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DON JUAN ARCHIV WIEN

OTTOMANIA

7

Reihe herausgegeben von

HANS ERNST WEIDINGER · MICHAEL HÜTTLER

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WALTER PUCHNER

AUSGEWÄHLTE STUDIEN
ZUR THEATERWISSENSCHAFT
GRIECHENLANDS UND
SÜDOSTEUROPAS

Digitalisierung der Texte: Jennifer Plank

Redaktion: Inge Praxl, Ana Mitić, Sigrun Müller

Layout und Cover: Nikola Stevanović

Hergestellt in der EU

Coverabbildung:
Straßenmusikanten in einer Szene eines Stückes des griechischen Komödiendichters Menander.

Mosaik des Dioskurides von Samos, Villa di Cicero, ca. 100 v. u. Z.

Archäologisches Nationalmuseum Neapel

Publiziert mit freundlicher Unterstützung des

DON JUAN ARCHIV WIEN

FORSCHUNGSVEREIN FÜR THEATER- UND KULTURGESCHICHTE

Walter Puchner:
Ausgewählte Studien zur Theaterwissenschaft Griechenlands und Südosteuropas
hg. von Michael Hüttler
Wien: HOLLITZER Verlag, 2018 (= Ottomania 7)

© HOLLITZER Verlag, Wien 2018

HOLLITZER Verlag

der HOLLITZER Baustoffwerke Graz GmbH, Wien

www.hollitzer.at

Alle Rechte vorbehalten.

Die Abbildungsrechte sind nach bestem Wissen und Gewissen geprüft worden.

Im Falle noch offener, berechtigter Ansprüche wird um Mitteilung des Rechteinhabers ersucht.

ISBN pdf: 978-3-99012-221-1

ISBN epub: 978-3-99012-222-8

VORWORT

Die Herausgabe von Studienbänden aus einem reichen Forscherleben ist an sich nichts Ungewöhnliches. Dies geschieht, je nach dem Selektionsprinzip, gewöhnlich unter dem Titel Gesammelte Studien, Ausgewählte Studien, Kleine Schriften usw. Der Vorteil dieser traditionellen Editionsusance besteht in der Erleichterung des Zugriffs und der besseren Zugänglichmachung von z. T. entlegen erschienenen Publikationen (Kongreßakten, Jahrbüchern, Festschriften, Fachzeitschriften, Fakultätsveröffentlichungen, Einleitungen in Monographien, Handbuchartikeln usw.) in verschiedenen Haupt- und Kleinsprachen (im zweiten Fall ist der internationale Rezeptionsradius von vornherein drastisch beschränkt) und der Möglichkeit, sich in Buchform ein Bild über die Gesamtproduktion einer Forscherpersönlichkeit machen zu können, was sonst nur in mühsamer Kleinarbeit und unter zeitraubenden bibliographischen Recherchen möglich ist; darüber hinaus ist auch der Werdegang des geistigen Profils bequem nachzuverfolgen sowie das Wachsen der Interessenshorizonte, was seine Berechtigung darin findet, daß vielfach schon in den Anfängen ein Großteil der weiteren Entwicklungen in Thematiken und Methoden angelegt und erkennbar ist.1

Insofern ist eine für das Gesamtwerk repräsentative Selektion von unselbständig veröffentlichten Studien ein unverzichtbares Hilfsmittel einer störungsfreien und hindernisarmen Rezeption, da bei Zeitschriftenaufsätzen und ähnlichem der Orientierungswert der Buchbesprechungen und Rezensionen wegfällt; daß solche Sammelbände eines Autors meist ein Opus erst der Altersphase darstellen, wenn sich genügend Studien angesammelt haben und die Anerkennung der Fachwelt und das Verlagsinteresse sichergestellt sind, liegt mehr oder weniger in der Natur der Sache. Und je nach Publikationsintensität, Selektionsprinzipien bzw. schon bestehenden Zusammenfassungen fallen diese Auswahlbände umfangreicher oder auch schlanker aus. Da es sich um bereits historische Texte handelt, kommen sie meist in ungekürzter und unveränderter Weise zum Abdruck, als Dokumente der Wissenschaftsgeschichte, die eine Umarbeitung in Richtung Aktualisierung des Wissensstandes und der Bibliographie nicht mehr erlauben.

Vorliegender Band ist der Theaterwissenschaft Griechenlands und Südosteuropas gewidmet und umfaßt 40 Studien aus einer fast vierzigjährigen Publikationstätigkeit (1975–2013), die sich in den vier europäischen Hauptsprachen (die griechisch verfaßten Studien sind durchwegs ins Deutsche übersetzt) mit Themenbereichen der historischen, komparativen und theoretischen Theatrologie befassen und den balkan-mediterranen Bereich betreffen, mit Schwerpunkt auf den hellenophonen Kommunikationsräumen Südosteuropas seit dem Altertum bis in die Neuzeit und die Gegenwart. An der grundsätzlichen Internationalität der europäischen Theaterwissenschaft wurde festgehalten und dem Englischen kein gesonderter Status zugewiesen, wie dies heute in den westlichen euro-amerikanischen theatre studies und performance studies üblich ist. Es wurden auch keine Studien aufgenommen, die bereits in den rezenten Sammelbänden Beiträge zur Theaterwissenschaft Südosteuropas und des mediterranen Raums, 1. und 2. Band, Wien / Köln / Weimar, Böhlau-Verlag 2006/07 (zusammen 800 Seiten)2, Studien zur Volkskunde Südosteuropas und des mediterranen Raums, Wien / Köln / Weimar, Böhlau-Verlag 2009 (754 Seiten)3 und Von Herodas zu Elytis. Studien zur griechischen Literaturtradition seit der Spätantike, Wien / Köln / Weimar, Böhlau-Verlag 2011 (522 Seiten)4 zum Abdruck gekommen sind.

Dieser Studienband ist neben der allgemeinen und südosteuropäischen Theaterwissenschaft und Dramenkunde auch für die vergleichende Balkanologie interessant, für die Orientalistik und Mediterranstudien, Literatur- und Theatergeschichte, Komparatistik, Altphilologie, Byzantinistik und Neogräzistik sowie Sprachdisziplinen und Spezialphilologien wie Südslawistik, Balkanromanistik, Turkologie, Ungaristik und Albanistik, die Ethnologia europaea und die Balkanvolkskunde, die vergleichende Kulturwissenschaft und Kulturgeschichte, aber auch theoretische interdisziplinäre Fachbereiche wie die Semiotik und Phänomenologie, Theateranthropologie und performance studies. Aufgrund der thematischen Disparität und Spezialisierung der Einzelthemen wurde von einer chronologischen Reihung nach Maßgabe der Erstveröffentlichungen Abstand genommen; statt dessen werden die Einzelkapitel unter Anführung ihres Ersterscheinungsdatums nach thematischen Einheiten gruppiert: I) Allgemein, II) Komparative Thematiken, III) Antike und Byzanz, IV) Südosteuropa in der Neuzeit, V) Volksschauspiel und Volkstheater, VI) Kretisches, heptanesisches und ägäisches Theater der Renaissance und Barockzeit, VII) Aufklärung und bürgerliches Zeitalter, VIII) Moderne und Avantgarde, IX) Vom Nachkriegsdrama ins 21. Jahrhundert, X) Theoretische Ansätze.

Die erste thematische Einheit, “Allgemein”, umfaßt vier Studien: Kap. 1 “Klassisches Theater” (1999) aus einem Handbuch zur europäischen Kulturgeschichte, herausgegeben vom Museum für Völkerkunde in Hamburg, Kap. 2 “The Historiography of Theatre after Evolutionism and Formalism. The Greek Case” (2010), ein methodologischer Überblick zur Theatergeschichtsschreibung kurz vor und nach dem Millenium, Kongreßreferat beim 1. Internationalen Theaterwissenschaftlichen Kongreß in Athen 2005, Kap. 3 “Spielarten des Komischen im griechischen Theater von 1475 bis 1975” (1984), Beitrag zu einem Festschriftband in Wien, und Kap. 4 “Die Intermedien in der neugriechischen Dramatik. Zur Geschichte der interpolierten Vorstellung” (1997), deutsche Übersetzung einer griechischen Studie in einem Sammelband des Autors 1997.

Die zweite thematische Einheit, “Komparative Thematiken”, besteht aus drei Studien: Kap. 5 “Influssi italiani sul teatro greco” (1998) aus einem Widmungsheft des italienischen Periodikums Sincronie zur neugriechischen Literatur, Kap. 6 “Der Fall Konstantinopels in der europäischen und griechischen Dramatik” (1994), Translation einer griechischen Studie aus einem Sammelband zum Fall Konstantinopels in Geschichte und Literatur, und Kap. 7 “Forms and Functions of the Historical Tragedy and the Patriotic Drama in South Eastern Europe in the Era of National Awakening” (2004), ein Kongreßreferat der vergleichenden Literaturwissenschaft, abgedruckt in der Zeitschrift für Literaturkomparatistik Neohelicon (ed. in Budapest).

Die dritte thematische Einheit, “Antike und Byzanz”, bringt ebenfalls drei Studien: Kap. 8 “Impromptus et mimes écrits dans l’antiquité tardive” (2007), Kongreßreferat in Istanbul, abgedruckt in einem französischen Studienband zur komischen Maske von der Antike bis zum Schattentheater, Kap. 9 “Byzantinischer Mimos, Pantomimos und Mummenschanz im Spiegel griechischer Patristik und ekklesiastischer Synodalverordnungen. Quellenkritische Anmerkungen aus theaterwissenschaftlicher Sicht” (1983), ein Artikel aus Maske und Kothurn, und Kap. 10 “Questioning ‘Byzantine Theatre’” (2006), Einleitung zur Theaterfrage in Byzanz in einem Band zum Theater auf Zypern in der Kreuzfahrerzeit, mit einer neuen kritischen Ausgabe des zypriotischen Passionszyklus (vor 1320).

Die vierte thematische Einheit, “Südosteuropa in der Neuzeit”, umfaßt zwei umfangreichere Studien: Kap. 11 “A Short Outline of Theatre History of the Balkan Peninsula” (2004), ein detaillierter vergleichender Abriß der südosteuropäischen Dramen- und Theatergeschichte, und Kap. 12 “Drei griechische Theaterleute auf dem Balkan im 19. Jahrhundert” (1985), deutsche Übersetzung einer griechischen Studie zu Dramatikern und Theaterorganisatoren hellenischer Abstammung, die in Zagreb, Belgrad und Bukarest an der Errichtung der dortigen Nationaltheatertraditionen wesentlich beteiligt waren.

Zahlreicher vertreten ist die fünfte thematische Einheit, “Volksschauspiel und Volkstheater”, mit sechs Studien: Kap. 13 “Volksschauspiel” (2011), Handbuchartikel aus der Enzyklopädie des Märchens, Kap. 14 “Fasulis. Griechisches Puppentheater italienischen Ursprungs aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts” (1978), kurze eigenständige Publikation aus der Reihe Puppenspielkundliche Quellen und Forschungen des Deutschen Instituts für Puppenspiel in Bochum, Kap. 15 “Le théâtre d’ombres grec et son auditoire traditionnel” (1995) aus den sozialanthropologischen Cahiers de Littérature Orale in Paris, Kap. 16 “The Magic of Shadows. Small Guide to Karaghiozis” (2004), Studienartikel aus einem Ausstellungskatalog zum griechischen Schattentheater des Hellenic Literary and Historical Archive, Kap. 17 “Kretische Renaissance- und Barockdramatik in Volksaufführungen auf den Sieben Inseln” (1976) aus der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde über das “Homilen”-Volkstheater auf Zante, und Kap. 18 “Karnevalsprozess und Theatertod des Sabbatai Zwi im apokalyptischen Jahr 1666 auf der Insel Zante” (2006) aus der gleichen Zeitschrift.

Ebenfalls stark vertreten ist auch die sechste thematische Einheit, “Kretisches, heptanesisches und ägäisches Theater der Renaissance und Barockzeit”, mit sechs Studien: Kap. 19 “‘Kretisches Theater’ zwischen Renaissance und Barock (zirka 1590–1669). Forschungsbericht und Forschungsfragen” (1980) aus Maske und Kothurn stellt zum ersten Mal einem zentraleuropäischen Leserpublikum ein Kernkapitel der neugriechischen Theater- und Literaturgeschichte vor, Kap. 20 “Early Modern Greek Drama: From Page to Stage” (2007) im Journal of Modern Greek Studies bringt zum erstenmal einen Dramenvergleich zwischen kretischem, heptanesischem (der Ionischen Inseln) und ägäischem Theater vor 1750, Kap. 21 “Zur Gattungsterminologie der griechischen Dramatik vor 1800” (2000), aus einem Gedenkband an Nikolaos M. Panagiotakis, geht auf die Terminologie der Dramenwerke des frühneugriechischen Theaters ein; Kap. 22 “Ein kykladisches Herodesspiel in Prosagriechisch zur Zeit der Türkenherrschaft im Archipelagus” (2002) aus der Österreichischen Zeitschrift für Volkskunde stellt ein Weihnachtsspiel aus dem religiösen Theater im Ägäis-Raum vor, Kap. 23 “Jesuit Theatre on the Islands of the Aegean Sea” (2003) aus dem Journal of Modern Greek Studies gibt einen Überblick über das Jesuitentheater im Archipelagus, und Kap. 24 “Paralipomeni allo Zenone” (2005) entstand aus einem Kongreßreferat über das historische Jesuitenspiel vom byzantinischen Kaiser Zenon, das 1683 auf Zante aufgeführt worden ist.

Die siebente thematische Einheit, “Aufklärung und bürgerliches Zeitalter”, umfaßt ebenfalls sechs Arbeiten: Kap. 25 “Hof-, Schul- und Nationaltheater der griechischen Aufklärung im Europäischen Südosten” (1975) aus Maske und Kothurn gibt einen detaillierten Überblick über das griechische Theater des 18. und frühen 19. Jahrhunderts in Bukarest, Jassy und Odessa, Kap. 26 “Rigas Fereos e il teatro a Vienna nel XVIII secolo” (1998) aus der Rivista di Studi Bizantini e Neoellenici platziert die Aufklärerfigur Rhigas Velestinlis in das Wiener Theaterleben des 18. Jahrhunderts, während hingegen Kap. 27 nach Venedig führt: “Antonios Symeon Zographos: ein griechischer Librettist und Komödienautor in Venedig zur Zeit der caduta di Serenissima und der französisch-österreichischen Besetzung (1783–1819)” (1999), ein übersetzter griechischer Beitrag aus Thesaurismata, der wissenschaftlichen Zeitschrift des Hellenischen Instituts für Byzantinische und Postbyzantinische Studien in Venedig; Kap. 28 “Traces of the Commedia dell’ arte in Modern Greek Theatre in the 18th & 19th century” (2004) geht auf einen Kongreßaktenband zur commedia dell’arte in Venedig zurück, Kap. 29 “The Reception of Austria in Modern Greek Literature and Theatre” (2007) auf einen Kongreß an der Athener Akademie über die Beziehungen von Österreich und Griechenland, und Kap. 30 “Problems in Editing Greek Dramatic Texts of the Era of Venetian and Osmanic Rule” (2009) auf einen Kongreß in Venedig zu den Griechen unter der venezianischen Herrschaft.

Die achte thematische Einheit, “Moderne und Avantgarde”, besteht aus drei Studien: Kap. 31 “Modernism in Modern Greek Theatre (1895–1922)” (1998), ein Vortrag an der Universität Cambridge, veröffentlicht in Kάμπος. Cambridge Papers in Modern Greek, Kap. 32 “Stilfragen des griechischen Theaters im 20. Jahrhundert” (1988), Übersetzung einer griechischen Studie aus dem Jahr 1988, und Kap. 33 “Die Tragödie ‘Rhodope’ (1913) von Nikolaos Poriotis und das griechische Volkslied” (2011) aus der Zeitschrift für Balkanologie behandelt ein Paradebeispiel aus dem dramatischen Ästhetizismus nach 1900.

Die neunte thematische Einheit, “Vom Nachkriegsdrama ins 21. Jahrhundert”, umfaßt ebenfalls drei Studien: Kap. 34 “Margarita Lymbéraki et Oskar Kokoschka. Affinités remarquables dans le théâtre d’avant-gard du XXe siècle” (2005) aus einem französischen Festschriftband, Kap. 35 “Mephistos weibliche Natur” (2011) Übersetzung eines Kapitels aus einem griechischen Studienband über eine rezente weibliche Rollengestaltung des Mephisto im Faust, und Kap. 36 “Le tournant vers l’intérieur. La dramaturgie grecque après le retour à la démocratie (1974–1985)” (2011) aus einem Widmungsband über das zeitgenössische griechische Theater im kanadischen L’Annuaire théâtrale.

Die zehnte und letzte thematische Einheit bringt dann “theoretische Ansätze” mit vier Studien: Kap. 37 “Perzeptive Multistabilität und autopoietische feed-back Schleife. Kritische Randnotizen zu Erika Fischer-Lichtes Ästhetik des Performativen” (2013) aus der Parabasis, Zeitschrift der Abteilung für Theaterstudien der Universität Athen, Kap. 38 “Theatrologia quo vadis?” (2010), Grundsatzreferat beim Ersten Internationalen Theaterwissenschaftlichen Kongreß in Athen 2005, Kap. 39, “Jiři Veltruský, An Approach to the Semiotics of Theatre, Brno 2012” (2012), eine ausführliche Buchbesprechung in der Theatralia der Universität in Brünn, und Kap. 40, “Theater jenseits der Zeichen” (2010), aus dem Griechischen übersetztes Kongreßreferat und Unterkapitel aus einem Buch zur Theatertheorie über die Schwachstellen der semiotischen Methode in der Analyse rezenter Theateraufführungen.

Die Einzelkapitel sind redaktionell nur leicht bearbeitet; da die Studien im Deutschen durchwegs die alte Rechtschreibung verwenden, wurde diese auch in den neuen Übersetzungen aus dem Griechischen bevorzugt, um eine gewisse orthographische Einheitlichkeit zu gewährleisten. Das Griechische wurde, unabhängig von der Praxis der einzelnen Periodika, in dem seit etwa vierzig Jahren gültigen monotonischen System wiedergegeben (ohne gravis, Zirkumflex und Hauchlaute), um Fehlerquellen beim Computerscanning und der anschließenden Textkonvertierung zu minimieren, und um eine für den heutigen Leser verwirrende orthographische Vielfalt zu vermeiden. Die Zitierweisen der einzelnen Zeitschriftenbeiträge allerdings sind beibehalten, bibliographische und andere Nachträge wurden vermieden, so daß der historische Charakter der Einzelstudien gewahrt bleibt. Illustrationen, die in keinem unmittelbaren Bezug zum Text stehen, wurden eliminiert. Aus dem zeitlichen Abstand von Jahrzehnten ist eine tiefergehende Überarbeitung, vor allem wegen der dynamischen Forschungsentwicklung in manchen Bereichen wie der neugriechischen Theatergeschichte, gar nicht vertretbar und auch nicht zielführend. Somit stellen manche Studien vorläufige Etappen eines sukzessiven Forschungsgangs dar, der in der Folge zu weitreichenderen Einsichten gekommen ist, die jedoch bereits der rezenten Bibliographie zu entnehmen sind.5 Andererseits gibt es auch Spezialstudien, die trotz einer größeren zeitlichen Distanz nichts von ihrer Informationsfrische und Originalität eingebüßt haben.

Es ist an dieser Stelle gar nicht möglich, all den Personen und Institutionen für Anregungen, Gespräche und Diskussionen, Informationen und Hilfe zu danken, die zu diesen Studien geführt haben. Als Emeritus beschränke ich mich daher auf mehrere Tausende von Studenten, die die Anfänge der Theaterwissenschaft in Griechenland miterlebt haben (an der Universität Kreta 1978–1989 und der Universität Athen 1989–2014), sowie den beschränkteren Auditoria am Institut für Theaterwissenschaft der Universität Wien (1977–2006), bei den Volkskundlern in Graz und Wien, den Byzantinisten und Neogräzisten in Wien usw., um sozusagen im Lande zu bleiben. Ihre Neugierde, ihre Begeisterung, ihre Fragen und Aporien bildeten zu jeder Zeit eine stimulierende Anregung und ein Spannungsfeld geistiger Regheit und innovativen Denkens. Unter den damaligen Hörern der Theaterwissenschaft war auch der jetzige Leiter des Hollitzer Verlages, Dr. Michael Hüttler; seiner Initiative ist es zu danken, daß diese Studien in einem stattlichen Sammelband nun zum Wiederabdruck gelangt sind; ihm und dem Gründer des Don Juan Archivs, Dr. Hans-Ernst Weidinger, gebührt herzlicher Dank für die freundliche Mühewaltung und das schöne Ergebnis, das sich in jeder Hinsicht sehen lassen kann.

Walter Puchner

Athen, Sommer 2018

ANMERKUNGEN

Ein aktuelles Schriftenverzeichnis der Publikationen des Autors findet sich im Anhang (in dieser Zusammenstellung sind die über 1000 Rezensionen und Buchbesprechungen nicht berücksichtigt).

Dies betrifft folgende Kapitel, Band I: 1. Typologische Entwicklungsstrukturen der Theatergeschichte im südosteuropäischen Raum, 2. Vergleichende Beiträge zum traditionellen Volkspuppenspiel auf der Balkanhalbinsel, 3. Schwarzauge Karagöz und seine Geschichte auf der Balkanhalbinsel zur Zeit der Türkenherrschaft, 4. Die repraesentatio figurata der Präsentation der Jungfrau Maria im Tempel von Philippe de Mézières (Avignon 1372) und ihre angebliche zypriotische Herkunft, 5. Skenderbey in der europäischen und balkanischen Dramatik, 6. “Abgestiegen zur Hölle”. Der descensus ad inferos als Keimzelle eines inexistenten orthodoxen Auferstehungs-Spiels, 7. Rezeptionsstrukturen frühneugriechischer Dramatik, 8. Barockes Ordenstheater bei Fronleichnamsprozessionen auf den Kykladen im 17. Jahrhundert, 9. Barocke Ordensfestivitäten auf Ägäisinseln zur Zeit der Türkenherrschaft (Kapuziner, Chios 1673), 10. Wiener Griechen-Drucke von Gluck bis Kotzebue. Das Theaterleben der Donau-Metropole in griechischen Übersetzungen 1780–1820, 11. Literatur- und Theaterwesen Griechenlands von 1827 bis 1888, 12. Konstantinos Christomanos und das Theater des fin de siècle in Österreich und Griechenland; Band II: 1. Locus amoenus turbatus. Rezeption und Parodie italienischer Schäferdramatik in Südosteuropa, 2. Zum Barockbegriff in der südosteuropäischen Dramatik, 3. Ordensspiele und Jesuitentheater zwischen Doppeladler und Halbmond, 4. Griechische (und französische) Theateraufführungen an der Hohen Pforte (1600– 1900). Ergänzungen zur türkischen Theatergeschichte, 5. Improvisierte Gerichtsspiele und karnevaleske Schauprozesse in der Volkskultur des Zentralbalkans und des hellenophonen Mittelmeerraums, 6. Satirische Dialoge in dramatischer Form aus dem Phanar und den transdanubischen Fürstentümern 1690–1820. Eine sekundäre Textgruppe des vorrevolutionären griechischen Theaters, 7. Die griechische Revolution von 1821 auf dem europäischen Theater. Ein Kapitel bürgerlicher Trivialdramatik und romantisch-exotischer Melodramatik im europäischen Vormärz, 8. Zum Schicksal der antiken Theaterterminologie in der griechischen Schrifttradition, 9. Theaterwissenschaftliche Untersuchungen zu den Dramentexten des kretischen und heptanesischen Theaters (1590–1750). Methodenbeispiele dramaturgischer Analytik (1. Sprachformeln und Informationsvergabe beim Konfigurationswechsel, 2. Lauschszenen und simultane Bühnenpräsenz, 3. Monolog und Dialog im Spiegel quantitativer Methoden, 4. Dramaturgie der Reimformen, 5. Zum Quellenwert direkter und impliziter Bühnenanweisungen, 6. Bühnenraumfragen), 10. Spuren der Commedia dell’arte im griechischen Theater des 18. und 19. Jahrhunderts, 11. Zur Rezeption Goldonis in Griechenland, 12. Europäische Einflüsse auf die griechische Dramatik des 19. Jahrhunderts. Im südosteuropäischen Kontext, 13. Zur Rezeption “Europas” im griechischen Theater von 1800 bis 1930, 14. Moderne oder Avantgarde? Das griechische Drama zu Beginn des 20. Jahrhunderts, 15. Fotos Politis und die altgriechische Tragödie. Die Inszenierung des “Ödipus rex” in der griechischen Theatergesellschaft 1919.

Die Theaterwissenschaft betreffen direkt oder indirekt folgende Kapitel: 3) Die “Rogatsiengesellschaften”. Theriomorphe Maskierung und adoleszenter Umzugsbrauch in den Kontinentalzonen des Balkanraums, 5) Altthrakische Karnevalsspiele und ihre wissenschaftliche Verwertung. “Dionysos” im Länderdreieck Bulgarien – Griechenland – Türkei, 7) Giostra und barriera. Ostmediterrane Turnierspiele von Venedig bis Zypern in ihrer geschichtlichen und machtpolitischen Funktion, 8) Performative Riten, Volksschauspiel und Volkstheater in Südosteuropa. Vom Dromenon zum Drama, 11) Maskenraum Kleinasien. Von der Relativität ethnischer Grenzen, 17) Die Vergessene Braut. Mediterraner Kulturtransfer zwischen Schriftlichkeit und Oralität, 18) Tragik und Komik in der griechischen Volkskultur. Zu Dramaturgie und Inszenierung des Gefühlslebens.

Für die Theaterwissenschaft sind folgende Kapitel relevant: 1. Die spätantiken Mimiamben des Herodas: mimischer Solovortrag oder theatralische Aufführung?, 2. Christus patiens und antike Tragödie. Vom Verlust des szenischen Verständnisses im byzantinischen Mittelalter, 3. Der Zypriotische Passionszyklus und seine Probleme, 4. Das griechische Volksbuch des Bertoldo (1646): von der Dialoghaftigkeit eines popularen Lesestoffes, 5. Germanograecia zu Beginn des 19. Jahrhunderts: die literarischen Übersetzungen von Konstantinos Kokkinakis und Ioannis Papadopoulos, 6. Frauendramatik zur Zeit der griechischen Revolution, 7. Die patriotische Dramatik im 19. Jahrhundert, 8. Griechische Sprachsatire im bürgerlichen Zeitalter.

Vgl. z. B. die Trilogie von W. Puchner, Die Literaturen Südosteuropas (15. bis frühes 20. Jahrhundert). Ein Vergleich, Wien / Köln / Weimar 2015, Die Folklore Südosteuropas. Ein komparativer Überblick, Wien / Köln / Weimar 2016, Performanz und Imagination in der Oralkultur Südosteuropas, Wien / Köln / Weimar 2017 sowie ders., Greek Theatre between Antiquity and Independence: A History of Reinvention from the Third Century BC to 1830, Cambridge University Press 2017.

I.

ALLGEMEIN

1.
KLASSISCHES THEATER [1999]*

Die breite gemeinsame europäische Basis im Bereich des Theaters und seiner Theorie ist das Verständnis des Bühnengeschehens als Spiegelbild der Welt (Theatergleichnis der Renaissance und des Barock) bzw. der gesellschaftlichen Wirklichkeit (marxistische Theatertheorie). Es ist der Gedanke, daß die Welt nichts anderes ist als Theater, und die Menschen Schauspieler sind in einem Stück, das sie nicht kennen; daß der Vorhang fällt, bevor sie es kennenlernen, wie bei Shakespeare und Calderon deutlich ausgesprochen.

Diese Gedanken gehen auf den Kyniker Epiktet zurück und sind seitdem in Europa allgemeinverbreitetes Gedankengut. Dieser Theaterbegriff Europas ist eng an den jeweiligen Wirklichkeitsbegriff gebunden. In der Zweiteilung des Kosmos in der platonischen und nachplatonischen Philosophie – wie in christlicher Metaphysik in Jenseits und Diesseits – nimmt die Scheinhaftigkeit und » Wahrheit « des Theaters als Paradigma der Weltbefindlichkeit eine spezifische Funktion ein, die es in anderen Kulturen nicht hat. Dabei setzt sich in der Neuzeit eine sukzessive Diesseits-Orientiertheit durch. Die Welt ist so wirklich und scheinhaft wie das Theater. Darin gründet die Eurozentrik des Theaterbegriffes, wie wir ihn heute verwenden. Der Gedanke, daß alle Menschen Schauspieler sind, hat in der Sozialpsychologie des 20. Jahrhunderts gar zu einer Schule der Theater-Soziologie geführt, die gesellschaftliche Vorgänge mit Hilfe theatralischer Terminologie (Schauspieler, Zuschauer, Bühnenbild, Rollenspiel, Kostüm, Szene und Inszenierung) analysiert.

Ein Spezifikum europäischer Kulturdynamik, die auch das Theater betrifft, ist die Gegensätzlichkeit der Kulturepochen, das heißt die Tatsache, daß sich jede einzelne Epoche von der vorangegangenen zu distanzieren sucht, in vielen Punkten genau antithetisch vorgeht und erst aus historischem Abstand eventuell gemeinsame Züge erkennen läßt. Dies ist im Theater nicht anders: Das Regeldrama der Renaissance und die Einortbühne wenden sich gegen das » regellose « Mysterienspiel des Mittelalters mit seiner Mehrortbühne der loci und mansiones; die barocke Bewegungsbühne wendet sich gegen die starre Einortbühne der Renaissance; der überschaubare Bühnenraum der Aufklärung richtet sich seinerseits gegen die barocke Zentralachsenperspektive, deren Fluchtpunkt im Unendlichen liegt – die Reihung ließe sich fortführen. Bei all diesen antithetischen Entwicklungen sind häufig Bühnenraum und Dramenform aufeinander bezogen.

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Gryphius, › Catharina von Georgien ‹, 1. Akt, 2. Szene. Stich von Johann Using nach einer Aufführung von 1655 am Hof Herzog Christians von Wohlau

Manchmal stellt sich der Gegensatz auch erst auf Umwegen ein und geht nicht aus einer direkten theoretisch-programmatischen Konfrontation hervor. Das Barockdrama, das nicht mehr den aristotelischen drei Einheiten in ihrer strengen Auslegung in den Renaissancepoetiken folgt, ist dadurch entstanden, daß die zwischen den Akten gespielten Intermedien, die den Beschränkungen der Regelhaftigkeit des Dramas nicht unterlagen, im Laufe des 16. Jahrhunderts so stark an Umfang und Bedeutung gewannen, daß das Regeldrama verschwand und sich die neue Dramenform auf der barocken Bewegungsbühne mit ihrer Maschinerie (wie den Schiebekulissen) etablieren konnte. Neben dieser antithetischen Epochendynamik tauchte im Laufe der Neuzeit auch eine andere wesentliche Problematik auf, die europaspezifisch zu sein scheint.

DAS PROBLEM DER KLASSIKERAUFFÜHRUNG

Der an sich unhistorische Begriff des » Klassikers « steht im kulturellen Wertekanon unangefochten an der Spitze und reicht über die Zeitgebundenheit der jeweiligen Kunstproduktion hinaus. Er entspringt paradoxerweise aber gerade dem Historismus des 19. Jahrhunderts und versammelte aus allen Epochen » das Beste « in einem ästhetischen Pantheon, das gleichermaßen außerhalb der Geschichte anzusiedeln ist.

Die Klassikerproblematik fußt auf einem anderen, sozusagen europäischen Spezifikum der Kulturdynamik. Jede Epoche interpretiert und bewertet vorangegangene Epochen auf ihre eigene spezifische Weise, so daß mit jedem Epochenwechsel eine Uminterpretierung der gesamten Kulturgeschichte eintritt. Dies ist leicht abzulesen am Beispiel des Antiken-Bildes. Wird sie im Mittelalter noch negativ bewertet, ist sie schon in der Renaissance unübertroffen positives Kulturvorbild, ambivalent und widersprüchlich im Barock, mit Winckelmann (» edle Einfalt, stille Größe «) aufklärerisch-klassizistisch interpretiert im 18. Jahrhundert, chaotisch-bedrohlich im 19. Jahrhundert durch Nietzsche, Burckhardt und Bachofen. Im 20. Jahrhundert ist das Abfolgemodell der Epochen schwieriger anzuwenden, da vieles Antithetische gleichzeitig vor sich geht und einheitliche Epochennenner aufgrund der Vielfalt der Avantgarde-Bewegungen schwer auszumachen sind.

Vor dem Hintergrund dieser Interpretationsdynamik ist auch die Klassikerproblematik im Theater zu sehen, und zwar unter einem zweifachen Aspekt: das Mißverstehen und die Fehlinterpretation klassischer Dramenwerke in vergangenen Epochen, sowie die Zeitgebundenheit der klassischen Werke, die eine Wiederaufführung vor allem im 20. Jahrhundert nur in mehr oder minder bearbeiteter oder aktualisierter Form zuläßt.

Als Beispiel für das Mißverstehen mag die deutsche Shakespeare-Rezeption bis zur Romantik dienen. Im 17. Jahrhundert wurde › Hamlet ‹ von fahrenden Truppen als Schauerdrama vom » Bestraften Brudermord « gespielt, im Zeitalter der sentimentalen Literatur im 18. Jahrhundert › Romeo und Julia ‹ in der Bearbeitung von Felix Weiße mit glücklichem Ausgang (am Wiener Burgtheater noch bis 1772).

Zur Zeitgebundenheit ist die gesamte Antikenrezeption im Theater des 20. Jahrhunderts zu nennen, die aufgrund der unterschiedlichen Produktions- und Rezeptionsverhältnisse – kein dionysischer Rahmen, kein Agon (Wettstreit um den Siegerkranz), unbekannte Musik und Tanz, Übersetzung oder Bearbeitung, meist keine Freilichtaufführung, künstliches Licht, andere Kostüme – zu sehr unterschiedlichen Kompromißlösungen findet. Dabei wird die Hierarchie der theatralischen Ausdrucksmittel oft auf den Kopf gestellt. Statt wie im 5. Jahrhundert akustische Mittel wie Dichterwort, Deklamation, Gesang, Akustik des Raumes an die Spitze zu stellen, setzt man im Zuge der Spektakularisierung des Theaters und der Visualisierung der gesamten Kultur auf optische Mittel. Im Altertum waren diese dagegen eher sekundär oder relativ primitiv, bedingt durch die zufälligen Lichtverhältnisse, den statischen Spielduktus, die Maske und die großen Gebärden aufgrund wechselnder Sichtverhältnisse.

In der Interpretationsweise der Theaterformen vergangener Epochen lassen sich zwei Extremhaltungen ablesen: der Rekonstruktionsversuch und die Parodie. Aus beiden Grundhaltungen konnten völlig neue Formen entstehen:

• Im Rahmen der archäologischen und philologischen Bemühungen der italienischen Renaissance um die Rekonstruktion des antiken Theaters ist gegen Ende des 16. Jahrhunderts die Oper entstanden. Sie war Produkt der (falschen) Hypothese eines Musikerkreises in Florenz, der sich das altgriechische Drama nur in eben dieser Form auf der antiken Bühne aufgeführt denken konnte. Die Geschichte des Opernrepertoires ist nicht zufällig bis ins 18. Jahrhundert hinein völlig an die griechisch-römische Mythologie gebunden.

• Parodien sind vor allem im Volkstheater der Städte geläufig und haben zu völlig neuen Dramenformen geführt. So wurden im Théâtre de la Foire der Pariser Vororte des 18. Jahrhunderts die Lully-Opern parodiert, bis der Bühnendialog verboten wurde. Das führte zu den sogenannten Pièces à la muette. In denen erschien jeder Schauspieler, seinen Part auf ein großes Plakat um den Hals geschrieben, auf der Bühne, und das Publikum sang dessen Part – eine originelle Form der Publikumsaktivierung, die sich noch lange gehalten hat. Gegen Opern richteten sich auch die Antikenparodien des Wiener Volkstheaters vor und nach 1800. Im 19. Jahrhundert ist es dann die germanische Mythologie der Opern von Richard Wagner, an denen sich der Witz und Spott des Kleinbürgertums entzündet.

Die Kriterien für das, was auf dem Theater » klassisch « ist, sind keineswegs einheitlich, weder in ästhetischer noch in historischer Sicht. Ausschlaggebend scheint bloß eine weite Akzeptanz in einer gewissen Epoche zu sein. Auch die Klassikerbewertung in den einzelnen Nationalliteraturen ist im historischen Ablauf nicht unverrückbar und von Nation zu Nation unterschiedlich. Hier zeigt sich im Europa der Neuzeit eine durchaus internationale Dynamik. Die Größe Shakespeares etwa ist erst durch die deutsche Romantik und ihre Vorläufer erkannt worden; Voltaire sieht in ihm noch einen » regellosen « Barbaren. Die ästhetische Vorrangigkeit der altgriechischen vor der römischen Dramatik ist eine Einsicht der Weimarer Klassik, die sich nur zögernd durchgesetzt hat. Die Vorherrschaft der italienischen Oper ist noch bis tief ins 19. Jahrhundert hinein in ganz Europa unumschränkt, mit einer einzigen Ausnahme: Paris, in dem im ganzen 17. Jahrhundert nur vier italienische Opern aufgeführt worden sind.

Der ästhetische Modellcharakter des französischen Regeldramas des Klassizismus (Corneille, Racine, Molière) wird in Frankreich selbst erst im 19. Jahrhundert durch Victor Hugo angezweifelt, während dies in anderen Literaturen schon viel früher geschah (in Deutschland mit Lessings › Hamburgischer Dramaturgie ‹). Die Dynamik der Eigen- und Fremdbilder eigener und fremder Klassiker wird mit dem Einsetzen der Moderne nach 1880 ein Rezeptionsvorgang von schillernder Vielfalt, da sich die Schranken der » Nationalliteraturen « mit einem einheitlichen Wertekanon aufzulösen beginnen und die Klassiker gemeineuropäisch werden; dazu kommt im 19. Jahrhundert noch verstärkt die ästhetische Vorbildwirkung der asiatischen und amerikanischen, nach dem Zweiten Weltkrieg auch die anderer Breiten, wie die der afrikanischen und südamerikanischen Theaterkultur.

Die Interpretations- und Rezeptionsvorgänge werden komplexer und vielschichtiger: Brecht bearbeitet nicht die sophokleische › Antigone ‹, sondern die Übersetzung Hölderlins, die in sich schon eine Art Bearbeitung darstellt; das Ergebnis hat weder mit dem Klassiker Sophokles noch mit dem Klassiker Hölderlin viel zu tun, sondern mit dem Klassiker Brecht. Die fast gleichzeitige Vertonung der Hölderlinschen › Antigone ‹-Fassung durch Carl Orff wurde als Wiedergeburt der griechischen Tragödie gefeiert, was sich freilich aus heutiger Sicht ebenso als zeitgebundener Irrtum erweist.

WER ALSO SIND DIE KLASSIKER?

Als gemeineuropäisches Erbe gilt die altgriechische Dramatik. Auch heute noch ist es Griechenland, in dem dieses Repertoire mit der größten Intensität gepflegt wird, gefolgt interessanterweise von den deutschen Landen. Aischylos, Sophokles, Euripides und Aristophanes (weniger Menander) sind ohne Zweifel die » schwierigsten « Klassiker für das heutige Publikum. Seit Max Reinhardt am Anfang des Jahrhunderts gezeigt hat, daß auch diese Tragödien und Komödien – allerdings in Bearbeitungen – zu Zugstücken und Kassenschlagern werden können, haben sie sich im zeitgenössischen Repertoire eingebürgert und stellen für jeden Regisseur in Form und Inhalt eine Herausforderung dar. Es gibt mittlerweile Regisseure wie Günter Heyme, die sich auf dieses Repertoire spezialisiert haben. Die Grundlinien der Interpretation im 20. Jahrhundert sind Spektakularisierung, Mystifizierung, Verlegung in die Vorgeschichte der Menschheit, Ritualisierung, und auf der anderen Seite radikale Aktualisierung.

Mit Peter Steins › Orestie ‹ setzt 1980 auch ein Zug zur Tiefenanalyse ein. Vielfach sind bedeutende Eingriffe in den Dramentext festzustellen (notwendigerweise etwa bei der » Parabasis « der Aristophanischen Komödien), oder es werden moderne Bearbeitungen erstellt, in denen die Aktualisierungen, Ironisierungen, Umdeutungen im Sinne der Tiefenpsychologie, des Marxismus, der Mutterrechtstheorie Bachofens, wie neuerer Mythenforschung oder Transferierungen in ein zeitgenössisches soziales Ambiente, schon vollzogen sind. Eine Sonderstellung nehmen die Festspiele in antiken Theaterbauten ein, in denen jährlich Teile des gesamten Repertoires zu sehen sind (freilich meist aus hellenistischer oder römischer Zeit). Diese finden in den Mittelmeerländern statt, vorwiegend in Griechenland selbst. Dazu kommen Veranstaltungen wie Tagungen in Delphi, auf denen jährlich bedeutende Teile der gesamten internationalen Produktion zum antiken Drama zu sehen sind.

Die römische Dramatik wird vorwiegend in Italien (Syrakus) aufgeführt, vor allem Komödien von Plautus und Terenz, kaum noch Seneca, dessen Tragödien für die Geschichte der europäischen Dramatik als ästhetisches Vorbild der Tragödie bis zur Barockzeit von größter Wichtigkeit waren. Griechische und römische Bühnenklassiker sind die einzigen, die in Übersetzungen gespielt werden (auch in Griechenland selbst sind altgriechische Aufführungen die Ausnahme). Nach dem Leitsatz » tradutore – traditore « sind Übersetzungen aus alten Sprachen häufig selbst schon Bearbeitungen, besonders bei Dramenwerken, die der Übersetzer sowohl in der Ausgangs- wie in der Zielsprache sozusagen inszeniert.

Die antiken Theaterklassiker waren bis zur Renaissancezeit Lesestoff in den Schulen, ihre Texte Sprach- und Stilübungen; ihr Theatercharakter wurde erst in jener Zeit wiedererkannt. Die Rezeption setzt mit der Eröffnung des Teatro Olimpico in Vicenza 1585 ein, in dem › Oedipus rex ‹ in italienischer Übersetzung gespielt wurde – nach zeitgenössischen Quellen das beste Theaterstück (nach Aristoteles) im schönsten Theatergebäude der damaligen Welt. Von einer eigentlichen Antikenrezeption kann man, außer bei vereinzelten Aufführungen in Lateinschulen, erst im Falle der Weimarer Klassik und der romantischen Aufführung der › Antigone ‹ im Potsdamer Schloßtheater 1840 durch Ludwig Tieck (mit der Musik von Felix Mendelssohn-Bartholdy), vor allem aber dann im 20. Jahrhundert sprechen.

OPERNKLASSIKER

Diese verzögerte Antikenrezeption wird durch die Opernentwicklung gedeckt. Nach der ersten Oper, › Dafne ‹ von Jacopo Peri 1594, und der nachfolgenden Opernentwicklung, der römischen Choroper, der venezianischen und Wiener Oper, der neapolitanischen Phase, den Libretto-Reformen von Apostolo Zeno und Pietro Metastasio und der Musikreform von Christoph Willibald Gluck, bestehen die Inhalte der Opernlibretti für mindestens zwei Jahrhunderte fast ausschließlich aus mythologischen Themen der Antike, die aus den Mythologie-Handbüchern der Zeit geschöpft werden. Insofern bildet auch die frühe Operngeschichte einen Teil der Antikenrezeption. Allein das 18. Jahrhundert hat mehr als ein Dutzend › Antigone ‹-Opern hervorgebracht.

Auf dem Gebiet der Oper ist Italien bis tief ins 19. Jahrhundert hinein führend und schulbildend, auch für Komponisten anderer Nationalität wie Lully oder Mozart. Erst mit Wagner, Gounod und anderen wird mit dieser Ausschließlichkeit gebrochen. Die Opernklassiker bieten auf modernen Bühnen wenig Probleme: Monteverdi wie Verdi finden ihr Publikum – und die Rezeptionsschwierigkeit beim Übergang zu Strawinsky und Alban Berg ist mehr musikalischer denn theatralischer Natur.

BÜHNENKLASSIKER

Von der italienischen Renaissance sind kaum noch Bühnenklassiker geblieben. Zwar wird die › Mandragola ‹ von Kardinal Bibbiena oder eine Tragödie von Torquato Tasso noch hie und da gespielt, doch handelt es sich dabei eher um Repertoire-Raritäten. Ganz anders die Goldoni-Komödien des 18. Jahrhunderts, die europaweite Bühnenpflege noch während des gesamten 19. Jahrhunderts fanden. Anders auch verhält es sich mit den spanischen Klassikern. Zwar sind die Theaterstücke des bekanntesten Autors, Miguel de Cervantes, kaum aufgeführt, doch erfreuen sich Lope de Vega und Calderon de la Barca seit der Romantik stetigen Zuspruchs. Erst Federico García Lorca läuft ihnen im 20. Jahrhundert den Rang ab.

Unterschiedlich ist auch die Rezeption der französischen Klassiker. Die steife Deklamation der Alexandriner von Corneille und Racine in der Comédie Française störte die französischen Theaterleute schon um die Jahrhundertwende, doch Molière-Komödien bilden immer noch einen unverzichtbaren Bestandteil aller Repertoires. Voltaire wird eher gelesen denn gespielt, ebenso Victor Hugo. Die Thesenstücke der beiden Dumas’, die Farcen von Labiche und Sardou konnten sich über die Zwischenkriegszeit hinaus auch in den Provinztheatern nicht halten. Auch die Theateravantgarde mit Zola, Maeterlinck, Rolland, später Gide, Cocteau, Anouilh, Giraudoux überschreiten die Klassikerschwelle nicht eigentlich; eher tun dies noch die Existenz-Dramatiker Sartre und Camus, deren Beliebtheit mit der geistigen Mode des Existentialismus aber wieder abgenommen hat. Zu den Klassikern des 20. Jahrhunderts zählen jedoch in jedem Fall Eugène Ionesco und Samuel Beckett.

Unumstrittener Klassiker aller europäischen Bühnen ist, seit der Romantik, immer noch Shakespeare, der auch rein quantitativ die meisten Aufführungen erfahren dürfte. Es gehört zu den empirischen Erfahrungen des regelmäßigen Theaterbesuchers, daß seine Tragödien und Komödien eigentlich jegliche extreme Aktualisierungen oder Umdeutungen ohne größeren Schaden überstehen. Man könnte ihn vielleicht als den » zeitlosesten « aller europäischen Klassiker bezeichnen. Im 20. Jahrhundert folgen mit großem Abstand dann vor allem die Iren Bernard Shaw und Oscar Wilde.

Was den historischen, zeitlichen Abstand der Klassiker zur Gegenwart betrifft, folgt Deutschland an letzter, also spätester Stelle. Die Weimarer Klassik mit Goethe und Schiller steht an der Schwelle zur Romantik, der im 20. Jahrhundert so geschätzte Hölderlin gehört ihr voll an; Grillparzer in Österreich bildet schon den Übergang zum Realismus. Was die Anzahl der Bühnenerfolge betrifft, werden sie alle von dem heute unbekannten August von Kotzebue und seinen Rührstücken übertroffen, der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts der meistgespielte deutschsprachige Autor auf allen europäischen Bühnen war. Aufführungszahlen sind nicht immer entscheidend für das Klassiker-Sein, sonst könnte man Hauptmann und Hofmannsthal nicht dazu rechnen, und statt Schnitzler müßte man Sudermann nennen. Vor dem Hintergrund der weltweiten intensiven Theaterrezeption von Bertolt Brecht, die ihn zum meistgespielten Klassiker des 20. Jahrhundert macht, ist dies eine nachrangige Frage.

Seit der Moderne sind es auch die kleinen oder peripheren europäischen Völker, die ihre Klassiker stellen: die Norweger Ibsen, die Schweden Strindberg, die bis dahin kaum in Erscheinung getretenen Russen Tschechow, Gorki und Majakowski, die Ungarn Imre Madách, die Rumänen Caragiale, die Serben Branislav Nušić.

DIE KLASSIKERPROBLEMATIK ALS EUROPÄISCHE FRAGE

Die Klassikerproblematik – wie sind solche Stücke einem heutigen Publikum nahezubringen? – stellt sich nicht in allen Fällen gleich. Sie hängt mit der historischen und kulturellen Distanz zur Gegenwart zusammen, mit Sprache und thematischer Zeitgebundenheit, mit Dramenform, Dialogführung, eventuell mit Versform, Versdeklamation und Rezeptionsverhältnissen. Bei einem Vergleich mit Theaterformen traditioneller Hochkulturen wie den asiatischen stellt sich heraus, daß diese Problematik eine spezifisch europäische ist. Im japanischen Nô-Spiel werden Klassiker nicht der Zeit angeglichen, die Tradition ist Norm auch für die Gegenwart. Die Kulturentwicklung folgt hier nicht in gleichem Maß dem Schema der antithetischen Epochenabfolge und der jeweiligen Uminterpretation der Vergangenheit. Es ist ein spezifischer Zeitbegriff, der das Europa der Neuzeit prägt, und ein spezifischer Wirklichkeitsbegriff, dem auch der Theaterbegriff als Spiegel der Realität und zugleich Symbol für die Welt verbunden ist.

» Was machen wir mit unseren Klassikern? « ist eine spezifisch europäische Frage, die die Moderne und Postmoderne (begriffen als Fortsetzung oder Gegensatz zur Moderne) beschäftigt. Ideologisierte Bildungsverpflichtung oder lebendiges Erbe? Pflichtlektüre des Alten Kontinents oder » Weltliteratur « im Sinne Goethes? Ein Muß der Repertoire-Politik oder zeitloses Theater? Eine geduldete Vergangenheitslast oder zukunftweisende Aktualität in historischem Gewand? Eine Endmoräne antiquierter Kulturauffassung oder wichtiger Nährboden ästhetischer Schulung? Mehr oder weniger Klassiker in den heutigen Repertoiren? Welcher Prozentsatz in welchen Theatern – in Stadttheatern, Nationalbühnen, Experimentbühnen? Das sind europäische Fragestellungen, die in dieser Form für andere traditionelle Hochkulturen kaum Gültigkeit besitzen.

KLASSISCHES THEATER, BIBLIOGRAPHIE AUFGESCHLÜSSELT:

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ANMERKUNGEN

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2.
THE HISTORIOGRAPHY OF THEATRE AFTER EVOLUTIONISM AND FORMALISM. THE GREEK CASE [2010]*

After an interregnum of a-historical approaches in recent decades, theatre history is again being discussed and able to focus scholarly interest. This impulse is coming from the practicioners of theatre, recognising that today there is no theatre practice without sound historical knowledge, 1 as well as from historiography itself, now interested in the history of everyday life and mentalities.2 The problems of reconstruction and methodology in this field are in some ways similar to those of theatre historiography, mainly because of the usual lack of direct sources. The banishment of history from the canon was not so much a reaction to historiography itself, as much as to the philosophical and holistic approaches to history such as evolutionism. Evolutionism, essentially starting with Hegel’s Geschichtsphilosophie and becoming popular with Darwinism, was the main historical concept in culture sciences up to the post-War period. This reaction against evolutionism was linked to political postulates after 1968 and gave way to more formalistic concepts such as Systemtheorie, structuralism, semiotics, comparativism without limits in time and space, and after that, deconstruction, post-modernism, etc. Under the influence of the fashion of ‘post-histoire’, no major project in theatre historiography was undertaken in these decades.3

Despite the fact of an enormous bibliography, the mere formalistic approaches, combining many different methodologies and terminologies, did not lead to any really adequate result.4 On a purely theoretical level, the theatre performance seems to be too complex to be analysed in vivo but only in an abstract manner as a system.5 Theatre shares this complexity with culture and society itself, but also with music, language, religion, etc. The most elaborate and effective model, the semiotic one, shows exactly this partial impossibility of analysing one hundred per cent the production and reception of a theatre play.6 A mysterious residuum of aesthetic quality and ways of communication always remains. As theory without history is metaphysics, 7 formalistic approaches, following on the developments in semiology and anthropology, turned back to concreteness and historicality, with immediately better results for the analysis of aesthetic dimensions.8 A theatre sign is not a mere instrument for the conveying of meanings, but has also an aesthetic quality and performative entity in itself.

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