Cover

img1

Marta Karlweis

Schwindel

pg5

Literaturmuseum Altaussee, Bildarchiv

Die Erstausgabe erschien 1931
im S. Fischer Verlag, Berlin.

Gedruckt mit der Unterstützung des
Zukunftsfonds der Republik Österreich

1. Auflage 2017
Das vergessene Buch
DVB Verlag GmbH
www.dvb-verlag.at
© 2017 DVB Verlag GmbH, Wien
Umschlaggestaltung: Leandra Eibl, Eindhoven
Druck und Bindung: CPI books, Leck
FSC® Mix Credit zertifiziert
ISBN 978-3-9504158-6-5

Inhalt

title

DIE MENSCHLICHE GEMEINHEIT

Die Großmutter sah auf einem Auge so gut wie nichts; ich glaube, das Übel, das sie hatte, nennt man „Mouche volante“. Desungeachtet las oder häkelte sie unermüdlich und trieb das eine wie das andere mit einem zugekniffenen Auge, Buch oder Arbeit knapp vor dem Gesicht. Krank war sie nie, kein Mensch sah sie je müßig sitzen. Einmal aber saß sie da mit den Händen vor sich auf dem schwarzen Rock, das war an dem Tag, an dem ihr jüngerer Sohn begraben wurde.

Dieser Sohn war blond und freundlich gewesen, er hatte es weit gebracht, wie man das nennt, er war nicht alt geworden, eine Millionenstadt hatte ihn geliebt und geehrt und bereitete ihm jetzt ein großartiges Begräbnis. Bei der Mutter saß der älteste Sohn, schwarzhaarig, angegraut schon, er erboste sich darüber, daß sein Kranz drüben bei der Aufbahrung – er deutete mit dem Kopf über die Schulter, um das in der gleichen Straße gelegene Trauerhaus zu bezeichnen – nicht auffällig genug am Katafalk placiert gewesen sei. Kein Mensch könne die Inschrift auf der Schleife lesen: Dein treuer Bruder. Seine Frau saß auch da, die Großmutter sagte ihr „Sie“. Heute sagte sie freilich gar nichts. Der Sohn schrie, denn die Großmutter war beinah taub. Die Schwiegertochter schrie: Wozu schreibt man das in Goldbuchstaben hin, dein treuer Bruder, wenn es kein Mensch liest? In einer Ecke des Zimmers befand sich ein schwarzgekleidetes kleines Mädchen. Das trat plötzlich vor und sagte – es zitterte etwas dabei –: Warum schreist du so? Mein Vater hat nie so schreien müssen mit der Großmama. Die Schwiegertochter schrie zugleich: Unerhört ist so was, fünfzig Gulden hat uns der Kranz gekostet, und aus Bosheit legen sie ihn nicht anständig hin. Das kleine Mädchen starrte das Weibsbild überwältigt an. Tief innig fühlte es, was das ist, menschliche Gemeinheit. Irgendein Verwandter führte die Kleine mit einem entrüsteten Ausruf aus dem Zimmer und strich ihr beschwichtigend über Stirn und Augen. Das war natürlich Unsinn. Diese runde, komplette Offenbarung hatte die Kleine viel weniger verwundet als vielmehr rasend interessiert. Also so sah das aus, darum verkehrte man nicht mit der Frau. Und auch nicht mit ihrem Mann, obgleich er der Bruder war. Es war wohltuend, wie das stimmte.

Das angenehme Ehepaar, das auf diese Weise aus dem Nichts in unsere Geschichte tritt, wird gleich wieder im Nichts verschwinden, denn wir brauchen es nicht mehr, es hat seine Funktion längst erfüllt, es hat vor Jahr und Tag die Großmutter und damit die ganze Familie „hereingelegt“. Damit jemand hereingelegt werden kann, muß er eine schwache Stelle haben, und diese schwache Stelle war da, sie bestand in der jüngsten Schwester (oder Tochter) namens Johanna. Wenn die Tante Johanna zur Tür hereinkam, war es immer ein bißchen peinlich. Denn es ist nicht ganz richtig, wenn eine erwachsene Person mit dem Hut nicht weit liber die Türklinke hinaufragt. Sie schien das auch zu empfinden, denn sie lachte immer schon so komisch, ehe sie völlig erschienen war, es klang verlegen, und man ängstigte sich sogleich im Vorgefühl der Witze, die sie machen würde. Sie segelte auf einen los, man hatte ein Butterbrot in der Hand, mein Gott, was ist schon ein Butterbrot! Tante Johanna aber schrie munter: No, was is, schenkst mir dein Butterbrot? Nein? Wie? Was? Mir scheint, du bist nicht von Schenkendorf, was, was, wie? Und sie lachte, daß ihr das Wasser in die Augen schoß. Diese Augen füllten sich übrigens bei jeder Gelegenheit mit Wasser, sie hatten auch stets entzündete Ränder. Im Ruhezustand waren es Augen eines ängstlichen Kaninchens. Tante Johanna hatte überhaupt Ähnlichkeit mit einem Kaninchen: das Herumhopsen, das sinnlose Stillhalten, das Äugen, die ewige Angst. Sie lebte am Rande des Schwachsinns und wußte, daß sie schuld war –

Nein, schuld war eigentlich ihr Mann, mein armer Mann (er war tot), von dem sie acht Kinder hatte, zwei waren im Wickelband gestorben, die andern lebten, drei Söhne, drei Töchter. Sonderbarerweise war es auch peinlich, daß diese magere Winzigkeit achtmal Leben aus sich hervorgebracht hatte, sechsmal mit dauerndem Erfolg, denn es waren ganz kräftige Leute, ihre Kinder, die Söhne patschig zwar und naßhandig, aber groß gewachsen, die Töchter ungleich, aber von diesen wird noch ausführlich die Rede sein. Um kurz aufs Wesentliche zu kommen: alle sechs zusamt der Mutter hatten nicht zu leben, ihr frühverstorbener Vater war ein besonderer Typus gewesen, halb Lump, halb Phantast, die Familie war ihm mehrmals unter Geldopfern in arger Lage beigesprungen. Johanna hatte sich den August Schnabel nicht selber ausgesucht, er war ihr vom Vater zur Ehe gegeben worden, der Vater mußte es daher auch ausbaden. Als aber der Vater gestorben war und die Mutter natürlich fortfuhr, die ewig klaffenden Löcher des Schnabelschen Haushalts zuzustopfen so gut sie konnte, stand der älteste Sohn auf und sagte, so geht das nicht weiter, wir kommen alle an den Bettelstab, die Mama muß ihr Vermögen immobilisieren. Ihm pflichtete die ältere Schwester bei, die Karoline, die brauchte Sicherheit und wollte hoch hinaus, weil sie einen Generalstäbler zum Mann bekommen hatte und in einem unaussprechlichen Dünkel einherschwebte. Vier Kinder besaß auch sie und scheinbar eine natürliche Anlage zum Matronenstand. Hier sei weiter nur mitgeteilt, daß sie die Schwester samt ihrem albernen Kinderkriegen in Grund und Boden verachtete und in jedem weiteren Schnabel eine fressende Gefahr für den Wohlstand der Ihren erblickte. Sie vereinigte sich daher mit dem Bruder, dem sie sonst seiner Mißheirat wegen schlankweg das Haus verboten hatte. Der jüngere Sohn, Max, verhielt sich in der ganzen Sache schweigend. Er fand es unrecht, daß man der törichten und hilflosen Johanna derart den Brotkorb höher hängen wolle. Andererseits fürchtete er mit Grund und ernstlich, daß besonders der höchst zweifelhafte männliche Schnabelsche Nachwuchs am Ende die Großmutter selbst in Not und Jammer drängen werde, und so ließ er die andern schalten und zog sich still aus der Affäre.

Der Älteste, Franz, hatte nun freie Hand. Er gedachte einen richtigen Coup auszuführen, der von seiner Frau, einer verschmitzten Agentenswitwe (die stereotype Zeitungsanzeige ihres ersten hatte mit den Worten begonnen: Verkaufe jedes Haus binnen drei Tagen), schon lange vorbereitet worden war. Er für seine Person handelte nicht aus platter Geldgier, sondern um seiner Ideen willen. Kein Bücherheld war er wie der berühmte Max, sondern ein schlichter Mann der Tat, des täglichen Lebens, wenn auch nicht ohne Gaben und Schwung der Phantasie. Er hielt sich für einen Erfinder und meldete Patente an. Patente für Selbstanzünder von Gasflammen, für Behälter von Stricknadeln, für Markenklebmaschinen und dergleichen mehr. Dazu brauchte er Geld. Der Mama brachte er bei, die sicherste Anlage ihres Vermögens sei ein Zinshaus. Ein großes, prächtiges Zinshaus in guter Gegend, von soliden Mietparteien bewohnt, die vierteljährlich, halbjährlich, je nachdem, den schuldigen Zins entrichteten, kann man sich etwas Anständigeres vorstellen als diese Art Erwerb und Sicherstellung. Du sitzt da, Mama, und dort steht das Haus, und das Haus schwitzt ordentlich Geld heraus, da gibts kein Risiko, wie kannst du in deinem Alter ein Risiko eingehen, etwas Feineres existiert nicht, da ist auch die Karolin zufrieden. Bei einet Bank kann man nie wissen, denk an den Krach im dreiundsiebziger Jahr, wo kann denn ein Zinshaus krachen. Willst du dein Kapital im Strumpf verstecken, du bist doch eine moderne Person, Mama, ja, Papiere, Papier ist doch Papier, und ein Haus ist aus Stein und Eisen. Ein Haus ist eine Realität. Auf den Papa kannst du dich nicht berufen, Gott hab ihn selig, von Geschäften hat er wohl nichts verstanden, sonst hätt ihn der Schnabel nicht so angeschmiert. Der selige Papa hätt auf Referenzen schauen müssen, aber wo waren denn da Referenzen, gar keine Spur von Referenzen. Der Baron Auer (Franz war Chemiker und bei der Auerschen Glühstrumpffirma angestellt) engagiert keinen Schuhputzer ohne Referenzen und ist doch gewiß ein nobler Mann, der Baron Auer. Und ich kann dir sagen, Mama, der Baron Auer legt sein ganzes Kapital in Zinshäusern an. Der Max ist dagegen? Um den Max kümmer ich mich nicht so viel, was versteht so ein Schriftsteller und Beamter von Realitäten, hörst du mich, Mama, Gott, sie wird schon wirklich ausgesprochen taub. Er wischte sich den reichlichen Schweiß von der Stirn. Franz war ein untersetzter kurzhalsiger Mann und starb auch später am Schlagfluß. Verdrießlich schickte ihn die Mutter fort. Aber er kam wieder, jeden Tag um fünf war er da und verdarb der alten Dame den Kaffee. Ihr Liebling Max, der sie um diese Zeit zu besuchen pflegte, blieb aus, um dem anderen nicht zu begegnen. Zwischen den Brüdern bestand das mythische Verhältnis, Kain haßte Abel, Baldur mied Hödurs finsteres Gesicht. Abgöttisch liebte die Mutter ihren freundlichen blonden Sohn, dessen Gegenwart den Menschen ein Wohlgefallen war. Um den finsteren loszuwerden und den lichten wieder zu gewinnen, gab sie eines Tages nach, sie war reizbar wie der kurzhalsige Franz und besaß auch ein ungestümes Temperament, das noch in hohen Jahren mit ihr durchging wie ein scheues Pferd. Zum Beispiel, wenn ihr die große Napoleonpatience zum drittenmal nicht aufging, wenn etwas in der hohen Politik ihr nicht gefiel, oder wenn jemand in der Verwandtschaft ihre sonderbare, stets glimmende Eifersucht anfachte. Franz verlangte es natürlich schriftlich, sie fuhr zornig auf, warf die Häkelarbeit fort, kniff das blinde Auge ein, kleckste und gab es schriftlich. Franz ging und kaufte das Haus, das eigentlich seiner Mesalliance gehörte, aber er kaufte es von einem Strohmann. Seine Frau hatte es von ihrem Agenten geerbt. Das Haus war zwar groß, es umfaßte mehrere Höfe und hatte drei bis vier Stiegenhäuser, aber darum blieb es doch ein richtiges Proletarierhaus, dort, wo der elegante Rennweg die Freude an sich selbst verliert und sich aufgibt in einem Armeleutequartier. Dazu in so menschenunwürdigem, polizeiwidrigem Bauzustand, daß sogar der Mann, der jedes Haus binnen drei Tagen verkaufte, mit diesem hängengeblieben war, kurz ehe er starb. Um der Mama unnötige Kosten zu ersparen, hauptsächlich aber, um die Beschaffenheit seines Erwerbs möglichst lang zu vertuschen, bestellte Franz seine eigene Person als Hausverwalter.

JEDOCH SCHNABELS SIND AN ALLEM SCHULD

Alle Schnabelkinder wachsen auf in dem Gefühl: unsertwegen ist die ganze Familie zu Schaden gekommen. Die Majorin Proch, Tante Karolin, erscheint jede Woche einmal, um in dem Witwenhaushalt der törichten Johanna nach dem Rechten zu sehen. Regelmäßig trat sie ein mit den Worten: Euretwegen muß ich in so eine Gegend, pfui Teufel, die Hahngasse, wer wohnt denn schon da, kein anständiger Mensch wohnt da. Hierauf machte sie eine Pause, die bedeutete: Aber ihr müßt das, weil ihr Lumpen seid, Kinder eines Lumpen, und weil ihr schuld seid, daß man dieses niederträchtige Haus gekauft hat dort draußen bei den Verbrechern, ein Skandal. Alle Schnabels hassen sie inbrünstig. Das ficht sie nicht an. Sie ist eine stattliche Frau mit streng hervorquellenden holzbraunen Augen, glatter Stirn und glattem schwarzen Schopf. Der Zeigefinger ihrer rechten Hand ist krumm von früher Gicht, aber auch die Goldfinger sind krumm, und das Böseste sind die hammerähnlichen Daumen. In ärarischen Kreisen ist sie bekannt wegen ihres charmanten, ladyliken Auftretens, sie ist kein Soldatenweib, sondern eine Offiziersdame. Sie hat einen ansehnlichen „Jour“, man rühmt ihrem Haus vormärzlichen Anstand nach. Bei Schnabels arbeitet sie mit ohrfeigen. Wer muckst, dem haut sie mit den schweren goldenen Ringen ins Gesicht. Und nachher in den Winkel und knien. Die Buben auf Erbsen.

Die törichte Johanna sitzt am Tisch, heut ist die Karolin aber früh gekommen, sie war gerade dabei, mit den Kindern Speiszettel zu machen für die nächsten Tage. Gott, die Fratzen klauben ja so, man weiß nicht, wie mans ihnen recht machen soll. Jetzt würgt sie an dummen Tränen, würgt an einem krankhaften Gelächter, winkt mit den Zwergenhänden und ruft: Die Tante Karoline tut es zu eurem Besten. Ihr werdet der Tante Karoline noch einmal dankbar sein. Auf ihr Grab werdet ihr noch gehen und – Ich bitt dich gar schön, halt du den Mund, fährt die Schwester sie verächtlich an. Sie kuscht erschrocken. Aber wenn die fürchterliche Frau sich endlich zum Gehen anschickt, weiß sich Johanna vor Diensteifer nicht zu fassen. Kinder, die liebe Tante muß schon fort. Jöh, so früh. Arthur, Ernstl, Olga, Fritzi, Hand küssen und schön gute Nacht wünschen. Es sind nur vier Kinder zu Hause, Leo geht in ein Geschäft, Malwine, die Älteste, ist Gesellschafterin bei einer alten Generalin, Protektorin der Tante Karolin.

Dann ist sie fort, und regelmäßig fallen die Kinder nach fünf Minuten aus irgendeinem blödsinnigen Anlaß übereinander her. Die Qual, die angetane Schmach, die Demütigung, die geschwollenen Lippen, die schmerzenden Knie, der Haß, der unbegreifliche, unaussprechliche Druck, den etwas Unfaßbares auf ihre unmündigen Gehirne ausübt, macht sie blind, wütend, taub, verrückt. Die Buben sind schreiend verknäult, und Olga spuckt der Fritzi keuchend ins Gesicht. Du Schwein, du Gans, du Strizzi, du Tepp, du Rindvieh. Sie keuchen, die Kleineren weinen gellend, am Ende liegen sie atemlos in den Zimmerecken und schlucken sprachlos vor sich hin. Die Mutter sitzt am Tisch in starres Grübeln verloren. Auf einmal sagt sie, eintönig ihren Gedanken fortspinnend: No was, Kinder, da soll ich also Freitag doch Spinat kochen?

Einen Augenblick ist alles still. Dann lacht die halbwüchsige Olga hell und leicht heraus.

Sie hat ein entzückendes, weich quellendes Lachen, die halb verwahrloste junge Person, und genau den Mund, der zu diesem Lachen gehört. Auch ein Wangengrübchen ist da und die samtene Haut, aus der so ein Mund hervorblüht, es hat alles seine Richtigkeit bei solch einer üppigen kleinen Frucht.

SIE IST DEN DAMEN NICHT SYMPATHISCH

Mit vierzehn Jahren schulfrei ist sie nach Mariahilf zu einer Schneiderin in die Lehre getan worden. Als ihr der Beschluß verkündigt wird, fragt sie, ob der Onkel Max es weiß und ob es ihm recht ist. Der hat andere Sorgen. Von nun an fragt sie nicht mehr, sie macht das Kreuz auch über den Onkel Max, von dem hat sie irgend etwas erwartet, etwas Großartiges, etwas Liebreiches, er hats doch so leicht, die Menschen reißen sich um seine Bücher, alle Menschen lieben ihn, er ist ein Dichter (freilich nur quasi hinter seinem eigenen Rücken, tagsüber sitzt er im Amt), aber wenn er andere Sorgen hat, kann auch er sie gern haben. Sie nimmt ihr Leben in die eigene Faust, die ist rot und rissig und wird nach einem Jahr rechts einen schwarzpunktierten zerstochenen Mittelfinger und links einen harten, rauhen Zeigefinger haben vom Säumenähen. Im ersten Jahr aber darf sie noch nicht nähen, sie geht liefern. Sie steht frierend an Tramwayhaltestellen, die Röcke fliegen, wenn man nur mit der riesigen Schachtel am schwarzen Lederriemen fertigwürde, im ersten Wagen schimpft einen der Kondukteur zusammen, im zweiten zwicken einen die Proleten. Immer hängt ein Tropfen an der Nase, alle Schnabels haben Wucherungen, und natürlich ist kein Geld da, sechs Stück Nasen davon zu befreien. Olga zieht auf, aber wenn es sehr kalt ist, hilft es nichts. Unglaublich, wieviel steinere Stiegen es in Wien gibt, noch im Schlaf hat sie Visionen von Stiegenhäusern. Es gibt gewundene Stiegen in alten unheimlichen Gebäuden, da gibts Wasserleitungen auf den Gängen und Klosettüren und vergitterte Fenster, aus denen Kohlgeruch hervorströmt. Es gibt gerade Treppen, auf die in jedem Halbstock Wohnungstüren münden, sechsundfünfzig Parteien in einem einzigen Haus. Olga träumt von Türen, von Hunderten von Türen, vor jeder steht sie mit der Schachtel am Lederband, streift sich nach hinten ausschlagend die Schuhe am schmutzigen Vorleger ab und wartet, daß man ihr öffne.

Aus der Hahngasse an finsteren Wintermorgen nach Mariahilf zu laufen, fällt ihr nicht auf alle Fälle schwer, sie will doch die armseligen Trinkgelder nicht auf Stellwagen ausgeben. Sie ist ja noch ein Kind, Anfang Dezember zum Beispiel gibts bei den Zuckerbäckern die Krampusauslagen, in den schäbigen Vierteln sind die Geschäfte alle um sieben Uhr schon beleuchtet. Auch das Angesprochenwerden macht ihr gruseligen Spaß, die anderen Mädeln werden doch auch immer angesprochen, und was man denen alles verspricht, ihr zeigt immer nur der blöd grinsende alte Kerl seine gelben Zähne und winkt so widerlich, bei der Litfaßsäule in der Kolingasse wartet er alle Tage auf sie. Aber einmal ist auch ein anderer hinter ihr her, „nachsteigen“ nennt sie das, in einer finsteren Gasse jagt er sie, und sie kriegt Angst. Sie muß auf Nummer vierundzwanzig liefern, im vierten Stock, den blauen Kostümrock der Frau Ratz. Im kaum erhellten Hausflur erwischt er sie, er stellt sich vor die Stiegen hin, so ein langer Mensch in einem Mantel fast bis auf die Schuh, er sagt: Es ist kalt, Fräulein, es bläst ein kalter Nordwind, Fräulein. Dabei lacht er, er hat Goldplomben im Mund. Er tut nichts, aber Olga kreischt so besinnungslos heraus, daß er entweicht. Oben bei der Frau Ratz bekommt sie einen Schluck heißen Tee.

Die andern Schneiderlehrmädchen erzählten Geschichten. Jetzt sitzt Olga schon in dem stickigen Hofzimmer, wo es nach Maschinöl, Bügeldunst, Wollstoff, Schweiß und Zervelatwurst riecht, hauptsächlich aber nach Schweiß und Maschinöl. Die Nähmaschinen scheppern rasend ihre Nähte herunter, die Mädchen schnattern und ratschen. Sie schnattern und ratschen von ihren Verehrern. Jede hat einen Verehrer. Im März hat auch Olga einen. Er spricht sie in der Mariahilferstraße an, weil sie allein geht und pfeift. Aber sie wäre auch ohne das pfeifen herausfordernd genug mit diesen Hüften, mit diesem Gang und mit dem unglaublichen Mund zwischen den weichen runden Wangen. Ihr trommelt das Herz. Diesmal ist es kein „Mann“, der ist etwas Besseres. Kein eleganter Herr, aber so ein feines Gesicht, trotz der paar Blatternarben. Eine verrückte Krawatte, am Ende ein Schauspieler? No, was riskier ich?

So hat Gott nur die Weiber geschaffen. Ihr ganzes Leben riskierte sie nicht nur, sondern sie hat es dargebracht, hingeworfen, sich ganz und gar entäußert, sich selber erst, alle Glieder stückweis, jeden Tropfen Blut, alle Gedanken und dann das Kind, das sich im Innern ihres Leibes bildete. Von irgendwo taucht ein Gesicht auf, Schicksalsgesicht, o geliebtes Gesicht, was weiß ich denn, ob du schön bist? Sie sagen, du bist rothaarig, aber die Stirn, wie sie sich da zur Schläfe herabwendet, die ist so nobel, seht ihr denn das nicht? Die wasserblauen Augen der Rothaarigen, sagen sie, was weiß denn ein Mensch von diesen Augen, wenn die Lider streng auf sie niedergedrückt sind, dann ist mehr Schmerz und Gewalt in den schattigen Höhlen als im leuchtendsten braunen oder blauen Stern. Die zerrissene Haut in ihrer porösen Blässe ist wie mächtiger Stein, und die Zartheit und die trotzige Kraft der Lippen darin rührt einem das Herz auf. Wie die Nase ansetzt, breitrückig genug, und sich gerade so weit hinausschwingt, daß sie nicht frech, sondern hochmütig über der Oberlippe steht, wie steht das zur kühnen Schwere des Kinns! Gesicht, du bist Tag und Nacht über mir. Gesicht, wenn ich dich halten darf, steht die Welt still. Gesicht, Flamme, Abgott, Geschick, wenn du mein bist, sind Tod und Leben verschmolzen.

Sagen konnte sie dergleichen freilich nicht. Sie stammelte abgerissenes dummes Zeug. Sie war eine Besessene vom ersten Kuß an. Der kleine, unansehnliche, buschig-rothaarige Mensch – er war nicht Schauspieler, sondern Musiker, Korrepetitor, Lehrer, Komponist, bettelarm, nervenkrank, vom Unglück verfolgt – hatte ähnliche Wirkungen auf Frauen schon an sich erprobt. Er machte sich nicht viel daraus, denn was er besaß, war ihm von vornherein verdächtig. Diese hier aber übertraf alle in ihrer fassungslosen Vergötterung. Der Musik, mit der er sie zum Anfang überschüttet hatte – er spielte ihr auf seinem Mietpiano alle Opern von Wagner, Mozart, Verdi und Rossini vor –, der Musik bedurfte es eigentlich nur einmal als Vehikel. Sie wäre für seine Sendung gestorben, und wenn sie nie mehr einen Ton vernommen hätte. Sein Gesicht war ihr die Verheißung von Bach und Beethoven zusammen, als sie von Bach und Beethoven erfuhr, und die bloße Vorstellung seiner Hände versetzte sie in Taumel. Sie schlief täglich ein mit der Beschwörung des Gesichts, und sie erwachte täglich mit einer wirren Art von Dank an Gott für das Gesicht. Es wurde in den späteren Jahren ganz entfleischt, eine Totenmaske und grau; ihr blieb es unverändert, aller Schwere, aller Verzweiflung und aller Süße eines von den höchsten Mächten bereiteten Schicksals voll. Als sie für ihre Wahl zu kämpfen hat, denn die Sache kommt heraus, weil sie ein Kind erwartet und unter dem Druck der Familie (sogar Onkel Max läßt sich den unangenehmen Narren kommen), heiratet Robert Geßl sie im achten Monat; als sie vor Schwestern und Cousinen (man sieht die feinen Prochmädeln zuweilen) für ihn reden soll, da kann sie nur schimpfen, toben, weinen, mit dem Fuß aufstampfen. Alles entsetzt sich. Niemand findet was „an ihm dran“. Wenn er noch etwas vorstellte. Die Frauen wenigstens wären bereit zu begreifen. Aber die denken bei einem Verführer immer an die Kreuzung von Goethe und Burggendarm, der da ist ja gar kein Mann, pfui Teufel, blatternarbig ist er, rote Haare hat er. Sie kann es nicht sagen, das von den Schläfen und von den Augenhöhlen. Sie schreien, er hat sich benommen wie ein Lump. Sogar Leo plustert sich auf: die Hand geben wird er diesem Menschen nie, dazu ist er sich zu gut. Du nicht die Hand geben, haha, sie glüht und zittert vor Verachtung, aber in Kaffeehäusern, da läßt du dir von Mädeln Geld in diese Hand geben – da bist du dir nicht zu gut dazu ... Sie weiß, Robert hat sich schlecht benehmen. Er benimmt sich immer schlecht, er wird sich immer schlecht benehmen. Sie jauchzt es heraus: sein Fußwasser ist mir lieber als euer Parfüm! Sie ist wie ein Jagdhund, der eine Fährte hat: sie zittert, sie ahnt, sie ergreifts wie eine Hellseherin, sie will es, sie hats, es ist etwas Edles, etwas Edles in dem Menschen, das muß nicht anständig sein, es kann einer bös und schlecht sein, und er hat was Edles, das versteht ihr nicht, und sie heult in ihre Ellenbogenwinkel, erst rechts hinein, dann schnauft sie auf, dann links hinein.

Daß er Klavier spielen kann, das kapieren sie später alle. Er spielt wie der Teufel. Das Mietpiano wird zum Orchester. Er brüllt dazu, da steht Figaro, da steht Pizarro, Leonore, großartig, aber schade, er wirds zu nichts bringen. Er kann alles nur, wenn er allein ist, im Dämonenraum seiner Phantasie. Oben auf dem Dirigentenpult, hic Rhodus, hic salta, wird er schwindlig und fällt dem ersten Violinisten in den Notenständer.

Wenn er die Frau nicht hätte, ginge er viel früher vor die Hunde. Aber die wartet, pflegt, nährt und vergöttert ihn. Sie ist Schneiderin und geht mit ihren Anproben in die Häuser. Sie hat jetzt feinere Kundschaft, und die Treppen, die sie hinauf läuft, atemlos, denn die verstopfte Nase gönnt ihr ohnedies keine Luft, die Treppen sind jetzt nicht mehr gewunden, sondern fast immer gerade und manchmal sogar mit Teppichen belegt. Die Damen lassen die Toiletten vom Vorjahr durch sie aufarbeiten. Das „Modernisieren“ ist ein notwendiges Übel, aber die Olga Geßl ist den Damen nicht sympathisch. Sie ist billig, aber sie ist arrogant. Tante Lilli, die Witwe vom Onkel Max (der vor fünf Jahren gestorben ist), eine vernünftige, wohlwollende Frau, bei der Olga zuweilen verschnauft und schnell eine Schale Kaffee bekommt, macht ihr Vorstellungen. Die Damen beklagen sich bei mir, es ist peinlich für mich, denn ich hab sie dir verschafft. Warum kannst du nicht schweigen? Warum schneidst du ihnen Gesichter? Du lebst davon. Kannst du nicht den Schnabel halten? Mußt du ironische Gesichter schneiden, oder zum Beispiel der Frau Direktor Attelmayer in der Oper den Rücken kehren? Benimmt man sich so gegen eine Dame? – Wenn ich in der Oper sitz, bin ich grad so eine Dame wie die. Olga rührt im Kaffee und drückt patzig den Hals heraus wie ein zorniger Täuberich. Und ich sitz öfter in der Oper als sie. Im Parkett, bitte. Was braucht sie sich im Zwischenakt von Lohengrin nach mir umzudrehen und laut zu sagen: Gut, daß ich Sie treff, Frau Geßl, das grüne Samtkleid zipft noch immer, kommen Sie morgen vormittag zu mir.

Gott, das ist eine Zerstreutheit, sie hat sicher nichts Böses dabei gedacht –

So? Olga schießt das Blut in den Kopf. So? Und der Robert sitzt daneben und wird krebsrot? Tante Lilli, daß du so redest! Ich wundere mich nur. Du hast doch auch einen bedeutenden Mann gehabt!

Der kann man keine Unterschiede begreiflich machen. Sie kaut ihr Kipfl, schnupft kräftig auf und fährt erbittert fort: Die Attelmayer! Was war denn die als Mädl? Eine Konservatoristin mit Löchern im Strumpf. Jetzt ist sie die Madame Attelmayer, hat Geld und tut sich was an mit ihrer Singerei. Aber die hat sich überall eingetegelt. Mir macht sie nix vor. Solche kommen dutzendweis und betteln den Robert um Stunden an. Der schmeißt sie alle hinaus.

So bringen sie es beide zu nichts. Olga näht, steppt, schneidert, rennt und rackert sich. Aber sie ist den Damen unsympathisch. Nicht nur wegen ihrer Arroganz, die ist eigentlich bloß Vorwand. Die zahmen Bürgerweiber können Olgas weibliche Atmosphäre nicht aushalten (das wissen sie aber nicht). Irgend etwas in dieser Olga lacht sie unaufhörlich aus. Was hat denn die Person, vor der Schneiderin zieht man sich doch aus, was ist denn da immer so was Abschätziges in ihrem Blick! Hält sie sich selber für so eine Beauté? Ach nein, an sich selber denkt Olga nicht, dazu hat sie keine Zeit. Es ist einfach dieser ewige, tolle Triumph in ihr, so zu lieben, so geliebt zu werden. Das spritzt ihr aus den Augen, aus den Fingerspitzen, darum trägt sie den Kopf so und nicht anders, darum setzt sie die Füße so und nicht anders, das läuft mit ihr durch die Straßen, das springt mit ihr auf die fahrende Elektrische hinauf, das bricht mit ihr in den schalen Frieden eleganter Schlafstuben, das macht die Anständigen verdrießlich, ich weiß nicht, die Person hat was Unfeines, sie ist und ist den Damen nicht sympathisch.

Geßl versteht mehr von Musik und Gesang als die gefeiertsten Lehrer der Stadt. Aber wer wird einen Meister loben, der ihm in der ersten Unterrichtsstunde beweist, daß alle derartige Kunstübung nichts ist als verwerfliche Schweinerei? Wer will diese Galle, diese Krisen, diese Tobsuchtsanfälle über sich ergehen lassen? Es finden sich ein bis zwei Fanatiker. Solche sind beinahe immer Bettler und von chronischem Unglück heimgesucht. Sie nähren sich vom Bewußtsein, einem heimlichen Kaiser zu dienen. Sie warten auf die Offenbarung. Darin sind sie dürrer und armseliger dran als Olga. Denn auch ihr Leben besteht im Warten, aber ihr wird Offenbarung zuteil. Sie ist an einen tollen, kranken, bösartigen Narren geschmiedet. Sie wartet darauf, ja, worauf wartet sie? Ihr braucht er nichts zu beweisen. Dennoch wartet sie, wartet immer, man geniert sich, es zu sagen, sie wartet darauf, daß er lieb ist. Anders kann sie es nicht ausdrücken. Sie meint damit viel mehr, ja etwas ganz anderes als den Naturvorgang. Er schreckt, er quält, er martert sie. Mit Ausbrüchen des Zorns, der Verzweiflung, mit Wochen sturer Ermattung. Die sind das Schrecklichste, die nackte Hoffnungslosigkeit. Von ihnen ist es am weitesten zum Liebsein. Aber sie wartet immer, je größer die Qual wird, desto höher steigert sie ihre Seele in der Erwartung.

DER MORALIST ERWEIST HERKUNFT
UND BESCHAFFENHEIT

An einem Sonntag, das Leben der Mühseligen und Beladenen springt ja von Sonntag zu Sonntag, wie manche Uhr von fünf Minuten zu fünf Minuten springt, eines Sonntags wollen Geßls in einem kleinen Gasthaus in der Paniglgasse zu Mittag essen. Eine Art Freund von Geßl, kleiner Provinzkapellmeister, der eben vor seinem ersten Engagement an eine bedeutendere Bühne steht, hat sich auf der Durchreise gemeldet, man will ihm die Nähstube nicht zeigen, in der Geßls auch essen und schlafen, nur einen Arbeitsraum für Robert gibts sonst außer der winzigen Küche, wir essen also im Braunen Hirschen, ich muß der Urschel da noch ihre Blusen hintragen, geh voraus, Robi, ich komm in einer halben Stunde in das Restaurant. Sie schlüpft in den Mantel, zieht vorm Spiegel schnell die Löckchen unter dem Hut hervor, pudert sich, bindet den Schleier stramm, raschelt mit Papier, sucht Bindfaden und schnattert dabei unaufhörlich. Sie tut es aus Angst, er antwortet nicht, seit acht Tagen sitzt er, kaut Nägel, und in seiner Seele sammelt sich Tröpfchen um Tröpfchen das unheimliche Gift. Sie spürt es an ihrer eigenen rasenden Nervosität, sie spürt, wie ihr Schnattern ihm das Hirn zerklopft, aber sie kann nicht aufhören, sie wird sonst verrückt vor Angst.

Schon auf der Stiege fühlt sie sich erleichtert, auf der Straße dann beinahe wohl. Im Haus der „Urschel“ muß sie lange warten, da steigt die Angst wieder, das Herz trommelt wieder, der Magen dreht sich um. Die halbe Stunde ist vorüber, fünfunddreißig Minuten, vierzig Minuten. Sie läuft fauchend in die Küche, die Köchin schnauzt sie an, das Stubenmädchen sagt: No so gehn S’ halt, wann S’ es so gnädig haben. Das wagt sie nicht, fünfundvierzig Minuten.

Robert hat ja den Freund. Aber gerade das kann die Katastrophe werden, wer weiß, wie der ist, am End spielt er sich auf mit seinem großartigen Engagement. Wo doch der Robert in der kleinen Zehe mehr Musik hat wie der in seinem ganzen Schädel. Fünfundfünfzig Minuten, wenn ich nur ein paar Baldriantropfen bei der Hand hätt. Da geht die Tür auf, Olga reißt sich zusammen, und dann geschieht das gänzlich Unerhoffte, die Urschel ist gerade bei Kasse und zahlt eine langaufgelaufene Rechnung bar und freundlich auf den Tisch, fünfundachtzig Kronen zweiunddreißig Heller, da, Frau Geßl, bitte zählen Sie nach.

Sie fliegt, sie stürzt die Treppen herunter, sie leistet sich einen Einspänner, und immerfort klopft sie innen, schneller, schneller, Sie kriegen ein gutes Trinkgeld. Und da ist sie, sie schießt in das Lokal, grüß dich, Robi, habe die Ehre, Herr Mondel, ja, ich hab mich so verspätet bei meiner Tante, der Frau Oberstleutnant Proch. Kalbskopfsuppe, schön, alles, was du bestellt hast, Robitschek. No, wie geht es Ihnen, Herr Mondel, wie gfallt Ihnen unsere Wienerstadt? Ich sag immer, leben kann man doch nur hier. Der Robi hätt ja schon so oft Anträge gehabt, an erste Bühnen, aber in der Provinz, nicht wahr, das hat doch keinen Sinn für so eine Kapazität. Ach die fünfundachtzig Kronen, jetzt sinds nur mehr dreiundachtzig, liegen ihr warm im Schoß, sie strahlen ein Feuer aus, ein verderbliches Feuer, sie hört und sieht nichts mehr, sie wird nichts verraten, morgen kauft sie dem Robi das gewisse Buch von Nietzsche über Wagner, das unerschwingliche, das er sich so gewünscht hat. – Warum ißt du nicht, Robitschek, geh, es ist doch ganz gut. Jöh, Sie plagen sich aber mit die Spaghetti, Herr Mondel, das macht man so, ich kanns Ihnen lernen. Wenn Sie die Gabel immer in der Luft herumdrehen, bleibt nichts hängen, logisch, was? Also so, sehen Sie? Ich kenn mich aus beim Wurstkessel. Herr ober! Eine Flasche chianti. Da schauts, was? Ich hab heut Spendierhosen an – sie trinkt hastig, stürzt ein zweites Glas herunter – Robi, sei doch nicht so grantig. Wir fahren nachher nach Schönbrunn. Herr Mondel, sind Sie fesch, sind Sie ein Kavalier, genießen Sie Ihre kurzen Wiener Tage, Sie müssen ja eh gleich wieder in die Provinz hinaus. No ja, Prag, eine Landeshauptstadt, na logisch, das geht ja, ganz eine passable Sopranistin haben sie dort, wir haben sie neulich im Grammaphon gehört, um Gottes willen, Robi, was ist denn, was hast du denn, was ist passiert, Robi – Robert!

Er hat den Tisch zur Seite geschleudert und ist hinaus. Wie ein Irrer, ohne Mantel, ohne Hut, die Kellner laufen zusammen, Olga rennt auf die Gasse, sie weint, sie schreit, sie taumelt zurück, sie fällt in einen Stuhl, sie schluchzt, sie schnauft auf, sie schluchzt sich das Herz aus der Kehle.

Mondel zahlt, dann bringt er sie dazu, heimzugehen. Sie denkt an Roberts Mantel und Hut, aber sie vergißt die Tasche mit den dreiundachtzig Kronen. Das wird ihr erst morgen früh einfallen, weil sie den ganzen Nachmittag, den ganzen Abend, die ganze Nacht sitzt und wartet und nur einen Gedanken hat, Robert, Robert, wo ist er, er hat sich was angetan, die ganzen Wochen ist das wieder so gegangen. O Robert! Sie denkt den Namen, sie flüstert ihn, sie schreit ihn, ihr Hirn ist Robert, ihr Herz ist Robert, ihr Elend ist Robert, ihre Verzweiflung ist Robert. Mitten in der Nacht läuft sie auf die Straße und späht und späht, ein Mensch in einem langen Mantel streicht an sie heran, er sagt: es ist kalt, Fräulein, es weht ein kalter Nordwind, Fräulein. Dabei lacht er und knöpft einladend seinen langen Mantel auf. In seinem Mund blitzen Goldplomben. Olga rennt davon, der Hausmeister hat schon wieder zugesperrt, in ihrer Angst poltert sie mit dem ganzen Körper gegen das Tor, bis es geöffnet wird. Einen Steifen Hut hat der entsetzliche Kerl aufgehabt.

Robert hat keinen Mantel, keinen Hut, wenn er noch lebt, wird er todkrank. Am Morgen muß sie die Milch bezahlen, in der Lade liegen noch dreizehn Kronen, da fällt ihr die Tasche ein, die Tasche ist weg. Sie sucht, sie sucht, sie kriecht auf dem Boden herum, die Tasche ist weg. Sie muß in den Braunen Hirschen, nach der Tasche fragen, irgendwie stülpt sie den Hut auf, wirft den Mantel um, den Wohnungsschlüssel – ja, halt. Sie muß doch Geld einstecken, mit dem Stellwagen ist man in drei Minuten dort. Den Wohnungsschlüssel – sie steckt die ganze Barschaft ein – den Schlüssel schiebt sie unter den Abstreifteppich vor der Tür, da findet ihn Robert. O Gott, wenn er doch nicht mehr daläge, der Schlüssel, wenn sie heimkommt.

Die Tasche ist bestimmt weg. Aber die Kellner dort sind so anständig, ich kenn doch jeden, da wird keiner stehlen. – Die wissen aber auch nicht, wer sich nachher an den Tisch gesetzt hat. Die Tasche ist futsch. Dreiundachtzig Kronen und der lange Kommissionszettel – ach und das Buch für den Robert. Robert, Robert, Robert, ich kauf das Buch doch, ich hab zwölf Kronen, wenn ich das Buch hab, kommt er wieder, was bin ich für eine Gans, bitte, haben Sie nicht gestern meine Tasche gefunden, sie war nicht mehr neu, schwarz, ja, an den Riemen ausgewetzt, dort sind wir gesessen, nein? Bitte, fragen Sie doch, es war Geld drinnen, fast hundert Kronen, dreiundachtzig, nein? – Na ja natürlich, mir ist es auch unangenehm. Ach, jetzt glauben die, mir wird schwindlig wegen dem Geld. Blödsinn. So. Aber logisch, wenn Sies gefunden hätten, hätten Sie mirs gegeben. Empfehle mich.

Sie stolpert fort. Wie eine Nachtwandlerin gerät sie in die Straße, in der sie die Buchhandlung gesehen hat. Völlig verwirrt steht sie da. Und kauft die Unzeitgemäßen Betrachtungen, mein Mann wünscht sich das, wissen Sie? Für zehn Mark, das sind zwölf österreichische Kronen. Wie kommt der Robert dazu, wegen ihrer Kopflosigkeit auf das Buch zu verzichten?

Die Wohnung steht offen. Robert ist heimgekommen. Er hat Feuer im Herd gemacht. Sie steht da und starrt ihn an. Jetzt erst begreift sie wieder, daß er hätte tot sein können.

Robert, Robert, Robert, Robert! Es stößt sie, es schlägt sie hin und her, sie muß sich irgendwo ankrampfen, es will nicht enden, der Mann weiß sich nicht zu helfen, er hält sie, er redet ihr zu, alles finster, beinahe ärgerlich, sie fürchtet sich, sie nimmt sich zusammen. Das Buch ist auf den Boden gefallen, sie schnauft auf, bückt sich und murmelt: Das hab ich dir gebracht. Er sieht das Buch an, das Blut steigt ihm zu Kopf, sein Mund verzerrt sich, schreckliche Wülste bilden sich auf seiner Stirn, er schreit: Grammaphon, Spendierhosen, Gawlier, Robitschek, na logisch – wart nur, mich kann man nicht kaufen! und schmeißt das Buch in den offenen Herd.

Die Familie hat ohne Zweifel recht, Geßl ist ein unerträgliches Subjekt. Es ist etwas Diabolisches in seiner Bosheit, und diese Teufelei wurzelt wie alle Grausamkeit in der kristallenen Härte seiner persönlichen Moral, schlimmer noch, seiner geistigen Moral. Die Physiognomie jedes großen Moralisten weist Züge der bekannten Teufelsmaske auf, je bedeutender der Mann, desto vollkommener das luziferische Gepräge. Man kann diese Tatsache bis in die neueste Zeit verfolgen. Wir haben es hier jedoch mit keinem Peiniger (und Verführer) seiner Epoche zu tun, sondern mit einem von seinem moralischen Dämon besessenen Mannsbild, das seinem Weibe, einer kleinen Schneiderin, gegenübersteht. Olga begreift nicht mehr recht, was geschehen ist, so wie sie nicht mehr recht begriffen hat, daß ihr die Tasche gestohlen worden ist mit dem Ergebnis mühevoller tausend Stiche, fünfundachtzig, nein dreiundachtzig Kronen. Sie hockt halb auf dem Boden und starrt vor sich hin.

Da geschieht es. Olga fühlt es in ihre Erstarrung hinein, sie könnte um keinen Preis erklären, wie sie es fühlt. Es ist wie der Strom, der zwei aneinandergeschmiegte Liebende verbindet. Durchaus in den Nerven spürbar, mit Zentrum und Ausstrahlung, wie Wärme oder Elektrizität, es ist hier nicht mehr von geistigen Strömungen die Rede. Sie weiß es ganz bestimmt, jetzt kommt es, das Herz klopft, stärker, stärker, nicht rühren, nicht aufschauen, er sieht mich an, ich spür schon seine Augen, nicht rühren, nicht aufschauen, ich weiß genau, wie jetzt sein Gesicht ausschaut, o Gesicht, vergöttertes, geliebtes. Jetzt sieht er jung aus, ganz jung, jetzt kommt das leise Rotwerden von innen her, als wär das außen nur eine Maske und das Menschengesicht dahinter wie ein aufglühendes Licht.

Er legt ihr die Hand auf die Schulter, er stottert etwas, eine Bitte um Entschuldigung, sie wird blutrot, aber geh, es ist ja weiter nichts. – Olga, ich kann es ja nicht erklären, es ist was in mir, es jagt mich, es ist dir nicht geholfen damit, daß ich mich anklage, Olga. – Wenn er nichts anderes sagen würde, als immer nur „Olga“, wie selten er meinen Namen nennt, o süßer, lieber, böser, ungeheurer Mensch. – Was ist denn das in mir, Olga, ich hab als Kind einmal einen fast erwürgt, gestern bin ich davon, weil die Wut mich erstickt hat. – Sie steht ungeschickter auf, als es sonst ihre Art ist, Gott, ich war ja auch gestern so eine Gans, aber du hast sicher noch nicht gefrühstückt, wart, ich koch dir schnell einen Kaffee. Vielleicht umschlingt er sie dann und küßt sie, vielleicht auch nicht, nötig ist es nicht, jetzt war er ja lieb, jetzt ist er lieb. Sie hantiert verlegen mit der Milchkasserolle herum, das Kaffeemahlen ist ihr zu laut, jetzt sollte es wie in der Kirche sein oder wie im Theater. Leg dich hin, Robi, wie du ausschaust, du mußt ja ganz hin sein, ich bring dir den Kaffee ans Bett. Vielleicht schaut er sie dann noch einmal an, da würgt sie tapfer an diesen dummen hysterischen Tränen, er kann Szenen nicht leiden, geh, leg dich nieder, Schatz, schau, ruh dich aus.

Aber wenn er dann schläft, dann kann es geschehen, daß sie eine Stunde vor unbegreiflicher Lust und Wonne schluchzt, ja solcher Jubel, solcher Triumph ergießt sich durch ihre Adern und hinterläßt ein so dauerndes Fluidum, daß ihre bloße Gegenwart den feinen Damen allen Spaß verdirbt.

EIN BEGRIFF WILL SICH DER REALITÄT BEMÄCHTIGEN