Chris Kraus


I

Love

Dick

Aus dem amerikanischen Englisch von Kevin Vennemann

Danksagung

Ich möchte den folgenden Menschen danken, die mit ihrem Zuspruch und Rat geholfen haben: Romy Ashby, Jim Fletcher, Carol Irving, John Kelsey, Ann Rower und Yvonne Shafir. Außerdem danke ich Eryk Kvam für die Rechtsberatung, Catherine Brennan, Justin und Andrew Berardini fürs Korrekturlesen und die Faktenüberprüfung, den Lektoren Ken Jordan und Jim Fletcher, Marsie Scharlatt für einen Einblick in und hilfreiche Informationen zur Fehldiagnose von Schizophrenie; und Sylvère Lotringer wie immer für alles.

Szenen einer Ehe

3. Dezember 1994

Chris Kraus (39), experimentelle Filmemacherin, und Sylvère Lotringer (56), College-Professor in New York, essen gemeinsam mit Dick _____, einem Bekannten Sylvères, in einer Sushi-Bar in Pasadena zu Abend. Dick ist Kulturwissenschaftler, kommt ursprünglich aus England und hat seinen Wohnsitz vor Kurzem von Melbourne nach Los Angeles verlegt. Chris und Sylvère haben Sylvères Forschungstrimester in einer Hütte in Crestline verbracht, einer kleinen Stadt in den San Bernardino Mountains, etwa 90 Minuten außerhalb von Los Angeles. Weil Sylvère im Januar wieder unterrichtet, müssen sie schon bald nach New York zurückkehren. Während des Essens besprechen die Männer die jüngsten Entwicklungen postmoderner Theorie, und Chris, die keine Intellektuelle ist, bemerkt, dass Dick ihr wiederholt Blicke zuwirft. Dicks Aufmerksamkeit verleiht ihr ein Gefühl von Stärke, und als die Rechnung kommt, holt sie ihre Diners-Club-Kreditkarte hervor. »Bitte«, sagt sie. »Lasst mich bezahlen.« Im Radio wird für den San-Bernardino-Highway Schneefall angekündigt. Großzügig lädt Dick die beiden ein, die Nacht in seinem Haus in der Wüste des Antelope Valley zu verbringen, knapp 130 Kilometer entfernt.

Chris will aus ihrer Paarhaftigkeit ausbrechen, also erwärmt sie Sylvère für den Nervenkitzel einer Fahrt in Dicks prächtigem und uraltem Thunderbird Cabrio. Sylvère, der einen T-Bird nicht von anderen Vögeln unterscheiden kann und dem sowieso alles egal ist, willigt ein, wenn auch irritiert. Gesagt, getan. Voller Sorge beschreibt Dick ihr äußerst ausführlich den Weg. »Beruhig dich«, unterbricht sie ihn und lächelt. »Ich fahr dir einfach ganz dicht hinterher«, und das tut sie dann auch. Sie ist ein wenig angeheitert, gibt gleichmäßig Gas und fühlt sich an ihre Performance Car Chase erinnert, die sie mit 23 im St. Mark’s Poetry Project in New York aufgeführt hat. Sie und ihre Freundin Liza Martin waren einem extrem gut aussehenden Porschefahrer ganz dicht einmal quer durch Connecticut über den Highway 95 gefolgt. Irgendwann fuhr er auf einen Rastplatz ab, doch als Liza und Chris ausstiegen, rauschte er davon. Die Performance war zu Ende, als Liza auf der Bühne aus Versehen, aber in echt, Chris’ Hand mit einem Küchenmesser durchstieß. Blut floss, und alle fanden Liza umwerfend sexy und gefährlich und wunderschön. Unter ihrem flauschigen, sehr knappen Top sprang ihr Bauch hervor, ihre Netzstrumpfhose riss am grünen Vinylminirock auf, und als sie sich zurückschwang, um ihren Schritt zu zeigen, sah sie wie die allerbilligste Hure aus. Ein Star war geboren. Niemand im Publikum fand jedoch Chris’ blasses anämisches Äußeres und ihren durchdringend starren Blick auch nur entfernt einnehmend. Wie hätte man auch? Eine Frage, die vorübergehend zurückgestellt worden war. Doch das hier war jetzt eine ganz andere Welt. Die Musikwunschleitungen von 92.3 The Beat brummten. Los Angeles nach den Unruhen, eine auf Glasfasernerven gefädelte Stadt. Dicks Thunderbird befand sich immerzu irgendwo in Sichtweite, die beiden Fahrzeuge waren über das steinerne Flussbett des Highways hinweg auf unsichtbare Weise miteinander verknüpft, so wie John Donnes Augäpfel. Und diesmal war Chris allein.

Bei Dick zuhause entfaltet sich die Nacht wie jener feuchtfröhliche Weihnachtsabend in Eric Rohmers Film Meine Nacht bei Maud. Chris bemerkt, dass Dick mit ihr flirtet. Seine unermessliche Intelligenz reicht weit über alle PoMo-Rhetorik hinaus und lässt eine grundsätzliche Einsamkeit erkennen, derer sich nur sie und er bewusst sind. Benommen erwidert Chris seine Blicke. Um zwei Uhr morgens spielt Dick ihnen ein Video vor, das im Auftrag des englischen öffentlich-rechtlichen Fernsehens entstanden ist und in dem er als Johnny Cash verkleidet auftritt. Er spricht von Erdbeben und Aufständen und über sein rastloses Verlangen nach einem Ort, den er als Zuhause bezeichnen kann. Zwar formuliert Chris sie noch nicht aus, doch ihre Reaktion auf Dicks Video ist sehr komplex. Als Künstlerin findet sie Dicks Arbeit hoffnungslos naiv, sie hat jedoch ein Faible für bestimmte Formen schlechter Kunst. Für Kunst, die einen Einblick ermöglicht in die Hoffnungen und Wünsche ihres Schöpfers. Schlechte Kunst macht ihre Betrachter sehr viel aktiver. (Jahre später wird Chris begreifen, dass ihre Vorliebe für schlechte Kunst den starken Gefühlen entspricht, die Jane Eyre für Rochester empfindet, einen sehr durchschnittlichen, pferdegesichtigen Junkie: Üble Burschen machen erfinderisch.) Doch Chris behält diese Gedanken für sich. Weil sie sich so gut wie nie in theoretischer Sprache ausdrückt, erwartet niemand allzu viel von ihr, und längst hat sie sich daran gewöhnt, sich ganz allein für sich und schweigend an vielschichtigen Komplexitäten zu berauschen. Chris’ unausgesprochener Doppelsalto in Bezug auf Dicks Video führt dazu, dass sie sich nur noch mehr zu ihm hingezogen fühlt. Sie träumt die ganze Nacht von ihm. Doch als Chris und Sylvère am nächsten Morgen auf dem Schlafsofa aufwachen, ist Dick verschwunden.

4. Dezember 1994, 10 Uhr

Sylvère und Chris verlassen Dicks Haus, widerwillig und an diesem Morgen allein. Chris stellt sich der Herausforderung, eine dieser Dankesnotizen zu improvisieren, die man zurücklassen muss. Sylvère und sie frühstücken bei International House of Pancakes in Antelope. Weil die beiden nicht mehr miteinander schlafen, erhalten sie ihre Intimität via Dekonstruktion aufrecht, d. h. sie erzählen einander alles. Chris erzählt Sylvère, dass sie glaubt, dass Dick und sie soeben einen Konzeptfick erlebt haben. Dicks Verschwinden am Morgen danach habe diese Erfahrung lediglich vollendet und ihr einen subkulturellen Subtext verliehen, den Dick und sie nun miteinander teilen. Sie fühlt sich an all ihre verschwommenen Einmalficks mit Männern erinnert, die zur Tür hinaus waren, bevor sie die Augen öffnen konnte. Sie trägt Sylvère ein Gedicht von Barbara Barg zu diesem Thema vor:

What do you do with a Kerouac

But go back and back to the sack

with Jack

How do you know when Jack

has come?

You look on your pillow and

Jack is gone …

Und dann war da noch die Nachricht auf Dicks Anrufbeantworter. Als sie am Abend zuvor ins Haus kamen, zog Dick seinen Mantel aus, goss ihnen Drinks ein und drückte auf die Wiedergabetaste. Die Stimme einer sehr jungen, sehr kalifornischen Frau setzte an:

Hi Dick, Kyla hier. Dick, e-es tut mir leid, dass ich dich immer wieder zuhause anrufe, und jetzt habe ich deinen Anrufbeantworter dran, und ich wollte nur sagen, dass es mir leidtut, dass gestern Nacht irgendwie nichts so richtig funktioniert hat, und – ich weiß, es ist nicht dein Fehler, aber ich glaube, dass ich dir eigentlich nur dafür danken wollte, dass du ein so netter Mensch bist …

»Das ist mir jetzt ziemlich peinlich«, murmelte Dick auf sehr reizende Weise, während er die Wodkaflasche öffnete. Dick ist 46 Jahre alt. Hatte diese Nachricht zu bedeuten, dass er am Ende ist? Und könnte er gerettet werden, falls er denn tatsächlich am Ende ist, indem er eine Konzeptromanze mit Chris einginge? War der Konzeptfick nur ein erster Schritt? Während der nächsten paar Stunden diskutieren Sylvère und Chris darüber.

4. Dezember 1994, 20 Uhr

Zurück in Crestline kann Chris nicht aufhören, über diesen Abend mit Dick nachzudenken. Also fängt sie an, eine Erzählung mit dem Titel Abstrakte Romantik zu schreiben, die von ihm handelt. Es ist ihre erste Erzählung seit fünf Jahren.

»Es begann im Restaurant«, beginnt sie. »Es war früher Abend, und wir lachten alle ein wenig zu viel.«

Immer wieder wendet sie sich in dieser Erzählung an David Rattray, weil sie überzeugt davon ist, dass Davids Geist während der Autofahrt letzte Nacht bei ihr war und ihren Pick-up-Truck über den gesamten Highway 5 vor sich hergeschoben hat. Chris, Davids Geist und der Truck waren zu einer einzigen sich vorwärts bewegenden Einheit verschmolzen.

»Letzte Nacht habe ich mich so gefühlt«, schrieb sie an Davids Geist, »wie ich es bisweilen tue, wenn sich mit einem Mal ganz neue und wahnsinnig aufregende Aussichten aufzutun scheinen – dass du hier warst: ganz dicht neben mir geschwebt bist, irgendwo zwischen meinem linken Ohr und meiner Schulter, so verdichtet wie ein Gedanke.«

Sie dachte andauernd an David. Es war geradezu unheimlich gewesen, dass Dick, als hätte er ihre Gedanken gelesen, irgendwann mitten in dem versoffenen Gespräch der letzten Nacht ganz unvermittelt sagte, wie sehr er Davids Bücher verehre. David Rattray war ein verwegener Abenteurer gewesen und ein Genie und ein Moralist, der bis zum Augenblick seines Todes im Alter von 57 Jahren regelmäßig den unmöglichsten Schwärmereien erlag. Und jetzt spürte Chris, wie Davids Geist sie dazu drängte, ihre eigene Schwärmerei zu begreifen und zu begreifen, wie der geliebte Mensch zu einer Warteschleife werden kann für all die zerfransten Enden sämtlicher Erinnerungen, Erfahrungen und Gedanken, die man in seinem Leben angesammelt hat. Also begann sie Dicks Gesicht zu beschreiben, »blass und lebhaft, gute Knochen, rötliches Haar und tiefliegende Augen«. Während sie schrieb, behielt sich Chris sein Gesicht vor Augen, und dann klingelte das Telefon, und es war Dick.

Chris schämte sich schrecklich. Sie fragte sich, ob er nicht eigentlich für Sylvère anrief, doch Dick erkundigte sich gar nicht nach ihm, also blieb sie in der kratzenden Leitung. Dick rief an, um sein Verschwinden in der Nacht zuvor zu erklären. Er war früh aufgestanden und nach Pearblossom rübergefahren, um sich ein paar Eier mit Speck zu holen. »Ich leide ein bisschen an Schlaflosigkeit, weißt du.« Als er ins Antelope Valley zurückgekehrt sei und festgestellt habe, dass sie weg waren, sei er ernsthaft überrascht gewesen.

An dieser Stelle hätte Chris ihm ihre eigene, weithergeholte Interpretation der Dinge darlegen können: Hätte sie es getan, wäre diese Geschichte anders verlaufen. Doch die Verbindung war zu schlecht und sie fürchtete sich ohnehin schon vor ihm. Fiebernd dachte sie darüber nach, ob sie ein nächstes Treffen vorschlagen sollte, tat es aber nicht, und dann legte Dick auf. Chris stand in ihrem provisorisch eingerichteten Büro und schwitzte. Dann rannte sie die Treppe hinauf, um Sylvère zu suchen.

5. Dezember 1994

Sylvère und Chris waren allein in Crestline und verbrachten den größten Teil der vergangenen Nacht (Sonntag) und dieses Morgens (Montag) damit, über Dicks Dreiminutenanruf zu sprechen. Warum zieht Sylvère das eigentlich alles überhaupt nur in Betracht? Möglich, dass Chris zum ersten Mal seit letztem Sommer wirklich lebendig und munter zu sein scheint, und weil Sylvère sie liebt, erträgt er es nicht, sie traurig zu sehen. Möglich, dass er mit seinem Buch über die Moderne und den Holocaust in einer Sackgasse gelandet ist, und dass es ihm davor graust, nächsten Monat an seine Lehrerstelle zurückkehren zu müssen. Möglich, dass er pervers ist.

6. bis 8. Dezember 1994

Dienstag, Mittwoch und Donnerstag dieser Woche verstreichen undokumentiert, verschwommen. Falls wir uns richtig erinnern, verbrachten Chris Kraus und Sylvère Lotringer die Dienstage dieses Trimesters in Pasadena und unterrichteten dort am Art Center College of Design. Wollen wir versuchen, ihre Tage zu rekonstruieren? Sie stehen um acht Uhr auf, fahren den Hügel hinunter, auf dem Crestline liegt, holen sich in San Bernardino Kaffee, nehmen den Highway 215 bis zum Freeway 10 und sind dann eineinhalb Stunden unterwegs, bevor sie unmittelbar nach dem schlimmsten Verkehr in L. A. ankommen. Wahrscheinlich sprachen sie den größten Teil der Fahrt über Dick. Und doch müssen sie, weil sie vorhaben, Crestline in weniger als zehn Tagen, am 14. Dezember, zu verlassen (Sylvère über die Feiertage nach Paris, Chris nach New York), auch kurz Logistisches besprochen haben. Eine ruhelose Sehnsucht … Sie fuhren durch Fontana und Pomona, durch eine bedeutungslose Landschaft, der eine sehr uneindeutige Zukunft bevorstand. Während Sylvère seine Vorlesung über den Poststrukturalismus hielt, fuhr Chris nach Hollywood, um einige Pressefotos für ihren Film abzuholen und Käse bei Trader Joe’s einzukaufen. Dann fuhren sie nach Crestline zurück und in Schleifen den Berg hinauf durch Dunkelheit und dichten Nebel.

Mittwoch und Donnerstag verschwinden. Ganz offensichtlich wird es Chris’ neuer Film nicht sehr weit bringen. Was soll sie als Nächstes tun? Ihre ersten künstlerischen Erfahrungen hatte sie in den Siebzigern gemacht, als sie an einer Reihe verdrogter Psychodramen mitwirkte. Die Vorstellung, dass Dick eine Art Spiel zwischen ihnen vorgeschlagen haben könnte, ist unglaublich aufregend. Sie erklärt es Sylvère wieder und wieder. Sie fleht ihn an, Dick doch anzurufen und nach irgendeinem Hinweis zu bohren, dass er an sie denkt. Und falls er das tut, würde sie ihn anrufen.

Freitag, 9. Dezember 1994

Sylvère ist ein europäischer Intellektueller, der Proust unterrichtet und sehr bewandert ist in der Analyse all der zahllosen winzigen Einzelheiten der Liebe. Doch wie lange kann man einen einzigen Abend und einen dreiminütigen Anruf auseinandernehmen? Sylvère hat bereits zwei unbeantwortete Nachrichten auf Dicks Anrufbeantworter hinterlassen. Und Chris hat sich in ein aufgekratztes Emotionsbündel verwandelt, das zum ersten Mal seit sieben Jahren sexuell erregt ist. Also schlägt Sylvère ihr am Freitagmorgen schließlich vor, dass sie Dick doch einen Brief schreiben solle. Weil sie sich schämt, fragt sie ihn, ob er ihm nicht auch einen schreiben möchte. Sylvère willigt ein.

Ist es normal, dass Ehepaare gemeinsam an Billets-doux arbeiten? Wären Sylvère und Chris nicht derart militant gegen die Psychoanalyse, hätten sie diesen Moment wohl als Wendepunkt betrachtet.

Doch als sie ihre Briefe beendet hatten, waren Chris und Sylvère überzeugt, dass sie es noch besser konnten. Dass noch nicht alles gesagt war. Also eröffneten sie eine zweite Runde, verbrachten den größten Teil des Freitags auf dem Wohnzimmerboden in Crestline und reichten sich den Laptop hin und her. Und sie schrieben jeweils einen zweiten Brief, Sylvère über die Eifersucht, Chris über die Ramones und die kierkegaardische zweite Entfernung. »Vielleicht möchte ich so sein wie du«, schrieb Sylvère, »und ganz allein in einem Haus inmitten eines Friedhofs leben. Ich meine, warum nicht die Abkürzung nehmen? Also habe ich tatsächlich zu fantasieren begonnen, auch auf erotische Weise, weil das Verlangen sogar dann lockt, wenn es nicht auf einen selbst ausgerichtet ist, und es ist voller Energie und Schönheit, und ich glaube, dass es mich angeturnt hat, dass du Chris angeturnt hast. Nach einer Weile wurde es schwer, nicht die Tatsache aus den Augen zu verlieren, dass ja nicht wirklich etwas geschehen war. Ich glaube, dass ich irgendwo in einer sehr dunklen Ecke meines Verstandes realisiert habe, dass ich, wenn ich denn schon nicht eifersüchtig bin, auf eine irgendwie perverse Weise doch immerhin zu einem Teil dieser fiktionalen Liaison werden muss. Wie sonst sollte ich ertragen, dass meine Frau in dich verknallt ist? Die Gedanken, die mir kommen, sind ziemlich geschmacklos: Ménage-à-trois, der bereitwillige Ehemann … Wir sind alle drei viel zu aufgeklärt, um uns mit solch trostlosen Archetypen abzugeben. Haben wir versucht, neue Wege zu beschreiten? Deine Cowboy-Persona und Chris’ Träume von all den zerrissenen und insgeheim verzweifelten Männern, die sie zurückgewiesen haben, griffen doch so gut ineinander. Die Tatsache, dass du auf unsere Nachrichten nicht antwortest, verwandelt deinen Anrufbeantworter in eine leere Fläche, auf die wir unsere Fantasien projizieren können. Gewissermaßen habe ich Chris also tatsächlich angespornt, weil sie sich nur deinetwegen eines sehr viel größeren Bildes entsann, nämlich wie sie sich letzten Monat nach ihrer Rückkehr aus Guatemala gefühlt hatte, und wir alle sind potenziell größere Menschen, als wir sind. Es gibt so viel, über das wir noch nicht gesprochen haben. Doch vielleicht wird man ja gerade so zu engeren Freunden. Indem man Gedanken austauscht, die nicht unbedingt ausgetauscht werden müssen …«

Chris’ zweiter Brief war weniger edel. Zu Beginn schwärmte sie noch einmal von Dicks Gesicht: »An jenem Abend im Restaurant fing ich an, dein Gesicht zu betrachten. – Oh wow, hört sich das nicht an wie die erste Zeile in dem Ramones-Song Needles & Pins? ›I saw your face / It was the face I loved / And I knew‹ – und ich fühlte mich wie immer, wenn ich diesen Song höre, und als du anriefst, begann mein Herz zu hüpfen, und dann dachte ich, dass wir vielleicht etwas miteinander machen könnten – etwas, das sich zum jugendlichen Verliebtsein genauso verhält wie das Ramones-Cover zum Original dieses Songs. Die Ramones verleihen Needles & Pins die Möglichkeit der Ironie, ohne dass diese Ironie die Emotionalität des Songs untergrübe. Sie macht sie noch stärker und wahrer. Søren Kierkegaard nannte dies »die zweite Entfernung«. In seinem Aufsatz Die Krise und eine Krise im Leben einer Schauspielerin behauptet er, dass die knapp 14-jährige Julia von keiner Schauspielerin gespielt werden könne, die noch nicht mindestens 31 sei. Weil die Schauspielerei eine Kunst sei und weil die Kunst verlange, dass man in der Lage sein müsse, weit über sich hinauszuwachsen. Und mit den Schwingungen zwischen dem Hier und dem Dort und dem Damals und dem Jetzt zu spielen. Und denkst du nicht auch, dass man eine Realität am ehesten dialektisch erschafft? PS: Dein Gesicht ist lebendig, markant, schön …«

Als Sylvère und Chris ihre zweiten Briefe beenden, ist es später Nachmittag. Lake Gregory schimmert in der Ferne, umringt von schneebedeckten Bergen. Die Landschaft glüht und ist weit entfernt. Für den Moment sind beide zufrieden. Erinnerungen ans Familienleben, als Chris jung war, vor 20 Jahren: ein Eierbecher aus Porzellan und eine Teetasse, ein um sie herum gemalter Kreis aus Menschen, blau und weiß. Ein blauer Sperlingsvogel am Boden der Tasse, durch bernsteinfarbenen Tee erkennbar. Alles Hübsche dieser Welt, enthalten in diesen beiden Objekten. Als Chris und Sylvère den Toshiba-Laptop beiseitelegen, ist es bereits dunkel. Sie bereitet das Abendessen zu. Er arbeitet wieder an seinem Buch.

Doch natürlich schickten sie das Fax nie ab. Stattdessen hinterließ Sylvère eine weitere Nachricht auf Dicks Anrufbeantworter:

»Hi Dick, Sylvère hier. Ich würde gern mit dir über eine Idee sprechen, die mir gekommen ist. Es handelt sich um eine Kollaboration, die wir zusammen machen könnten, bevor ich am Mittwoch abreise. Ich hoffe, dass du die Idee nicht für allzu verrückt hältst. Ruf mich an.«

Inzwischen erwarteten sie eigentlich nicht mehr, noch eine Nachricht von ihm zu erhalten, nachdem er schon die ganze Woche geschwiegen hatte. Also brach Chris auf, um in San Bernardino einige Besorgungen zu machen. Doch an diesem Samstag, dem 10. Dezember, um 18.45 Uhr, in etwa als sie gerade den Berg hochfuhr, rief er an.

Das obere Crestline schien so trostlos an diesem Abend. Ein Spirituosenladen, eine Pizzeria. Eine einzige lange Reihe von Ladenlokalen mit Holzfassaden aus den 50ern, Erinnerungen des Westens an die Weltwirtschaftskrise, halb zugenagelt. Wendy und Michael Tolkin waren letzten Monat mit ihren beiden Töchtern hier zu Besuch. Michael hatte zwei großartige Filme gedreht, Dunkle Erleuchtung und The Player, und gerade eben erst war sein neuer Film New Age erschienen. Er war ein Hollywood-Intellektueller, und Wendy war die geistreichste und netteste Psychotherapeutin, die Sylvère und Chris je getroffen hatten. Nachdem die beiden ihr Entzücken über Crestlines malerische Wunderlichkeit ausgedrückt hatten, merkte Wendy an: Es muss sehr einsam sein, an einem Ort zu wohnen, an den man nicht gehört. Chris und Sylvère hatten keine Kinder, stattdessen drei Abtreibungen, und in den vergangenen beiden Jahre waren sie zwischen billigen Elendsquartieren in Städten an beiden Küsten hin- und hergefahren, um mehr Geld in Chris’ Film stecken zu können. Und natürlich konnte und würde Michael, der nämlich in Wahrheit viel mehr mit Sylvère befreundet war als mit Chris, denn Sylvère war der einzige in L. A., der mehr über französische Theorie wusste als er, nichts tun, um ihr mit ihrem Film zu helfen.

Als Chris nach Hause kam und Sylvère ihr mitteilte, dass er mit Dick gesprochen hatte, wurde sie fast ohnmächtig. »Ich will’s nicht wissen!«, heulte sie. Und dann wollte sie doch alles ganz genau wissen. »Ich habe ein kleines Geschenk, eine Überraschung«, sagte er und zeigte ihr das Tonband. Chris sah Sylvère an, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Sein Gespräch mit Dick aufzunehmen, das war ein ziemliches Vergehen. Sie fühlte sich komisch dabei, unheimlich geradezu – so wie damals, als der Schriftsteller Walter Abish das Aufnahmegerät bemerkte, das Sylvère unter dem Tisch versteckt hatte, als sie einen trinken waren. Sylvère lachte damals darüber, bezeichnete sich als feindlichen Spion. Doch ein Spion zu sein, bedeutet niemand zu sein. Egal, jetzt musste Chris sich die Aufnahme anhören.

Crestline, Kalifornien

10. Dezember 1994

Lieber Dick,

ich frage mich, was ich tun würde, wäre ich du.

Alles Liebe

Sylvère

PS: Wir haben beschlossen, dass wir dich für den Rest des Abends in Ruhe lassen.

Sie waren im Fieberwahn, ekstatisch. Chris hatte sich schon so häufig gewünscht, in Sylvères Kopf oder Herz hineingreifen zu können, um seine Unzufriedenheit zu exorzieren. Am Samstag, dem 10. Dezember, ruhten sie sich aus, glückselig und erschöpft, und endlich bewohnten sie beide ein und denselben Ort zu ein und derselben Zeit.

Crestline, Kalifornien

11. Dezember 1994

Lieber Dick,

Mittag (schon!). Wir warten noch immer auf deinen Anruf. Wir werden jetzt wohl mal in den Gesprächsmodus übergehen, weil wir unsere Zeit zwischen diesen Briefen sowieso ausschließlich damit verbracht haben, über dich zu sprechen.

In Liebe

Chris & Sylvère

Beweisstück D:

Sylvère und Chris unterhalten sich bei gleichzeitiger Transkription

Sonntag, 11. Dezember 1994: 12.05 Uhr

C: Sylvère, was machen wir, wenn er nicht anruft? Rufen wir ihn dann an?

S: Nein, wir können eigentlich auch ohne ihn weitermachen.

C: Du vergisst, dass ich wirklich will, dass er anruft. Ich kribbele überall vor lauter Vorfreude auf seinen Anruf. Ich werde wirklich enttäuscht sein, wenn er nicht anruft.

S: Nun, diesmal solltest aber du mit ihm sprechen. Warum solltest du uns zwei weißen Männer entscheiden lassen, wie’s weitergeht? Ich hab ihn reingezogen. Jetzt bist du dran.

C: Aber ich hab Angst, dass er überhaupt gar nicht erst anruft. Was dann? Ruf ich ihn dann an? Ich fühl mich ja schon jetzt wie in dem Frank-Zappa-Song You Didn’t Try And Call Me.

S: Er wird anrufen, aber nicht heute. Er wird anrufen, wenn es zu spät ist.

C: Oh, Sylvère, ich hasse so was.

S: Aber Chris, genau deshalb wird er es genau so machen.

C: Wenn er heute nicht anruft, glaube ich, dass ich mich ausklinken muss. Weil, weißt du, andernfalls werde ich allen Respekt verlieren. Wir haben so viel getan. Alles, was er tun muss, ist anrufen.

S: Aber vielleicht begreift er ja irgendwann, dass wir bereits alles für ihn getan haben. Warum also stören?

C: Ich bin anderer Meinung. Er sollte neugierig sein. Wenn mich jemand anriefe und mir sagte, dass er oder sie über Nacht 50, 60, 70 Seiten über mich geschrieben habe, dann wäre ich ganz sicher neugierig. Weißt du, Sylvère, wenn diese ganze Dick-Sache nicht klappt, werde ich nach Guatemala-Stadt fahren. Ich muss doch irgendetwas mit meinem Leben anfangen.

S: Aber Chris. Das Antelope Valley ist Guatemala.

C: Ich werde nur so sehr enttäuscht sein, wenn er nicht anruft. Wie kann man jemanden auch weiterhin lieben, der diesen ersten und doch eigentlich sehr einfachen Test schon nicht besteht?

S: Welchen Test: Den Ehebruch-Test?

C: Neiiiiin. Der erste Test ist, einfach nur anzurufen.

Weil ihr Telefon mit Anklopf-Funktion ausgestattet ist, ruft Chris ihre unerschütterliche Freundin Ann Rower in New York an.

Zehn Minuten später

S: Was sagt Ann?

C: Ann sagt, dass es sich um ein großartiges Projekt handelt – sehr viel perverser, als einfach nur eine Affäre zu haben. Sie glaubt, dass sich daraus ein gutes Buch machen ließe! Wenn Dick anruft, sollen wir ihm dann gleich sagen, dass wir über eine Publikation nachdenken?

S: Nein, der Mord hat noch nicht stattgefunden. Das Begehren ist noch nicht gestillt. Warte noch etwas mit den Medien.

C: (quengelnd) Waruuuuuuum??

Sieben Stunden später

C: Schau, Sylvère, das bringt doch nichts. Wir fahren in zwei Tagen, und ich kann nicht einmal über diesen einen Anruf hinausdenken. Heute Nachmittag hab ich ein Fax von einem Produzenten bekommen, der meinen Film sehen will. Ich hab’s nicht mal gelesen. Vielleicht hab ich’s schon weggeworfen.

(Pause)

Das ist eine unfassbare Situation! Ich weiß nicht einmal mehr, was ich von Dick überhaupt noch will. Das kann ja gar nicht gut enden. Dankbar bin ich allein dafür, dass wir nicht mehr in den 70ern sind, sonst hätte ich ihn schon gefickt. Kennst du diese Qualen? Beim Telefon warten, bis das Brennen und die Folter endlich aufhören? Unsere einzige Hoffnung ist, dass sich unser Leben irgendwie fortführen lässt. Was so wagemutig schien, sieht jetzt einfach nur kindisch und pathetisch aus.

S: Chris, ich hab dir doch schon gesagt, dass er nicht anrufen wird. Er neigt dazu, sich zurückzuziehen. Wir haben ihm die Entscheidung abgenommen. Zu entscheiden, was er denkt. Erinnerst du dich an die Einführung, die wir für ihn geschrieben haben? Auf eine Art brauchen wir Dick nicht einmal. Er hat viel mehr zu sagen, wenn er überhaupt gar nichts sagt, und vielleicht ist er sich dessen auch bewusst. Wir haben Dick wie eine dumme Fotze behandelt. Warum sollte ihm das auch gefallen? Wenn er nicht anruft, spielt er seine Rolle doch nur genauso, wie er sie spielen soll.

C: Das stimmt nicht. Dicks Reaktion hat rein gar nichts mit seinem Charakter zu tun. Es ist die Situation. Das erinnert mich an etwas, das mir passiert ist, als ich elf Jahre alt war. Es gab da diesen Mann bei dem Lokalradiosender, der immer sehr nett zu mir gewesen war. Er ließ mich live im Radio sprechen. Dann zog sich eines Tages der Himmel über mir zu, und ich begann Steine in die Windschutzscheibe seines Autos zu werfen. Während ich das tat, schien es mir vollkommen richtig zu sein, doch später kam ich mir verrückt vor und schämte mich.

S: Willst du einen Stein durch Dicks Thunderbird werfen?

C: Das habe ich doch schon getan. Vor allem jedoch habe ich mich erniedrigt.

S: Nein.

C: Aber klar doch. Ich habe eine absolute Fantasie auf eine nichtsahnende Person projiziert und diese Person dann auch noch gebeten, darauf zu reagieren!

S: Aber Chris, ich glaube, seine Verlegenheit hat rein gar nichts mit dir oder mir zu tun, sondern allein mit ihm selbst. Was kann er tun?

C: Ich hasse es, in einen solch körperlichen Zustand hineingeworfen zu werden. Als beim Abendessen das Telefon klingelte, wurde ich ganz rot im Gesicht, mein Herz pochte. Laura und Elizabeth sind den ganzen langen Weg hergefahren, um uns zu besuchen, und ich mag sie, doch ich konnte es gar nicht abwarten, bis sie endlich wieder verschwunden waren.

S: Das ist doch nichts anderes, als das Leben am Limit zu leben, oder?

C: Nein, es ist nichts anderes als dämliche Schwärmerei. Ich schäme mich so sehr.

S: Doch auch wenn sein Schweigen dir wehtut, ist es nicht gerade das, was dich so zu ihm hingezogen hat: Die Tatsache, dass er so unzugänglich war? Also, ich denke, dass es hier zwar einen Widerspruch gibt, aber nichts, wofür du dich schämen müsstest –

C: Ich habe mir schrecklich viel herausgenommen. Er hat alles Recht, mir ins Gesicht zu lachen.

S: Ich bezweifle, dass er lacht. Allenfalls kaut er an den Fingernägeln.

C: Ich fühle mich so teenagermäßig. Wenn man so intensiv in seinem eigenen Kopf lebt, dann beginnt man zu glauben, dass man tatsächlich dafür verantwortlich ist, wenn wirklich etwas von dem geschieht, das man sich ausgemalt hat. Als Lenora sich eine Überdosis schlechtes Acid von meinem damaligen Freund Donald eingeworfen hatte, saßen er und Paul und ich die ganze Nacht im Park und schworen, dass wir uns umbringen würden, sollte Lenora nicht spätestens morgen Station 16 verlassen. Wenn man so intensiv im eigenen Kopf lebt, dann gibt es keinen Unterschied mehr zwischen dem, was man sich ausmalt, und dem, was tatsächlich passiert. Deshalb ist man sowohl allmächtig als auch ohnmächtig.

S: Du sagst, dass Teenager keine Kontrolle über ihr Denken haben?

C: Nein, sie stecken so tief drin in ihren Köpfen, dass es keinen Unterschied mehr gibt zwischen der Welt und dem, was in ihren Köpfen passiert.

S: Was also geschieht gerade in Dicks Kopf?

C: Oh, Sylvère, er ist kein Teenager. Er schwärmt kein bisschen für mich. Er befindet sich im Normalzustand – nun, was auch immer normal für ihn ist, und er fragt sich, wie er mit dieser grauenhaft gefühlsduseligen Situation umgehen soll.

S: Wenn er tatsächlich drüber nachdenkt, wird er heute Abend anrufen. Wenn nicht, dann ruft er Dienstagmorgen an. Anrufen wird er auf jeden Fall.

C: Sylvère, hier geht es zu wie am Institut für Emotionsforschung.

S: Merkwürdig, dass all das, worum es uns geht, so flüchtig ist. Wir können unsere Fähigkeit, etwas zu fühlen, nur dann zurückerhalten, wenn wir Dick heraufbeschwören.

C: Er ist unser imaginärer Freund.

S: Brauchen wir so was? Alles ist so durcheinander. Unsere Besessenheit erreicht auf seine Kosten immer wieder ganz neue Höhen, wodurch wir ihn nur noch viel deutlicher sehen können, als er selbst sich jemals sehen würde.

C: Spiel dich nicht so auf! Du redest die ganze Zeit über Dick, als wäre er dein kleiner Bruder. Du glaubst, du hast ihn total durchschaut.

S: Nun, ich habe eine etwas andere Auffassung von ihm als du.

C: Ich habe keine Auffassung, ich bin verliebt in ihn.

S: Das ist so ungerecht. Womit hat er das nur verdient?

C: Glaubst du, wir tun das alles vielleicht nur, weil wir so unsicher und durcheinander sind, so kurz bevor wir Kalifornien verlassen?

S: Nein, Verlassen ist Routine für uns. Aber was wäre geschehen, wenn wir ihn tatsächlich eingebunden hätten und wenn er dabei gewesen wäre?

C: Ich hätte ihn einmal gefickt und er hätte nie wieder angerufen.

S: Was das alles hier doch erst legitimiert, ist die Tatsache, dass du das eben nicht getan hast. Das Entscheidende ist doch das, was allein deshalb geschehen ist, weil du drüber nachgedacht hast. Weißt du, ich hatte mir Dick zuvor als niederträchtige, manipulative Kreatur vorgestellt. Vielleicht verhält er sich nur deshalb auch weiterhin so still, weil er uns mehr Zeit geben will …

C: Um über ihn hinwegzukommen. Er will, dass wir über ihn hinwegkommen.

S: Chris, was geschieht nur mit uns? Ihm zu schreiben ist das eine, doch inzwischen schreiben wir einander. Hat Dick uns lediglich ermöglichen sollen, endlich wieder miteinander über irgendetwas zu sprechen?

C: Du meinst, dass Dick Gott ist.

S: Nein, vielleicht hat Dick nie existiert.

C: Sylvère, ich glaube, dass wir grade in eine Post-mortem-Elegie übergehen.

S: Nein, wir warten einfach nur auf seinen Anruf.

— 20.45 Uhr —

S: Das ist so unfair. Ich glaube, diese stillen Typen lassen einen doppelt so schwer arbeiten, und dann kann man nicht mehr entkommen, weil man sich seinen eigenen Käfig gebaut hat. Vielleicht ist das der Grund, warum du dich so schlecht fühlst. Es ist, als beobachte er dich, als beobachte er dich dabei, wie du dir das alles hier antust.

C: Kummer und Selbsthass sind die Essenz des Rock ’n’ Roll. Wenn so etwas wie das hier geschieht, dann will man die Musik doch einfach nur richtig weit aufdrehen.

— Zwei Stunden später —

(Dick hat nicht angerufen. Chris schreibt noch einen Brief, und stolz liest sie ihn Sylvère vor.)

C: Crestline, Kalifornien

11. Dezember 1994

Hey Dick,

es ist Sonntagabend, wir sind durch die Hölle gegangen und noch nicht wirklich wieder zurück, doch nun, da du in »das Projekt« halbwegs eingeweiht bist, ist es wohl nur fair, dich auf den aktuellsten Stand zu bringen. Wir sind bereit, alles abzublasen. Wir sind durch ganze Galaxien gereist, seitdem Sylvère gestern Abend mit dir am Telefon darüber sprach, bei dir zuhause ein Video zu drehen … Nun, es ging eigentlich gar nicht um das Video, wir wollten einfach nur irgendeinen Mechanismus finden, um dich in den Prozess einzubinden. Seitdem habe ich eine ganze Reihe anderer Ideen für Kunst-Projekte aufgegriffen/aufgegeben, doch im Grunde sind diese Briefe alles, was wir haben. Sylvère und ich fragen uns, ob wir sie Amy und Ira von High Risk Books geben sollen oder ob wir sie gleich selbst bei Semiotext(e) publizieren. Wir haben in drei Tagen 80 Seiten geschrieben. Aber mir geht es elend, und ich bin durcheinander, und nach deinem Schweigen zu urteilen, bist du nicht wirklich begeistert von all dem hier. Lassen wir es also gut sein.

Bonne nuit

Chris

S: Chris, das kannst du so nicht abschicken. Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn. Du sollst doch intelligent klingen.

C: Okay, ich versuch’s noch mal.

Beweisstück E:

Das intelligente Fax (auf Gravity-&-Grace-Briefpapier verfasst)

Sonntagabend

Lieber Dick,

nun, der »Sturm im Wasserglas« scheint vorübergezogen zu sein, ohne dass du in ihn hineingezogen worden wärst, was vollkommen o. k. für mich ist. Was ist es nur, das wir hier die vergangenen paar Tage veranstaltet haben? Ich hänge in der Luft, seitdem ich emotional aus dem Film ausgestiegen bin, und als dieses Ding – das »Verknalltsein« – entstand, schien es ganz einfach interessant, sich mit der blöden Schwärmerei auf selbstreflexive Weise auseinanderzusetzen zu versuchen. Das Ergebnis: 80 Seiten unlesbare Korrespondenz in ungefähr zwei Tagen.

Doch es war durchaus interessant, in die Psychosen der Adoleszenz zurückzustürzen. So außerordentlich intensiv in unseren eigenen Köpfen zu leben, dass sich alle Grenzen auflösen. Es handelt sich dabei um eine verzerrte Allmächtigkeit, um eine negative psychische Macht, als ob das, was in unseren Köpfen vor sich geht, tatsächlich die gesamte äußere Welt vorantreibe. Irgendwie ein ziemlich nützlicher Ort, um sich darin umherzubewegen, aber vielleicht nicht ganz so interessant für dich.

In Zukunft würde ich gern nicht unbedingt gleich den Raum verlassen müssen, nur weil du dich zufällig auch gerade darin aufhältst, weshalb es mir das Beste schien, nichts unausgesprochen zu lassen.

Lass mich bitte unbedingt wissen, ob du die Briefe (oder womöglich nur Auszüge) lesen möchtest. Trotz allen Nebels betreffen einige von ihnen doch immerhin auch dich.

Alles Gute

Chris

Um Mitternacht senden sie das Fax. Sie gehen zu Bett, doch Chris kann nicht schlafen, weil es ihr vorkommt, als habe sie sich kompromittiert. Gegen zwei Uhr schleicht sie in ihr Büro und kritzelt Das Geheime Fax.

Beweisstück F:

Das Geheime Fax

Lieber Dick, die fixe Idee hinter dem Sturm war, dass ich dich Mittwochabend gerne sehen würde, wenn Sylvère auf dem Weg nach Paris ist. Ich würde das noch immer gern tun. Wenn du mir also am Mittwochmorgen nach 7 Uhr Ja oder Nein faxt, bekomme ich deine Nachricht privat.

Chris

Sie hämmert Dicks Faxnummer in die Maschine, dann schwebt ihr Zeigefinger über senden. Doch irgendetwas hält sie zurück, und sie geht wieder ins Bett.

12. Dezember 1994

An diesem Morgen, während sie noch im Bett liegen und Kaffee trinken, sagt Chris nichts von dem Geheimen Fax. Stattdessen grübelt sie darüber nach, warum Dicks Fax- und Telefonnummern unterschiedliche Vorwahlen haben. Ein Hauch von Zweifel entwickelt sich zu einer Gewitterwolke. Als sie die Nummern in Sylvères Notizbuch nachsieht, ruft sie: »Oh mein Gott! Wir haben das Fax an Dicks Kunsthochschule geschickt!« (Seltsamerweise hat die Kunsthochschule, an der Dick unterrichtet, nur eine einzige Faxmaschine. Sie befindet sich im Büro des Präsidenten. Der Präsident war ein sehr netter Mensch, ein liberaler jüdischer Gelehrter, der mit einer guten Bekannten von Chris aus New York verheiratet war. Vor zwei Wochen erst hatten die vier einen herzlichen und lebhaften Abend bei dem Präsidenten daheim verbracht …)

Das alles ist nun so umfassend blamabel, dass sie keine andere Wahl mehr haben, als Dick anzurufen und ihn zu warnen, dass das Fax kommt. Wundersamerweise erreicht Sylvère Dick gleich beim ersten Anruf. Diesmal nimmt er das Gespräch jedoch nicht auf. Chris versteckt ihren Kopf unter den Kissen. Sylvère kommt zurück, triumphierend. Dick war schroff gewesen, verärgert, berichtet Sylvère, doch immerhin haben sie größeres Unglück abgewendet. Für Chris ist er ein Held. Sie bewundert Sylvères Tapferkeit so sehr, dass sie ihm spontan Das Geheime Fax gesteht.

Und jetzt kann Sylvère nicht mehr leugnen, wie wirklich das alles ist. Das hier ist nicht mehr nur ein weiteres ihrer allmorgendlichen Kaffee-Spielchen, die sie erfunden haben. Seine Frau liebt einen anderen Mann. Aufgebracht und verraten schreibt er eine Erzählung.

Crestline, Kalifornien

Montag, 12. Dezember 1994

Lieber Dick,

ich schreibe, wir schreiben dir diesen Brief, den wir niemals abschicken werden. Endlich haben wir herausgefunden, wo das Problem liegt: Du glaubst, wir sind Dilettanten. Warum ist uns das nicht früher aufgefallen? Ich meine, Dick, du bist ein einfacher Typ. Du hast keine Zeit für Leute wie uns. Du bist wie all meine anderen Exfreunde – Typen, die mich sechs Monate oder ein Jahr lang regelmäßig bumsen, bevor sie mir voller Stolz eingestehen: »Ich habe jemanden kennengelernt. Ich mag sie wirklich sehr. Karen-Sharon-Heather-Barbara ist nicht wie du. Sie ist ein wirklich netter Mensch.« Nun. Sind wir in deinen Augen etwa keine netten Menschen?

Geht es hier etwa um Klassenfragen? Wir haben denselben Hintergrund wie du, doch du hältst uns für dekadente Menschen von Welt. Du denkst, wir seien irgendwie … unaufrichtig.

Was jetzt? Hätten wir gar nicht erst versuchen sollen, dir näherzukommen? All dies spielt sich derzeit im Hintergrund unserer Leben ab:

Wir verlassen Kalifornien, ziehen zum ungefähr hundertsten Mal in den letzten beiden Jahren um. Unruhe ist zur Routine geworden.

Chris hat heute einen Brief aus Berlin bekommen: Ihr Film wird nicht auf dem Festival zu sehen sein.

Von ihrem Postproduktionskoordinator hat Chris aus Neuseeland mehrere Faxe voller schlechter Nachrichten, versteckter Unkosten, Verzögerungen erhalten.

Diese Entwicklungen haben uns eine Weile lang aus der Dick-Spur geworfen, und wir waren äußerst erleichtert, als wir in einem Haus, dessen gesamter Inhalt endlich verstaut worden war, in sie zurückfinden konnten.

Dann erhielt Sylvère einen Anruf von Margit Rowell, die beim MOMA als Kuratorin für Grafik arbeitet. Ob er nicht einen Katalog über Antonin Artaud herausgeben wolle? Es handele sich um eine wichtige Ausstellung. Die Kluft zwischen uns wird größer. Dann tauchten die Putzfrauen auf, gefolgt vom Teppich-Shampoo-Mann. Chris lief zwischen allen hin und her, wie im Fieber wartend auf deine Reaktion auf ihr Fax.

Dick, warum langweilt uns unser Leben so sehr? Gestern haben wir beschlossen, dass wir dieses Haus im nächsten Jahr nicht wieder nehmen werden. Vielleicht mieten wir eines am anderen Ende der Stadt?

Ziehst du diese Art von Energie an? Sind wir wie der berühmte Einbrecher, der in Häuser einsteigt, um kleine Glücksbringer zu stehlen – eine Packung Kondome, ein Käsemesser?

Wir können uns einfach nicht dazu aufraffen, diesen Brief zu beenden.

Unterzeichnet:

Chris & Sylvère

22.55 Uhr

Wir denken darüber nach, Dick noch einmal anzurufen, um ihm zu sagen, dass das Video eine unausgegorene Idee war. So funktioniert das Delirium: Wir lachen und sind ganz aufgeregt, und in diesem Moment kommt es uns völlig richtig vor, ihn anzurufen. Immerhin hat Dick die vergangenen beiden Stunden »mit« uns verbracht. Wir haben völlig vergessen, dass Dick nie wieder etwas von uns hören will. Jetzt anzurufen, wäre der letzte Strohhalm.

All dies hier aufzuschreiben war in etwa so, als bewegten wir uns durch ein Kaleidoskop unserer sämtlichen Lieblingsbücher der Literaturgeschichte. In Swanns Welt und William Congreve, Henry James, Gustave Flaubert. Verlieren Emotionen durch Analogien an Aufrichtigkeit?

Die Zeit heilt alle Wunden.

Dick, du bist so intelligent, doch wir leben in unterschiedlichen Kulturen. Sylvère und ich sind wie die Hofdamen der Heian-Zeit im Japan des sechsten Jahrhunderts. Die Liebe verlangt von uns, dass wir uns auf elegante und uneindeutige Weise ausdrücken. Doch inzwischen warst du schon längst zurück im Sattel.

Billets-doux, Billets-Dick: Eine Kulturgeschichte.

Wir haben dich auf die Probe gestellt. Wir haben sie nicht bestanden.

13. Dezember 1994

Am Dienstag dämmert die Enttäuschung. Sylvère und Chris verbringen den Tag damit, ihre Sachen in Lagerbox #26 von Dart Canyon Storage zu bringen. Für 25 Dollar im Monat können sie es nun noch weiter hinauszögern, ihren kaputten Korbsessel, ihr durchhängendes Doppelbett und die Couch aus dem Secondhandladen für immer zu entsorgen. Chris schleppt die Möbel allein vom Truck nach oben in den zweiten Stock, während Sylvère Anweisungen bellt. Mit seiner Plastikhüfte kann er nichts heben, was schwerer ist als ein Petit Larousse, doch er hält sich für einen fachkundigen Möbelpacker und für einen Experten in Umzugsdingen. Mit der dritten Fahrt wird endgültig klar, dass nicht alles in Box #26 passen wird, ein Gehäuse von 1,20 m mal 2,40 m. Für 15 Dollar mehr hätten sie Box #14 haben können, ausreichende 3,60 m mal 3,60 m groß, doch Sylvère will nichts hören von diesen unnötigen Ausgaben. »Ich bin äußerst organisiert!«, heult er (genauso wie ein Überlebender der Konzentrationslager damit angab, ein geschmuggeltes Ei oder eingeschleuste Kartoffeln »organisieren« zu können). Immer wieder fällt ihm eine andere Möglichkeit ein, wie die Bodenlampen, Matratzen, 150 Kilo Bücher gestapelt werden sollten, und Chris schreit ihn an (»Du geiziger Jude!«), während sie den ganzen Dreck aus Box #26 heraus- und in den Flur und wieder zurückschleppt und unter dem Gewicht dieser ganzen Scheiße fast zusammenbricht. Ihr Schreien macht ihn nur noch entschlossener. Doch endlich passt dann doch alles, als sie gemeinsam beschließen, den vergoldeten Käfig wegzuwerfen, den sie in Colton beim Liquidationsverkauf von Pets’R’Us für 30 Dollar erstanden hatten, ein Schnäppchen. Der Vogel war schon lange weggeflogen. Am Ende ihres billigen Spontanurlaubs in Baja letzten September, auf dem Weg zurück durch Ensenada, hatten sie einen kleinen grünen Papagei am Straßenrand gekauft, den sie beim Überqueren der Grenze unterm Autositz versteckten. Loulou – sie hatten ihn nach Félicités Haustier in Flauberts Ein schlichtes Herz benannt – war Sylvères erstes Vogel-Korrelat gewesen. Er fütterte ihn mit Salatblättern und Samen, vertraute sich ihm an, versuchte gar ihm Worte beizubringen. Doch eines sonnigen Herbsttags ließ er die Käfigtür auf der Terrasse offen, sodass Loulou einen besseren Blick auf die mit frischem Schnee überzogenen Spitzen jenseits des Lake Gregory hatte. Während er zusah, zunächst erstaunt und dann sehr schnell zu Tode betrübt, flog Loulou aus dem Vogelkäfig zum Geländer, dann zu der riesigen Pinie und schließlich aus dem Blickfeld. Sie hatten jedes einzelne erhältliche Vogel-Accessoire gekauft, aber versäumt, Loulou die Flügel stutzen zu lassen. »Er hat sich für die Freiheit entschieden«, wiederholte Sylvère traurig.

Weil für die meiste »seriöse« Literatur nach wie vor entscheidend ist, dass sie einen möglichst vollkommenen Ausdruck der Subjektivität einer einzigen bestimmten Person entfaltet, gilt es als unfein und amateurhaft, die Nebendarsteller nicht zu »fiktionalisieren«, also ihre Namen und die weniger bedeutenden Charakteristika ihrer Identitäten nicht zu verändern. Der »seriöse« hetero-männliche Roman unserer Zeit ist ein nur oberflächlich verschleiertes »Meine Geschichte« und ganz genauso unersättlich verzehrend wie das Patriarchat insgesamt. Während der Held/Anti-Held ausdrücklich der Autor ist, werden alle anderen auf »Figuren« reduziert. Beispiel: Die Künstlerin Sophie Calle tritt in Paul Austers Buch Leviathan in der Rolle der Freundin des Autors auf. Maria »war nicht gerade eine Schönheit, doch aus ihren grauen Augen strahlte eine Intensität, die mich anzog, und mir gefiel auch die Art, wie sie sich in ihren Kleidern bewegte«. Marias Werk ist identisch mit Calles berühmtesten Arbeiten, dem Adressbuch, ihren Hotelfotos usw. Doch in Leviathan ist sie ein elfenhaftes Geschöpf, das von sämtlichen Komplikationen, wie beispielsweise Ambitionen oder Karriereplänen, befreit worden ist.

Wenn Frauen versuchen, diesen falschen Dünkel aufzuspießen, indem sie Namen nennen, und zwar ganz einfach deshalb, weil sich unsere vielen »Ichs« unablässig verändern, wann immer wir anderen »Ichs« begegnen, dann werden wir als Schlampen bezeichnet, als Verleumderinnen, Pornografinnen und Amateurinnen. »Warum bist du so wütend?«, sagte er zu mir.

An jenem Abend befinden sich keine Nachrichten auf dem Anrufbeantworter. Das Haus ist leer, sauber. Nach dem Abendessen sitzen Sylvère und Chris gemeinsam auf dem Boden und schalten den Laptop an.

Mittwoch, 14. Dezember 1994

Sylvère wirkte traurig und müde, als Chris ihn mit seinem Mantel und seinen Koffern am Flughafen von Palm Springs absetzte. Er würde nach LAX fliegen, dann JFK, dann Paris, während Chris das Haus in Crestline fertig zusammenpackte. Chris hielt an und kaufte eine The Best of the Ramones-CD. Als sie zur Mittagsessenszeit zurück nach Hause kam, fand sie zwar keine Nachrichten von Dick vor, doch Sylvère hatte zwischen zwei Flugzeugen eine Nachricht hinterlassen. »Hi Süße, ich wollte nur anrufen, um mich noch einmal zu verabschieden. Wir hatten eine wunderbare Zeit zusammen, es wird alles einfach immer noch besser und besser.«

Seine Nachricht berührte sie. Doch später am selben Tag, als sie mit den Nachbarkindern sprach, erfuhr sie schockiert, dass Lori und ihre Familie überzeugt gewesen waren, dass Sylvère ihr Vater sei. War es denn selbst für die flüchtigsten Betrachter so offensichtlich, dass sie nicht mehr miteinander schliefen? Oder bedeutete das einfach nur, dass Lori, eine selbstbewusste, äußerst bestimmt auftretende schwarze Frau aus L. A., sich nicht einmal im Traum vorstellen konnte, dass jemand in ihrem und Chris’ Alter mit einem derart alten Wrack liiert sein könne? Loris jüngerer Freund war gutaussehend, still, bösartig. Er war eine Art Ghetto-Dick.

»Lieber Dick«, tippte Chris in ihren Toshiba-Laptop. »Heute Morgen ging die Sonne über den Bergen auf, als ich Sylvère zum Flughafen fuhr. Ein weiterer glorreicher Tag in Kalifornien, und ich dachte daran, wie anders als in New York hier doch alles ist. Ein Land der einzigartigen Möglichkeiten, der Freiheit und Muße, um … ja, was genau eigentlich zu tun? Massenmörder zu werden oder Buddhist, ein wenig zu swingen oder dir Briefe zu schreiben?«

15. Dezember 1994