle festgelegter universitärer Programme eigene Forschungsergebnisse und Problemstellungen in Seminaren vorzutragen und mit fortgeschrittenen Studenten und teilweise Kollegen zu diskutieren. Bis zu meiner Pensionierung im Jahr 1993 habe ich in erster Linie über den kontroversen Anthropologie-, Ethnologie-, Völker-, Menschenund Kulturkunde-Begriffskomplex und dessen Geschichte im deutschen Sprachraum, mit seinen Tag- und Nachtansichten, gearbeitet und, hauptsächlich in französischer Sprache, unter dem Autornamen Britta Rupp-Eisenreich publiziert, nicht ohne den historischen Wurzeln rassistischer Ideologien einiges Augenmerk zu widmen. Von 1986 bis 1996 war ich Redaktionsmitglied der Zeitschrift Gradhiva, der von Michel Leiris und Jean Jamin gegründeten Revue d’histoire et d’archives de l’anthropologie.16 Die von der Unesco abhängende International Bibliography of social and cultural Anthropology habe ich viele Jahre hindurch bearbeitet und ediert. Nach meiner Pensionierung arbeitete ich aber noch an größeren Gemeinschaftswerken mit wie zum Beispiel dem dreibändigen Dictionnaire du darwinisme et de l’évolution17, zu dem ich zahlreiche Eingänge und Artikel über die Sachlage und die implizierten Personen in deutschen Landen beisteuerte. Infolge mannigfaltiger Hindernisse, nicht zuletzt gesundheitlicher Art, blieb viel angesammeltes Material unbearbeitet, die geplante Gesamtdarstellung des historischen Werdegangs der Anthropologie bzw. Ethnographie in Deutschland und Österreich ein Torso.
Seit 1963 wohnte ich vorzüglich in parisnahen Vororten wie: Châtillon, Fontenay-sous-Bois, Thiais, Choisy-le-Roi, Saint-Germain-en-Laye, Romainville, Les Lilas, dazwischen gelegentlich in Paris selbst und in einem Landhaus der normannischen Küste im Cotentin. Es ist nicht zu verwundern, daß mir im Verlauf so vieler Übersiedlungen fast alle Korrespondenzen und viele persönliche Dokumente, auf die ich mich jetzt stützen könnte, abhanden gekommen sind.
Bis zum Tod meiner Mutter im Jahr 1974 bin ich regelmäßig nach Österreich gekommen; zwölf Jahre später ist mein Bruder, Herbert Eisenreich, Autor zahlreicher Erzählungen und Kurzgeschichten sowie zweier Romane, die für die jungen Schriftsteller der Nachkriegszeit als repräsentativ gelten können,18 im Alter von 61 Jahren in Wien an einem Gehirntumor gestorben. Er ist in einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof Wien begraben. Auch ihn habe ich bis dahin immer wieder – meist in den Sommerferien – besucht, sei’s in Wien, sei’s auf dem Lande, im oberösterreichischen Mühlviertel, wo er zeitweilig seinen Wohnsitz hatte. Vor seiner Rückkehr nach Wien hatte er in Hamburg und später in Stuttgart gelebt, wo Celan ihn einmal besuchte. Das wenige, das von seinen Beziehungen zu Paul Celan in seinem Nachlaß als auch in dem von Celan selbst noch vorhanden ist, habe ich mich angeschickt ausfindig zu machen, um es hier in Erinnerung zu rufen. Um Einzelheiten des beschriebenen Zeitraums genauer darzustellen, sind alle noch erhaltenen schriftlichen Zeugnisse im Anhang, als »Dokumente«, zusammengefaßt.19
Um Österreich zu entfliehen, einem Lande, das wenig geneigt war, seiner jüngsten Vergangenheit als »Ostmark« des Großdeutschen Reiches gerecht zu werden, wollte ich fort von dort, wollte mich anderswo etablieren, in einer der altbewährten Demokratien, am liebsten in einer der großen Hauptstädte wie etwa London. Mein Ziel war es auch, Universitätsstudien auf eigene Kosten anzustreben, ohne Unterstützung durch Familie oder Staat – ein Ding der Unmöglichkeit im damaligen Österreich, und schon gar in Linz, das noch keine Hochschule besaß. Schließlich fiel meine Wahl auf Paris, wo ich im Juli 1951 schon erste Eindrücke gesammelt hatte, um mich dann, ab November desselben Jahres, dort niederzulassen.
Ich war damals 23 Jahre alt, hatte ein wenig Geld in der Privatwirtschaft von Linz verdient – gerade genug, um anderswo neu anzufangen, ohne gleich in Not zu geraten. Den Kopf hatte ich voller Gedichte von Trakl, Rilke, Hofmannsthal, Hölderlin wie auch von anderen Poeten – Arno Holz oder Christian Morgenstern zum Beispiel –, die ich wegen ihrer Sprachspiele bewunderte. Auch Prosawerke hatten mich beeindruckt; seit meiner Kindheit war Lesen meine größte und ausschließliche Leidenschaft. Lange glaubte ich, daß in den Büchern der Schlüssel zur Welt verborgen liege; um ihn zu finden, würde es genügen, alle zu lesen. Mangels anderer Quellen hatte ich fast die ganze Bibliothek meines schon früh verstorbenen Vaters ausgelesen – sein Bücherschrank vertrat seine Stelle, war Referenz und Autorität. So wurde ich schon früh mit bedeutenden Autoren der Weltliteratur bekannt, als da sind: Pascal und Dante, La Rochefoucauld und Molière, Dostoevskij, Lermontov und Turgenev; in großen Ausgaben Ibsen, Strindberg und Hamsun, Stifter, Grillparzer und Oscar Wilde. Es gab auch eine schöne Edition von Hölderlins Hyperion sowie kleine Bändchen, unter anderem von Lichtenberg, Jean Paul, Baudelaire, Feuchtersleben, Klabund, Lombroso und Albert Ehrenstein.20 Peter Altenberg war vielfach vorhanden, daneben Else Lasker-Schüler, Hugo Ball, Otto Weininger und die ganze Fackel von Karl Kraus, und selbst die dadaistische Poesie, die in den literarischen Almanachen der verschiedensten Verlage der 1920er Jahre abgedruckt war; darunter gab es zum Beispiel eine ganze Serie des avantgardistischen Kurt-Wolff-Verlags. Wieland, Herder, Lessing, Schopenhauer, in Gesamtausgaben vorhanden, habe ich aber erst viel später gelesen und sogar teilweise zu Studienzwecken ausgewertet. Merkwürdigerweise fehlten in der Bibliothek meines Vaters Goethe und Schiller, Heine und Nietzsche: Ihre Werke befanden sich noch in Kisten verpackt und mußten, noch unbezahlt, bei seinem Tode an die Buchhändler zurückgegeben werden. Auch Kafka war seltsamerweise nicht vorhanden; er wurde mir erst viel später, dank Paul Celan, zum Erlebnis. So manche Bücher gehörten der in der NS-Zeit verbotenen und verbrannten Literatur an. In der Nachkriegszeit lernte ich Thomas Mann, Hermann Hesse, Stefan Zweig, Bertolt Brecht, Joseph Roth, Arthur Schnitzler kennen sowie andere »verfemte« Autoren, die wieder verfügbar wurden.
Seit 1947 nutzte ich das Kulturzentrum, das die amerikanische Besatzungsmacht in Linz eingerichtet hatte – ich stieß dort auf ausgezeichnete Einführungen in die englische und amerikanische Literatur und wurde so schon damals mit den »Metaphysical Poets«, mit Shakespeare, aber auch mit W. B. Yeats, Emily Dickinson, Walt Whitman, John Steinbeck, Ernest Hemingway, William Faulkner, Thomas Wolfe und anderen bekannt. Errungenschaft auf einer mehr praktischen Ebene, sozusagen als Nebenprodukt, war die »Lehrbefähigungsprüfung« (oder »Staatsprüfung«) für Englisch, die ich durch eine entsprechende Ausbildung im Französischen ergänzen wollte. Nicht meine Mutter hat mir diese Kenntnisse vermittelt. Auch hier ging ich eigene Wege, etwa über in Linz aufgeführte Bühnenstücke französischer Autoren oder über Bücher – ich erinnere mich zum Beispiel an die Mühe, die es mich kostete, Texte von Albert Camus zu entziffern. In den unmittelbaren Nachkriegsjahren, als Linz, zweigeteilt zwischen amerikanischer und russischer Besatzungszone, an der Grenze zur sowjetischen Einflußzone lag, gab es dort ein verhältnismäßig reges Kulturleben: In den Galerien sah man wieder Schiele und Kokoschka wie auch vom Wiener ArtClub 21 organisierte Ausstellungen moderner Kunst; im Landestheater spielten bedeutende, später ans Burgtheater in Wien gerufene Kräfte, in den Konzerten hörte man wieder Mahler, Schönberg, Stravinskij und Hindemith – ich erinnere mich zum Beispiel an die schönen Vertonungen von einigen Trakl-Gedichten durch letzteren, in den musikalischen Matineen des Landestheaters vorgetragen.22 Überquerte man die Donau auf der mächtigen, unzerstörten, immer noch so genannten »Nibelungenbrücke«, die im Rahmen der architektonischen Pläne Hitlers für Linz erbaut worden war, so gelangte man – nach eingehender Grenzkontrolle durch russische Wachtpo-sten und, von seiten der Amerikaner, nach vorsorglicher Bestäubung mit DDT wegen der Läuse- und Wanzenplage – in den sowjetisch verwalteten Stadtteil Urfahr, wo man neben Schillers Don Carlos sehr gut inszenierte Stücke von Gogol und Gorki zu sehen bekam.
Als ich in Paris ankam, hatte ich zwar einige Grundkenntnisse der französischen Sprache – ich konnte lesen. Sprechen aber konnte ich kaum – ein Umstand, der mir die erste als Ausländerin in Paris verbrachte Zeit als sehr einsam erscheinen ließ. Auch ein wenig Russisch hatte ich erlernt, und zwar an der Volkshochschule Linz, wo ich zum ersten Mal den Namen Majakovskijs hörte.23 Um mein materielles Auskommen zu haben, kam ich am Anfang meines Aufenthalts in Familien