Müdigkeitsgesellschaft

Der müde Prometheus

Vorwort

Der Mythos des Prometheus lässt sich zu einer Szene des psychischen Apparats des heutigen Leistungssubjekts umdeuten, das sich selbst Gewalt antut, das mit sich selbst Krieg führt. Das Leistungssubjekt, das sich in Freiheit wähnt, ist in Wirklichkeit gefesselt wie Prometheus. Der Adler, der an seiner ständig nachwachsenden Leber frisst, ist sein Alter Ego, mit dem es Krieg führt. So gesehen, ist das Verhältnis von Prometheus und Adler ein Selbstverhältnis, ein Verhältnis der Selbstausbeutung. Der Schmerz der an sich schmerzlosen Leber ist die Müdigkeit. So wird Prometheus als Subjekt der Selbstausbeutung von einer endlosen Müdigkeit erfasst sein. Er ist die Urfigur der Müdigkeitsgesellschaft.

In der sehr kryptischen Erzählung »Prometheus« unternimmt Kafka eine interessante Umdeutung des Mythos: »Die Götter wurden müde, die Adler wurden müde, die Wunde schloß sich müde.« Kafka schwebt hier eine heilende Müdigkeit vor, eine Müdigkeit, die nicht Wunden aufreißt, sondern sie schließt. Die Wunde schloss sich müde. Auch der vorliegende Essay mündet in die Betrachtung einer heilenden Müdigkeit. Sie ist jene Müdigkeit, die nicht von einer hemmungslosen Aufrüstung, sondern von einer freundlichen Abrüstung des Ich herrührt.


Die neuronale Gewalt

Jedes Zeitalter hat seine Leitkrankheiten. So gibt es ein bakterielles Zeitalter, das aber spätestens mit der Erfindung der Antibiotika zu Ende gegangen ist. Trotz unübersehbarer Angst vor grippaler Pandemie leben wir heute nicht im viralen Zeitalter. Wir haben es dank immunologischer Technik bereits hinter uns gelassen. Das beginnende 21. Jahrhundert ist, pathologisch gesehen, weder bakteriell noch viral, sondern neuronal bestimmt. Neuronale Erkrankungen wie Depression, Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperakti­vitätsyndrom (ADHS), Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS) oder Burnout-Syndrom (BS) bestimmen die pathologische Landschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts. Sie sind keine Infektionen, sondern Infarkte, die nicht durch die Negativität des immunologisch Anderen, sondern durch ein Übermaß an Positivität bedingt sind. So entziehen sie sich jeder immunologischen Technik, die darauf angelegt ist, die Negativität des Fremden abzuwehren.

Das vergangene Jahrhundert ist ein immunologisches Zeitalter. Es ist eine Epoche, in der eine klare Trennung von Innen und Außen, von Freund und Feind oder von Eigenem und Fremdem vorgenommen wurde. Auch der Kalte Krieg folgt diesem immunologischen Schema. Ja das immunologische Paradigma des vergangenen Jahrhunderts ist selbst durchgehend vom Vokabular des Kalten Krieges, von einem regelrecht militärischen Dispositiv beherrscht. Angriff und Abwehr bestimmen das immunologische Handeln. Diesem immunologischen Dispositiv, das über das Biologische hinaus auf das Soziale, auf die gesamtgesellschaftliche Ebene übergreift, ist eine Blindheit eingeschrieben: Abgewehrt wird alles, was fremd ist. Der Gegenstand der Immunabwehr ist die Fremdheit als solche. Selbst wenn der Fremde keine feindliche Absicht hat, selbst wenn von ihm keine Gefahr ausgeht, wird er aufgrund seiner Andersheit eliminiert.

In letzter Zeit erschienen diverse Gesellschaftsdiskurse, die sich ausdrücklich immunologischer Erklärungsmuster bedienen. Die Aktuali­tät des immunologischen Diskurses lässt sich jedoch nicht als Zeichen dafür deuten, dass die Gesellschaft von heute mehr denn je immunologisch organisiert ist. Dass ein Paradigma eigens zum Gegenstand der Reflexion erhoben wird, ist oft ein Zeichen seines Unterganges. Unbemerkt vollzieht sich seit einiger Zeit ein Paradigmenwechsel. Das Ende des Kalten Krieges fand gerade im Zuge dieses Paradigmenwechsels statt.1 Die Gesellschaft gerät heute zunehmend in eine Konstellation, die sich dem immunologischen Organisations- und Abwehrschema ganz entzieht. Sie zeichnet sich durch das Verschwinden der Andersheit und Fremdheit aus. Die Andersheit ist die Grundkategorie der Immunologie. Jede Immunreaktion ist eine Reaktion auf die Andersheit. Heutzutage aber tritt an die Stelle der Andersheit die Differenz, die keine Immunreaktion hervorruft. Die postimmunologische, ja postmoderne Differenz macht nicht mehr krank. Auf der immunologischen Ebene ist sie das Gleiche.2 Der Differenz fehlt gleichsam der Stachel der Fremdheit, der eine heftige Immunreaktion auslösen würde. Auch die Fremdheit entschärft sich zu einer Konsumformel. Das Fremde weicht dem Exotischen. Der Tourist bereist es. Der Tourist oder der Konsument ist kein immunologisches Subjekt mehr.

So legt auch Roberto Esposito seiner Theorie der Immunitas eine falsche Annahme zugrunde, wenn er feststellt: »An jedem beliebigen Tag der letzten Jahre konnte es vorkommen, dass in den Zeitungen, vielleicht sogar auf ein und derselben Seite, über dem Anschein nach verschiedenartige Ereignisse berichtet wurde. Was haben Phänomene untereinander gemein, wie der Kampf gegen das Aufflammen einer neuen Epidemie, der Widerstand gegen das Gesuch auf Auslieferung eines fremden Staatsoberhaupts, das der Verletzung der Menschenrechte beschuldigt wird, die Verstärkung der Bollwerke gegen die illegale Einwanderung und die Strategien, die auf die Neutralisierung des neuesten Computervirus abzielen? Nichts, solange man sie innerhalb ihrer jeweiligen, voneinander getrennten Bereiche liest, der Medizin, dem Recht, der Gesellschaftspolitik und der Computertechnologie. Die Dinge ändern sich allerdings, wenn man sie auf eine Interpretationskategorie bezieht, deren ureigene Besonderheit gerade in der Fähigkeit liegt, jene Partikularsprachen transversal zu durchschneiden und auf ein und denselben Sinnhorizont zu beziehen. Wie aus dem Titel dieses Bandes ersichtlich, setze ich diese Kategorie als die der ›Immunisierung‹. (...) Die oben angesprochenen Ereignisse lassen sich, ungeachtet ihrer lexikalischen Dishomogenität, sämtlich auf eine Schutzreaktion gegenüber einem Risiko zurückführen.«3 Keines der Ereignisse, die Esposito erwähnt, deutet darauf hin, dass wir uns mitten im immunologischen Zeitalter befinden. Auch der sogenannte »Einwanderer« ist heute kein immunologisch Anderer, kein Fremder im emphatischen Sinne, von dem eine wirkliche Gefahr ausginge oder vor dem man Angst hätte. Einwanderer oder Flüchtlinge werden eher als Belastung denn Bedrohung empfunden. Auch dem Problem des Computervirus kommt keine so große gesellschaftliche Virulenz mehr zu. So ist es kein Zufall, dass sich Esposito in seiner immunologischen Analyse nicht Problemen der Gegenwart, sondern ausnahmslos Gegenständen aus der Vergangenheit zuwendet.

Das immunologische Paradigma verträgt sich nicht mit dem Globalisierungsprozess. Die Andersheit, die eine Immunreaktion hervorriefe, würde dem Prozess der Entgrenzung entgegenwirken. Die immunologisch organisierte Welt hat eine besondere Topologie. Sie ist von Grenzen, Übergängen und Schwellen, von Zäunen, Gräben und Mauern geprägt. Sie verhindern den universalen Tausch- und Austauschprozess. Die allgemeine Promiskuität, die heutzutage alle Lebensbereiche erfasst, und das Fehlen der immunologisch wirksamen Andersheit bedingen einander. Auch die Hybridisierung, die nicht nur den aktuellen kulturtheoretischen Diskurs, sondern auch das heutige Lebensgefühl überhaupt beherrscht, ist gerade der Immunisierung diametral entgegengesetzt. Die immunologische Hyperästhesie ließe keine Hybridisierung zu.

Die Dialektik der Negativität ist der Grundzug der Immunität. Das immunologisch Andere ist das Negative, das in das Eigene eindringt und es zu negieren sucht. Das Eigene geht an dieser Negativität des Anderen zugrunde, wenn es sie seinerseits nicht zu negieren vermag. Die immunologische Selbstbehauptung des Eigenen vollzieht sich also als Negation der Negation. Das Eigene behauptet sich im Anderen, indem es dessen Negativität negiert. Auch die immunologische Prophylaxe, also die Impfung, folgt der Dialektik der Negativität. Ins Eigene werden dabei nur Fragmente des Anderen eingeführt, um die Immunreaktion hervorzurufen. Die Negation der Negation erfolgt in diesem Fall ohne Todesgefahr, weil die Immunabwehr nicht mit dem Anderen selbst konfrontiert wird. Man tut sich freiwillig ein wenig Gewalt an, um sich vor einer viel größeren Gewalt zu schützen, die tödlich wäre. Das Verschwinden der Andersheit bedeutet, dass wir in einer Zeit leben, die arm an Negativität ist. Die neuronalen Erkrankungen des 21. Jahrhunderts folgen zwar ihrerseits einer Dialektik, aber nicht der Dialektik der Negativität, sondern der der Positivität. Sie sind pathologische Zustände, die auf ein Übermaß an Positivität zurückzuführen sind.

Die Gewalt geht nicht nur von der Negativität, sondern auch von der Positivität aus, nicht nur vom Anderen oder vom Fremden, sondern auch vom Gleichen. Auf diese Gewalt der Positivität deutet Baudrillard offenbar hin, wenn er schreibt: »Wer vom Gleichen lebt, kommt durch das Gleiche um.«4 Baudrillard spricht auch von der »Fettleibigkeit aller gegenwärtigen Systeme«, des Informations-, des Kommunikations- und des Produktionssystems. Es gibt keine Immunreaktion auf das Fett. Baudrillard legt aber, darin besteht die Schwäche seiner Theorie, den Totalitarismus des Gleichen aus immunologischer Perspektive dar: »Es ist kein Zufall, dass so viel von Immunität, Antikörpern, von Einpflanzen und Auswurf die Rede ist. In einer dürftigen Zeit kümmert man sich um Absorbierung und Assimilation. In einer Zeit des Überflusses besteht das Problem in der Ablehnung und Ausstoßung. Die verallgemeinerte Kommunikation und Überinformation bedrohen die gesamten menschlichen Abwehrkräfte.«5 In einem System, in dem das Gleiche herrscht, kann von der Abwehrkraft nur im übertragenen Sinne die Rede sein. Die immunologische Abwehr richtet sich immer gegen das Andere oder das Fremde im emphatischen Sinne. Das Gleiche führt nicht zur Bildung von Antikörpern. In einem vom Gleichen beherrschten System ist es nicht sinnvoll, die Abwehrkräfte zu stärken. Wir müssen zwischen immunologischer und nicht-immunologischer Abstoßung unterscheiden. Diese gilt dem Zuviel am Gleichen, dem Übermaß an Positivität. An ihr ist keine Negativität beteiligt. Sie ist auch keine Ausschließung, die einen immunologischen Innenraum voraussetzt. Die immunologische Abstoßung erfolgt dagegen unabhängig von dem Quantum, denn sie ist eine Reaktion auf die Negativität des Anderen. Das immunologische Subjekt mit seiner Innerlichkeit wehrt das Andere ab, schließt es aus, selbst wenn es nur in geringster Menge vorhanden ist.

Die Gewalt der Positivität, die von der Überproduktion, Überleistung oder Überkommunikation herrührt, ist nicht mehr »viral«. Zu ihr bietet die Immunologie keinen Zugang. Die Abstoßung angesichts des Übermaßes an Positivität stellt keine immunologische Abwehr, sondern eine digestiv-neuronale Abreaktion und Ablehnung dar. Erschöpfung, Ermüdung und Erstickung angesichts des Zuviel sind ebenfalls keine immunologischen Reaktionen. Sie sind alle Erscheinungen einer neuronalen Gewalt, die insofern nicht viral ist, als sie auf keine immunologische Negativität zurückzuführen ist. Baudrillards Theorie der Gewalt ist deshalb von argumentativen Verwerfungen und Unschärfen durchzogen, weil sie die Gewalt der Positivität bzw. des Gleichen, an der keine Andersheit beteiligt ist, immunologisch zu beschreiben versucht. So schreibt er: »Es ist eine virale Gewalt, jene der Netze und des Virtuellen. Eine Gewalt der sanften Vernichtung, eine genetische und kommunikationelle Gewalt; eine Gewalt des Konsens (...). Diese Gewalt ist viral, in dem Sinne, dass sie nicht frontal operiert, sondern mittels Ansteckung, Kettenreaktion und durch Beseitigung aller Immunitäten. Auch in dem Sinne, dass sie im Gegensatz zur negativen und historischen Gewalt durch ein Übermaß an Positivität wirkt, genau wie Krebszellen, durch endloses Wuchern, Auswuchs und Metastase. Zwischen Virtualität und Viralität gibt es eine geheime Verwandtschaft.«6

Baudrillards Genealogie der Feindschaft zufolge tritt der Feind im ersten Stadium als Wolf auf. Er ist ein »äußerer Feind, der angreift und gegen den man sich verteidigt, indem man Befestigungsanlagen baut und Mauern errichtet«.789