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Andreas Weber

Enlivenment
Eine Kultur des Lebens

Versuch einer Poetik für das Anthropozän

Fröhliche Wissenschaft 079

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Love is everywhere distinguished from its false semblances
by the way in which one respects
the independent reality of what one loves.

Raimond Gaita[1]

Only the mountain has lived long enough
to listen objectively to the howl of a wolf.

Aldo Leopold[2]

Inhalt

Einleitung: Eine Poetik der Wirklichkeit

Kultur als Kontrolle

Techné oder Poiesis?

Freiheit als Gemeinschaftlichkeit

1. Die Ideologie des Toten

Jenseits der toten Materie

Aufklärung 2.0: »Enlivenment«

Was ist Leben und welche Rolle spielen wir darin?

Enlivenment ist mehr als Nachhaltigkeit

Enlivenment und Green New Deal

Wissenschaft mit dem Leben

Eine neue Beschreibung lebendiger Beziehungen

2. Bioliberalismus: die verborgene Superwissenschaft

Öko-Effizienz als soziale Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts

Die Einhegung der Seele

Durch Ineffizienz zu belebten Ökosystemen

3. Biopoetik als Modell lebendiger Beziehungen

Empirische Subjektivität

Naturgeschichte der Freiheit

Poetische Objektivität

4. Natürlicher Antikapitalismus

»Steinzeitökonomie«

Der Kreislauf der Gabe: Prinzipien wechselseitiger Produktivität

Allmende als Wirklichkeitspraxis in der ersten Person

Ökologische Selbstverwirklichung

Freiheit durch Notwendigkeit

5. Enlivenment als Allmendepraxis

Austausch von Fülle

Wohlstand durch Enlivenment: Das Modell des Buen Vivir

»Barfuß-Ökonomie« als Enlivenment-Modell

Matrix der menschlichen Bedürfnisse

Urban Gardening

Das Spiel des Lebens

6. Poetische Objektivität

Objektivität durch Berührbarkeit

»Denken wie ein Berg«

Empfindung als Forschungsinstrument

Romantik 2.0

Poetische Präzision

Der »erweiterte Blick«

7. Kultur als Imagination unserer Natürlichkeit

Kultur als Ökologie der Widersprüche

Kultur als Anti-Utopia

Kultur als Daseinstapferkeit

Kultur als wir selbst in den anderen

Anmerkungen

Dank

Einleitung: Eine Poetik der Wirklichkeit

Der vorliegende Essay präsentiert eine neue Sichtweise auf das Zusammenspiel von Mensch und dem, was bislang Natur geheißen hat. Er versucht, beide neu zu denken, indem er alle Wesen als Teilnehmer eines gemeinsamen Haushaltes von Stoff, Begehren und Imagination versteht – einer Ökonomie der metabolischen und poetischen Verwandlungen.

Der Essay entwickelt Alternativen für einige Annahmen, auf denen unsere gegenwärtige Weltsicht aufbaut. Er möchte damit einen Beitrag zur Debatte über das »Anthropozän« liefern, einen Beitrag, der das Gegenstück zur verbreiteten Idee bildet, im heutigen Zeitalter sei endlich die Epoche einer Menschen-Erde angebrochen, in der unsere Spezies de facto alles steuere und kontrolliere und Mensch und Natur dadurch auf dem gleichen Level stünden[3].

Ich folge hier der Kritik des amerikanischen Dichters und Ökophilosophen Gary Snyder, der meint: »Das ›Wilde‹ ist ein Prozess, der außerhalb menschlicher Kontrolle liegt. Soweit die Wissenschaft auch vordringen mag, wird sie diesem doch niemals auf den Grund gehen können, denn Geist, Fantasie, Verdauung, Atmen, Träumen, Lieben und sowohl Geburt als auch Tod gehören dem Wilden an. Ein Anthropozän wird es nie geben«.[4]

Der Mensch ist in all seinen Imaginationen zutiefst von Natur durchzogen, von unkontrollierbarer Wildnis, von schöpferischer Selbstorganisation, die keiner Kontrolle und keiner »Stewardship« unterliegen kann. Sie kann es nicht, weil das Unkontrollierbare selbst, von dem Snyder spricht – die Assoziationen der Fantasie, die Verdauung, die Komplexität der Sprache, die Absolutheit der Gefühle und Instinkte – die Instrumente liefert, mit denen wir versuchen, Kontrolle herzustellen. Die Vorstellung des Anthropozäns, den Menschen mit dem unbewusst Organischen in sich selbst, aber auch in den anderen noch verbliebenen Wesen dadurch zu versöhnen, dass er ihre Existenz der Macht seiner Kultur anvertraut, ist ein erneuter Versuch der Zähmung. Wir können in ihr einen weiteren Akt der Aufklärung erblicken, die Welt durch Kontrolle zu verbessern und zu beherrschen.

Kultur als Kontrolle

Statthalter dieser Herrschaft ist heute vor allem die Ökonomie. Das liberalistische Marktsystem und dessen Voraussetzung, die Trennung von Ressourcen (mit denen gehandelt wird) und Subjekten (die handeln bzw. die versorgt werden wollen), sind Produkte der Aufklärung. Sie folgen ihrer Methode, Kontrolle herzustellen, indem die Welt zweigeteilt wird, in eine unbelebte, zu kolonialisierende oder einzuhegende Sphäre und eine, von der aus und für die Kontrolle hergestellt werden soll. Die Welt aber wird nicht durch Kontrolle besser, sondern durch Teilnahme.

Das Anthropozän wird sich nur überleben und in einen produktiven Umgang sowohl mit unserer eigenen Humanität als auch mit der Biosphäre verwandeln lassen, wenn wir begreifen, dass nicht nur der Mensch die Natur durchdringt und beeinflusst, sondern dass auch uns selbst etwas ausmacht und erfüllt, was keiner kulturellen Kontrolle und Steuerung unterworfen werden kann, weil es etwas ist, aus dem sich diese überhaupt erst speist: unsere sich selbst organisierende, unhintergehbare, in die Opazität der Wirklichkeit von Ökosystemen, emotionalen Impulsen und poetischer Imagination mündende Lebendigkeit.

Dem Anthropozän fehlt das Bewusstsein, dass Schönheit das ist, was mit Lebendigkeit ansteckt, auch wenn wir sie nicht verstehen, und dass jeder Austausch, der von Sachen (in der Wirtschaft), der von Bedeutungen (in der biologischen Kommunikation sowie in der menschlichen Expressivität) und der von Identitäten (in der Bindung zwischen zwei Subjekten), stets zwei Seiten hat, eine äußere, materielle, aber auch eine innere, existenzielle, in der sich immer Bedeutung ausdrückt. Was übersehen wird, ist der zutiefst poetische Aspekt natürlicher Existenz.

Weil alle Prozesse in dieser Wirklichkeit auf Beziehungen beruhen, die Bedeutungen vermitteln (die wir, menschliche und tierische und pflanzliche Subjekte in unseren Emotionen erfahren), lässt sich das Bild eines lebendigen Kosmos, inklusive seines natürlichen Werdens, inklusive seiner sozialen Transformationen, inklusive unsererer materiellen Versorgung, letztlich nur als eine Poetik formulieren. Die Wirklichkeit ist schöpferisch und ausdruckshaft, weil sie lebendig ist, und dieser Aspekt fehlt dem Anthropozän, wie es bisher gedacht wird. Es vergisst damit, was im Zentrum erfahrener Wirklichkeit steht, weil es Wirklichkeit in ihrem Kern ausmacht: die Lebendigkeit der Welt.

Das Anthropozän als Versöhnung von Mensch und Natur wird nur dann das Leben begünstigen und die Menschheit in eine friedlichere Phase führen, wenn wir Natur nicht als domestiziert betrachten, als hoffnungslos unter menschlichem Einfluss, mit dem wir uns dergestalt versöhnen, sondern wenn wir umgekehrt begreifen, dass wir Natur sind, nämlich lebendig, also vorübergehende Verwandlungen in einem Prozess von materiell-semiotischen Beziehungen. Dieser erfährt sich selbst emotional und pflanzt sich schöpferisch fort, erschafft damit immer komplexere Grade von Freiheit, aber auch von Abhängigkeit. Zugleich ist dieser existenzielle Verwirklichungsprozess stets eine Imagination, also ein Ausdrucksprozess.

Techné oder Poiesis?

Es geht somit, nach rund 300 Jahren Aufklärung, um die Ergänzung der techné (die das Anthropozän mit seinem Optimismus menschlicher Stewardship zutiefst prägt) durch das Konzept der poiesis. Aber diese poiesis soll nicht länger als harmloses Sprachspiel für weltfremde Experten gedacht werden oder als Binnendiskurs und Kaufkraftgenerator des Kunstmarktes. Sie ist vielmehr ein Element, das die Wirklichkeit eigentlich erst hervorbringt und das sich nicht abstellen, aber durchaus schmerzhaft – ja lebensgefährlich – missverstehen lässt.

Es gilt zu erfassen, dass wir in einer Welt leben, die nicht in Sachen und Ideen getrennt ist, oder in Ressourcen und Verbraucher, oder Kultur und Natur, sondern die aus Beziehungen und ständigen schöpferischen Verwandlungen entsteht. Jedes Denken in Beziehungen aber kann nur in Form einer Poetik erfolgen.[5] Jede Praxis der Lebendigkeit kann nur eine poetische Praxis sein. Was uns, was dem Denken des Anthropozäns und seiner variablen Synonyme – etwa als Posthumanismus oder Ökopragmatismus – fehlt, ist eine Poetik der Lebendigkeit. Zu dieser soll der Essay beitragen.

Meinen Standpunkt bezeichne ich als »Enlivenment« (Verlebendigung)[6], denn seine zentrale These lautet, dass wir »Leben« und »Lebendigkeit« wieder zu fundamentalen Kategorien des Verstehens, aber auch des Handelns machen müssen. Enlivenment möchte die zentralen Denkfiguren der Aufklärung – rationales Denken und empirische Beobachtung – nicht ersetzen, sondern mit der »empirischen Subjektivität« der Lebewesen und mit der »poetischen Objektivität« sinnvoller Erfahrungen ergänzen.

Das größte Hindernis, dem Problem der Nachhaltigkeit (selbst ein dehnbarer Begriff mit vielfältigen und einander widersprechenden Bedeutungen) zu Leibe zu rücken, liegt darin, dass in den vergangenen 200 Jahren Wissenschaft, Gesellschaft und Politik das Interesse verloren haben, die eigentliche, gelebte und gefühlte Existenz des Menschen und der anderen Organismen zu verstehen. Wissenschaftlicher Fortschritt – und damit alle Erklärungen biologischer, geistiger und gesellschaftlicher Prozesse – baut auf den kleinstmöglichen Bausteinen von Materie und Systemen auf. Er lässt sich davon leiten, dass die natürliche Evolution den Prinzipien der Knappheit, des Wettbewerbs und des Selektionsdrucks folgt. Zugespitzt könnte man sagen, dass rationales Denken eine Ideologie darstellt, die um tote Materie kreist. Die Realität gelebter Erfahrung zu verstehen, ist den Prämissen dieses Denkens zufolge ausgeschlossen. So verwundert es nicht, dass das Überleben auf unserem Planeten zu einem vordringlichen Problem geworden ist.

Ich möchte hier auf der Grundlage jüngster biologischer Ideen und der Praxis neuer Wirtschaftsformen eine andere Sichtweise vorschlagen. Ich möchte deutlich machen, dass gelebte Erfahrung, verkörperte Bedeutung, Stofftausch und Subjektivität Schlüsselfaktoren darstellen, die von einem wissenschaftlichen Blick auf die Biosphäre und ihre Akteure nicht ausgenommen werden dürfen. Ein Bild der Wirklichkeit, das die Welt nur in der »dritten Person« erklären kann, so als ob am Ende alles ein unbelebtes Ding sei, eliminiert letztlich die Existenz jener Akteure, die diese Auffassung propagieren – und wendet sich somit gegen uns selbst.

In der hier vorgeschlagenen alternativen Weltsicht sind wir Menschen immer untrennbar mit der Natur verbunden. Doch diese Natur ist, weit mehr als wir uns vorstellen mögen, so wie wir selbst geartet: Sie ist kreativ und pulsiert in jeder ihrer Zellen vor Leben. Sie erzeugt individuelle Autonomie und Freiheit, indem sie sich beständig mit Zwängen und Unvollkommenheiten auseinandersetzen muss. Sie begehrt und drückt dieses Begehren in empfindsamen Körpern aus.

Da wir lebendige Geschöpfe auf einer lebendigen Erde sind, können wir diese Prinzipien fühlen, schlicht und allein deshalb, weil wir aus ihnen gemacht sind. Aber diese Prinzipien umgrenzen kein Idyll. Die Wahrheit der Natur liegt in ihrer kreativen Offenheit, die beständig Leben spendet und dafür Tod einhandelt, und nicht in einer vorgeblichen Ganzheit oder Heilsamkeit. Dass es aber eine solche Wahrheit gibt, verbürgt unsere eigene Erfahrung, indem wir lebendig sind.

Die Sichtweise, die ich hier zum Verständnis unseres Nachhaltigkeitsdilemmas entfalte, drängt darauf, sich mit einer neuen kulturellen Orientierung den offenen, leibhaften, sinnstiftenden, paradoxen und integrativen Lebensprozessen zuzuwenden. Das mag nach einer Art von neuem Naturalismus klingen. Aber selbst wenn der Begriff zuträfe, handelte es sich um einen Naturalismus zweiter Ordnung: Er berücksichtigt, dass Natur kein sinnfreier oder neutraler Ort ist, sondern eine Quelle existenzieller Bedeutung, die sich aus dem Beziehungsgeschehen von Individuen speist und so eine Geschichte der Freiheit entfaltet.

Die folgenden Seiten sind ein erster Gang zur Sondierung des Terrains. Mir geht es darum, die »bioliberalistischen Prinzipien«, die so viele unserer wirtschaftlichen, politischen, erzieherischen und privaten Entscheidungen leiten, durch »Prinzipien des Enlivenment« zu ersetzen. Letztere verdanken sich der Einsicht, dass wir in einer gemeinsamen Biosphäre leben, einem Prozess sich entfaltender natürlicher Freiheit, und dass wir als Menschen nicht nur imstande sind, diese Lebendigkeit direkt zu erfahren, sondern geradezu genötigt werden, sie am eigenen Leib zu erleben. Sich lebendig zu wissen, ist eine grundlegende Voraussetzung des Menschen, die uns mit allen lebenden Organismen und mit der Natur verbindet.

Das als existenzielle Notwendigkeit anzuerkennen, ist nicht nur für den zukünftigen Fortschritt der Biowissenschaft von Belang; es ist auch zwingend erforderlich für die Zukunft unserer Spezies auf einem gefährdeten Planeten. Dass wir außerstande sind, unser »Lebendigsein« in Wirtschaftswissenschaften, Politik und Justiz als ebenso reiche wie belastungsfähige Kategorie des Denkens und des Handelns zu würdigen, blockiert den Weg zu einer nachhaltigen, lebensfördernden und belebten Gesellschaft.

Freiheit als Gemeinschaftlichkeit

Sollte es uns gelingen, Enlivenment als reale Perspektive zu begreifen, werden weitreichende politische Konsequenzen nicht ausbleiben. Diese könnte man als »Politik des Lebens« bezeichnen. Eine nichtdualistische Sichtweise hat tiefere Verbindungen und stärkere Zusammenarbeit zur Folge. Wer lebendig sein will, verzichtet zuerst auf die akribische Scheidung zwischen einer »rationalen Theorie« und der eigenen sozialen Praxis. Wer in der Wirklichkeit existiert, für den sind beide eng miteinander verflochten.

Vom Enlivenment her lässt sich gleichwohl keine nahtlose neue Utopie entwerfen, sondern nur eine Zärtlichkeit zu dem entfalten, was wirklich ist. Es hilft wahrzunehmen, wie unvermeidlich die Unwägbarkeiten und Dilemmata des Lebens sind – Konflikte zwischen dem Ich und dem Anderen, zwischen dem Wohl des Ganzen und dem eigenen Wohlergehen, zwischen Tapferkeit und Ekstase. Es sind dies die grundsätzlichen Antinomien echter Existenz, die Martin Buber zu dem »kühnen Gedanke der notwendigen Unvollkommenheit jeder Schöpfung« geführt haben. Stets müssen Verhandlungsregeln und andere Formen des Übereinkommens kultiviert werden, ohne dass je ein Zustand der Stabilität oder des Optimums erreichbar wäre. Und genau das ist Lebendigkeit. Ihre Freiheit will den Zwang nicht einhegen, sondern verwandeln.

Die Freiheit war das große Projekt der Aufklärung, das nach wie vor unser Selbstbild und unsere Gesellschaft bestimmt. Ihr Anliegen ist die persönliche Autonomie des Individuums, das sein eigener Herr sein soll, um so in Würde seine Bedürfnisse befriedigen zu können. Die Freiheit, die das Enlivenment voranzutreiben sucht, nimmt diese Ziele nicht zurück, sondern ergänzt sie um den notwendigen Aspekt der Gemeinschaftlichkeit, dadurch, dass das Selbst immer nur eine Funktion des Ganzen ist, dieses aber wiederum eine Funktion des Individuums.

Das Enlivenment begreift Freiheit als die schöpferische Gestaltung der Notwendigkeit, die daher rührt, dass wir als fühlende Körper, als Individuen und als Gruppen untereinander und mit der Biosphäre verbunden sind. Diese Freiheit kommt nur zustande, wenn individuelle Bedürfnisse und Interessen mit denen größerer Gemeinschaften in einer prekären, spannungsvollen, ja paradoxen Balance imaginiert werden. Nur diese integrierende Freiheit kann die Kraft entfalten, die nötig ist, die Menschheit mit der natürlichen Welt, also all dem, was sie ohne ihr Tun geworden ist und wird, zu versöhnen.