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Der Alkohol und die Wehmut ist die Prosafassung eines hundertminütigen Hörspiels, das in der Transsibirischen Eisenbahn zwischen Moskau und Nowosibirsk geschrieben und im Juli 2010 von France Culture gesendet wurde. Sprecher der Originalversion waren die Schauspieler Julie Pouillon und Serge Vladimirov, Regie führte Cédric Aussir. Die (tatsächliche) Reise wurde im Rahmen des Frankreich-Russland- Jahres von Cultures France ermöglicht.

Inhalt

 

Moskau

Nischni Nowgorod

Perm

Sankt Petersburg

Jekaterinburg

Nowosibirsk

Erste Auflage 2016

Copyright © der deutschen Ausgabe 2016
MSB Matthes & Seitz Berlin Verlagsgesellschaft mbH
Göhrener Str. 7 | 10437 Berlin
info@matthes-seitz-berlin.de

 

Copyright © der französischen Originalausgabe 2011
„L'alcool et la nostalgie“

Actes Sud

Place Nina-Berberova BP 90038 | 13633 Arles cedex
Alle Rechte vorbehalten.

 

Lektorat Martin Kölbel, Berlin

Druck und Bindung Friedrich Pustet, Regensburg

Umschlaggestaltung Dirk Lebahn, Berlin

Satz Martin Kölbel, Berlin

 

www.matthes-seitz-berlin.de

ISBN 978-3-95757-349-0

Mathias Énard

Der Alkohol und die Wehmut

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Sie übertreiben, mein bester Herr, ja, Sie irren sich. Da können Sie lange suchen, Sie werden nichts finden. Die berühmte russische Seele existiert nicht. Das einzig Greifbare daran ist der Alkohol, die Wehmut und die Leidenschaft für Pferderennen. Ich versichere Ihnen, etwas anderes ist da nicht.

Anton Tschechow, Die Postkutsche von Twer

 

Für Jeanne, wo immer sie ist

Moskau

Du bist kein echter Bruder, Wladimir, du trinkst nicht mit, nicht einen Tropfen, mein Alter, trotz all der Kilometer durch heruntergebrannte Birken und trotz der abgewetzten Gleise, die uns entgegenschreien, wir werden abkratzen. Wir haben Moskau gesehen und du tust mir das an, bleibst stumm, völlig zu, vielleicht hast du dich aufgegeben, weil das Leben dich abgefüllt hat, wo der Zug doch gerade in Wladimir hält. Wlado, ich muss dir eine Geschichte erzählen, ich habe sie in Moskau gehört, weißt du, der vertraut grauen Stadt mit ihren Autos und den überraschend goldenen Zwiebeltürmen, diesen freundlichen Knospen, von denen der Regen tropft. Reisen hilft eben auch nicht. Alles sieht überall gleich aus. Dieses sowjetische Hotel, in dem ich gestern schlief, mit seinem Achtzigzentimeterbett, seinem leeren, die Nacht durch brummenden Kühlschrank, seinen Blümchenvorhängen, seinem fleckigen Teppichboden und seiner affenarschfarbigen Tapete – all das nahm einem sogar die Lust, sich noch einmal schlafen zu legen. Ich versuche, mir diesen Ort bei Sonne vorzustellen, er sähe sicher noch trister aus. Ich muss mich anpassen. Ein Reisender muss sich anpassen, heißt es. Reine Disziplin, reine Übung. Ich glaube, ich bin nicht zum Reisen geschaffen, Wolodja, selbst mit dir nicht. Mich interessiert nur der Blickwinkel der Freundschaft, der Begegnung, aber ich weiß auch, dass das dem Reisenden nicht einfach so geschenkt wird. Nur Patagonien, nur Patagonien passt zu meiner unermesslichen Traurigkeit. Alles Lügen. Du weißt, wovon ich rede, du kennst die Einsamkeit und Langeweile eines Hotelzimmers, in dem man nichts zu suchen hat, in dem man nicht tut, was man tun sollte: schlafen, trinken, lesen oder unvergessliche Werke schreiben. Moskaus laues Herz schlägt in seinem Lavasarg. Wie viele Stunden habe ich noch zu verlieren? Auf dem Weg vom Flughafen sah ich das Mahnmal, das markiert, bis wohin die vorrückenden Deutschen auf der Leningrad-Route kamen: auf einem Fries zwei riesige Pferde, die die in der Erinnerung gigantischen Panzer aufhalten sollen.

Еще не умер ты не один

 

Mitten in der Nacht einer dieser Anrufe, vor denen wir uns alle fürchten, um drei Uhr morgens, vom Klingeln meines Handys geweckt, erkannte ich eine russische Nummer, eine aus Moskau, doch es war nicht die von Jeanne. Eine Sekunde lang dachte ich, sie hat einen Unfall gehabt und man ruft mich an, um mir mitzuteilen, dass sie tot ist, ich schaute auf das Display, hob schließlich knapp vor dem Einschalten des Anrufbeantworters ab, erkannte ihre Stimme, hallo, ich sagte auch hallo, hallo, hallo, Jeanne? Mathias, sagte sie und nichts weiter, ja, ich bin’s, was ist los, was ist mit dir, sie antwortete nicht, ich musste ihren Vornamen ein Dutzend Mal wiederholen, hallo Jeanne? Jeanne? Ich glaubte, sie sei betrunken und habe plötzlich mitten in der Nacht Lust gehabt, mich anzurufen, doch sie sagte nichts, gar nichts, nicht ein Wort, ich hörte nur ihren Atem, sie war dran, aber schwieg. Das ging mir plötzlich auf die Nerven, Jeanne, murrte ich, es ist drei Uhr morgens, wenn du nicht redest, lege ich auf, und nach einer Weile hauchte sie nur: Wladimir. Sonst nichts, es war auch nicht nötig, irgendetwas hinzuzufügen, ich verstummte.

Acht Tage später stand ich in Moskau und erkannte nichts wieder; am Flughafen Scheremetjewo gab es einen neuen Terminal, ich hatte den Eindruck, im falschen Land angekommen zu sein. Jeanne erwartete mich an der Metro Belorusskaja, die ich ebenfalls nicht kannte. Es regnete.

Ich weiß nicht mehr, in welchem Moment genau ich beschlossen habe, diese Reise anzutreten und dich nach Sibirien zu bringen, in Moskau jedenfalls, der Stadt der tausendunddrei Kirchtürme und der sieben Bahnhöfe, zitterte ich erst einmal im Nieselregen und hielt Jeannes Hand; sie war bleich und zerbrechlich, hatte dunkle Augenringe und ihr Atem roch nach Ether, nach Wodka oder Medikamenten.

»Wie geht’s, hat’s sehr lang gedauert?«

»Mit dem Flugzeug dauert’s immer sehr lang. Ich habe mich auf dich gefreut«, log ich.

»Ich auch.«

»Wie geht’s?«

»Nicht besonders, ich habe seit einer Woche nicht geschlafen. Ich denke die ganze Zeit an ihn.«

»Mir auch nicht. Mir geht’s auch nicht gerade gut. Ich habe mehr Pillen als Klamotten im Koffer.«

»Dein Koffer ist ziemlich klein.«

»Ich bleibe nicht lange. Übrigens habe ich ein Hotelzimmer reserviert.«

»Wirklich? Willst du nicht lieber zu mir kommen? «

Sie sagte es mit neutraler Stimme, als bedeute es ihr nicht besonders viel. Ich spürte, dass sie heuchelte, so wie ich sicherlich auch. »Ich muss allein sein«, gab ich zurück. Was faselte ich da. Tatsächlich brauchte ich sie, konnte es aber nicht zugeben. Ich hatte sie fast zwei Jahre lang nicht gesehen, ihre braunen Haare waren länger, wie mir schien, ihre Lippen heller, ihre Haut weißer.

Ich hatte das Gefühl, ein entfernter Cousin zu sein, der zu einer Beerdigung kam. In diesen zwei Jahren hatte ich einen einzigen Brief von ihr bekommen, einen langen Brief. Ich hatte Wladimir mehrmals an der Strippe gehabt und jedes Mal den Eindruck, dass er mich heimlich anrief. Er hatte gesagt, alles laufe gut, doch das Ergebnis war: Ich stand allein mit Jeanne und einem Koffer im Regen.

 

In der Metro zog sie ein winziges Parfümfläschchen aus der Tasche, ließ einen Tropfen auf ihr rechtes Handgelenk perlen und rieb ihn mechanisch mit dem linken ein.

Ich hatte diese Bewegung vergessen.

Die Brust schnürte sich mir zusammen, ich hatte Lust, sie zu küssen, sie an mich zu ziehen, sie zu halten.

Ich schaute sie nur an.

»Du könntest wenigstens kurz mit zu mir kommen«, sagte sie.

Ich wollte keine Totenwache halten, ich wusste, dass wir von dir reden würden, dass sie mir alles erzählen würde und so weiter.

»Ich stelle meinen Koffer im Hotel ab.«

Ich sah, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten und glänzten, ich hatte keine Kraft, irgendetwas für sie zu tun.

 

Jeanne erzählte mir, sie habe viele Freunde, die einem neuen, ganz außergewöhnlichen Sport anhingen, einer Leidenschaft, die einen bis zur Ekstase und zur größten Lust treiben könne, die Hölle ist eine Stadt, die Moskau sehr ähnelt, weißt du, natürlich erzählte sie mir von dir und weinte, ich sah ihre Hände zittern, beinahe hätte ich selbst losgeheult, da kam sie mit dieser Geschichte, was sie in den kommenden Tagen tun würde: Sie würde sich aufhängen, wie sie sich ausdrückte. Das ist die neueste Mode bei jungen Leuten, die auf der Suche nach starken Gefühlen sind, sich aufhängen, das bedeutet, dass man dir eine schmerzstillende Salbe auf die Schultern schmiert, auf dem Rücken drei Metallhaken in die Haut rammt und dich anderthalb Meter über den Boden hebt, wobei dein ganzes Gewicht an diesen Angelhaken hängt, die dir die Haut in die Länge ziehen, es blutet scheinbar nur ganz wenig und der Schmerz ist erträglich und löst einen fast mystischen Trancezustand aus: Angeblich hat man das Gefühl, dass man seinen Körper verliert, dass man sich auf diese drei Schmerzpunkte zusammenzieht und nichts mehr Gewicht hat, dass überhaupt nichts mehr Gewicht hat, und sie schaute mich an, Jeanne schaute mich an, ihre Augen waren so leer, dass ich hätte glauben können, sie sei rückfällig geworden. Und dann dachte ich, nein, wenn sie rückfällig geworden wäre, würde sie sich nicht in einem Moskauer Keller an Fleischerhaken aufhängen. Wir liefen zur Station Taganskaja, es hatte wieder zu regnen begonnen. Alles war dermaßen traurig, ich stellte mir Jeanne in ihrem Schmerz mit nacktem Oberkörper, halbgeöffneten Lippen und immer noch genauso leeren Augen in der Luft hängend vor und musste selbst zittern, was würde ich für meinen Schmerz tun, was konnte ich schon tun, ich würde mich nicht aufhängen oder zufällig Mittel und Wege finden, um Dope oder Opium zu rauchen. Ich hatte noch drei oder vier Stunden, bevor ich am Jaroslawler Bahnhof zu dir stoßen würde. Jeanne lief neben mir her; ich war verwirrt, ich hatte keine Lust auf ihre Anwesenheit.

»Ich muss zum Bahnhof«, sagte ich.

»Wollen wir nicht doch zu mir gehen? Wir könnten einen Tee trinken und uns ins Bett legen. «

Ich sagte nichts. Ich dachte, wir drei sind Matrjoschkas. Für immer ineinandergeschachtelt und außerhalb voneinander unbrauchbar, entzweit, leer. Sie rückte näher an mich heran.

»Komm schon, es ist nicht weit.«

Ich wusste, wenn ich mich darauf einließe, käme ich nie rechtzeitig zum Bahnhof, ich würde in ihren Armen einschlafen und sie in meinen, wir würden zwei der drei Puppen wieder ineinanderstecken, die mittlere und die kleine.

Wenn ich mit zu Jeanne ginge, würdest du ohne mich abfahren.

»Jeanne, ich muss zum Bahnhof.«

»Ich habe das Gefühl, du kommst auch nicht wieder. Auch du wirst da drüben in Sibirien verloren gehen. Schade.«

Sie nahm meine Hand und drückte sie. Ich starrte den schwarzen Schönheitsfleck an ihrem Kinn an, ich konnte ihr nicht in die Augen sehen.

»Jeanne, ich muss los.«