Fabrizio



Es spielt keine Rolle, wie ich in den Besitz dieses Tagebuches gekommen bin, sagen wir einfach, es hat mich gefunden. 

Im Gegensatz zu Marion bin ich fest davon überzeugt, dass es keine Zufälle gibt. 

Um bei der Wahrheit zu bleiben, arbeitet mein Cousin Luigi in einer Pizzeria in Hamburg. Außerdem hat er einige Nebeneinkünfte, die im Entferntesten mit der italienischen Mafia zu tun haben. Das alles geht mich nichts an, was kann man schon für seine Familie?

Tatsache ist, dass er beim Poker spielen eine Damenhandtasche samt Inhalt, zu dem unter anderem dieses Tagebuch gehörte, gewann, die ein Kumpel von ihm wohl irgendwo gefunden hatte. Gefunden, entwendet, geklaut, wer weiß das schon genau? 

Er kennt meine Liebe zu Büchern, ich hatte einige Semester Literaturwissenschaft studiert, bevor ich den Fahrradhandel meines Vaters übernehmen musste. So gab er es mir.

Dieses Buch hat alles verändert.

Am Anfang fiel mir das Entziffern der Handschrift nicht leicht – heute bin ich soweit, mit geschlossenen Augen ein vorgegebenes Wort fast identisch nachzeichnen zu können. Ich habe Satz um Satz so viele Male entworren und in mir wirken lassen, dass manche Gedanken mir inzwischen vorkommen wie meine eigenen. 

Ich liebe diese Frau. Ich liebe ihre Intelligenz und ich liebe ihre Seele. Ich werde sie glücklich machen, sie wird vergessen, dass es ein Leben vor mir gab.

Ich liebe ihren Körper, von dem ich keine einzige Beschreibung besitze, den ich mir trotzdem vorstellen kann, weich und warm, weiblich, wollüstig und wunderschön.

Einer ihrer Gefährten verglich sie mit Jane Seymour. Ich habe mir eines der Fotos der Schauspielerin ausgedruckt. So ähnlich sieht sie aus.

Es gibt einige Dinge, die mir Sorgen machen. 

Ich bin nicht sicher, ob sie wirklich so heißt, wie sie schreibt.

Kann es sein, dass sie einen falschen Namen angegeben hat? 

Im ganzen Internet ist kein Hinweis auf sie zu finden, es gibt zwar andere Personen mit demselben Namen bei Facebook, doch meine Marion bleibt unauffindbar.

Ich habe eine Deutschlandkarte im Wohnzimmer aufgehängt, mit dem Zirkel einen Kreis von zweihundert Kilometer Radius um München gezogen und alle kleinen Städte angekreuzt, die groß genug sind, um ein Gymnasium zu besitzen, und doch zu klein für zwei oder mehrere.

Was, wenn sie auch darin nicht ehrlich war?

Mittwochs bleibt das Geschäft nachmittags geschlossen. An meinen freien Mittwochnachmittagen fahre ich in die nächsten fraglichen Städte. Manchmal kann ich gleich zwei auf einmal abhaken; dann hat keine der an den Gymnasien beschäftigten Englischlehrerinnen auch nur das Geringste mit ihr gemein. Außer dem Fach. Wenn es stimmt.

Meine zweite Sorge gilt der Zeit. Es gibt keinerlei Hinweise auf das Jahr, in dem sie ihr Tagebuch schrieb. Es gibt allerdings Zeichen, die richtig interpretiert, einen Spielraum von bis zu fünf Jahren offenlassen. Im schlimmsten Fall wäre sie also zehn Jahre älter als ich. Ist es mir egal?

Es ist mir egal. Nur einmal habe ich geträumt, ich fände sie zu spät. Fassungslos las ich ihren Namen, eingemeißelt auf einem Grabstein. Träume sind Schäume – meine Suche geht weiter!

Was mich allerdings am meisten beunruhigt, ist, ihr klarzumachen, dass sie für mich bestimmt ist. Und ich für sie. Wenn ich sie wirklich gefunden hätte, wüsste, wo sie lebt, was dann? Ja, was dann?

Ich könnte an ihrer Tür klingeln und ihr das Tagebuch zurückgeben. Und?

Sie würde sich bedanken, eventuell hätte sie Angst vor mir – ich könnte immerhin der sein, der sie bestohlen hat.

Das geht nicht.

Ich könnte zufällig mit meinem Fahrrad in ihres hineinfahren, einen kleinen Unfall provozieren und sie dann als Entschuldigung zum Essen einladen. Wir hätten einen wundervollen Abend, würden uns wiedersehen und uns langsam näherkommen ... bis sie irgendwann bei mir zu Hause in der Bibliothek stöbern oder in den Schubladen im Schlafzimmer und – oh Schreck! – ihr Buch finden würde.

Das geht auch nicht.

Außerdem bin ich sicher, dass sie definitiv allergisch auf kleine Schwindeleien oder ausgewachsene, fette Lügen reagiert. Nein, das geht auf keinen Fall!

Ich könnte eine Anzeige in der lokalen Zeitung aufgeben:

„An Maria Marion: Habe Ihr Reisetagebuch Nummer neun und würde es Ihnen sehr gern zurückgeben. Näheres Kennenlernen erwünscht, Heirat nicht ausgeschlossen.“

Aber wenn sie es nicht liest? Abgesehen davon, dass sie denken würde, ich bin verrückt. Was nach Meinung meiner Freunde vermutlich zutrifft.

Nein, auch das geht nicht.

An was glaubt sie, diese Frau, für die es keinen Gott und keine Wiedergeburt gibt?

An die Begegnungen mit den Menschen, an Fahrräder und Farben. Ich heiße Fabrizio. Ist das nicht ein gutes Zeichen? 

Vielleicht müsste ich Josef heißen, wie Josef von Maria und Josef oder Tony wie Maria und Tony in West Side Story.

„Maria, Maria, Maria, Maria ...“, ich singe das Lied bei Tag und Nacht, sie hört mich nicht.

Heilige Madonna, Maria, hilf mir!


Es ist gut, dass ich so viel zu tun habe, die Nachfrage nach Fahrrädern steigt von Jahr zu Jahr. Ich habe mehrere Angestellte und werde die Geschäftsräume neben unserem Standort anmieten, um die Lagerkapazität zu erhöhen. Wir sind ein sehr innovatives Unternehmen, haben eine moderne Reparaturwerkstatt integriert und stellen seit einigen Monaten eigene E-Bikes her. Elektrische Fahrräder mit Lithiumbatterien, die dem Wunsch nach mehr Mobilität und weniger Umweltverschmutzung entgegenkommen. 

Warum ich das alles erzähle? 

Es geht mir finanziell hervorragend. Meine Arbeit macht mir Spaß, und ich habe Erfolg. Genügend, um es mir zu leisten, junge, unbekannte Autoren zu unterstützen. Genügend, um Marions Buch zu veröffentlichen. 

Vielleicht hat sie kein Interesse, vielleicht doch.

Ich werde einige Exemplare drucken lassen, in einer ansprechenden Umschlaggestaltung, einem Schriftsatz, der ihr hoffentlich gefallen wird und ihr diese Bücher zusammen mit dem vorgeschlagenen Vermarktungskonzept, inklusive möglicher Rezensionen, Interviews etc. zukommen lassen. Und einem Brief, in dem ich ihr meine Verehrung versichere und eidesstattlich erkläre, dass die Publikation nur dann vorgenommen wird, wenn sie damit einverstanden ist.

Selbstverständlich werde ich ihr die Entscheidung überlassen, die in ihrem Tagebuch erwähnten Personen umzubenennen, eventuell sogar die Geschichte als solche leicht zu variieren.

Alles liegt in ihrer Hand. Sie kann genauso gut die Exemplare vernichten und meinen Brief verbrennen. Oder andersrum. 

Das Einzige, worum ich sie bitten werde, ist, mich auf einer Fahrradtour durch eine schöne Landschaft, die sie sich aussuchen kann, zu begleiten.

Die Toskana vielleicht?

Ich suche sie, und ich werde sie finden. Dann werden wir sehen ...













Marion



Es ist so weit. Mein kleiner Koffer steht gepackt am Eingang, die Nachbarin, die die Blumentöpfe gießen wird, ist verständigt, und der Zweitschlüssel zu meiner kleinen Wohnung liegt, wie immer, unter dem Fußabstreifer, der zerschlissen und mit ausgefransten Ecken schon bessere Tage gesehen hat. Die Zeitung habe ich abbestellt und den Wecker entschärft, der sonst pünktlich um sechs Uhr morgens meinen kurzen Schlaf beendet.

Ich bin aufgeregt und dennoch seltsam ruhig. 

Endlich ist es so weit! Vier Wochen Urlaub im Jahr, auf die ich mich elf Monate lang freue und innerlich vorbereite. Ich lebe für diese vier Wochen und in ihnen spielt sich alles ab, was Bedeutung hat.

Hat irgendjemand vor mir bemerkt, wie sich die Zeit überlisten lässt? Jeder dieser Tage, die mich erwarten, entspricht meinem Gefühl nach einer Woche- manchmal geht es mir sogar mit den Nächten so und in diesem Fall wird aus einem Monat ein halbes Jahr.

Im Alltag habe ich meine festen Tagesabläufe, jeder Montag gleicht dem Montag der folgenden Woche so sehr, wie dem der vergangenen. Das Wetter mag sich verändern, meine Routine bleibt dieselbe. Oft kommt es mir so vor, als ob dieses Netz aus Gewohnheiten, das mich hält und mir ein Gefühl von Kontrolle gibt, in Wirklichkeit wackelig und falsch mir über den Körper geworfen wurde, um als beweglicher Käfig meine Schritte einzugrenzen.

Wer hat das getan? Wer mich so eingeschlossen? 

Ich werde später darüber nachdenken, jetzt ist es Zeit, meinen Mantel anzuziehen, die Handtasche in die linke Hand zu nehmen, den Koffer mit den praktischen Rollrädern in die rechte und mich auf den Weg zum Bahnhof zu machen.

Ich wohne im dritten Stock. Das Treppensteigen ist mir mehr als eine willkommene sportliche Betätigung ein Vergnügen an sich. Soll ich mich heute am Handlauf festhalten oder nicht? Was bedeutet es, wenn mir jemand im Treppenhaus begegnet? Werde ich es schaffen, zuerst eine Stufe, dann zwei, dann drei auf einmal zu nehmen und danach wieder zwei, dann eine, dann zwei, dann drei, ohne aus der Reihe zu kommen? Mit welchem Fuss werde ich im Erdgeschoss ankommen? An manchen Tagen laufe ich rückwärts hinauf und dann denken die Menschen, ich bin gerade auf dem Weg nach unten.

Heute brauche ich meine Spiele nicht, heute sind meine Gedanken erfüllt von dem, was kommen wird, ein letzter Blick auf den Spiegel am Eingang: Ich zwinkere mir zu und finde, heute ausnehmend hübsch auszusehen. Die Augen sind nicht mehr so groß und rund wie früher, aber der Ausdruck ist doch derselbe, ich bin es, die durch sie blickt, egal, ob zwanzig oder zweiundvierzig. Oder nicht?

Was zunehmend schwieriger wird, ist es, Wiederholungen zu vermeiden bei den Reisen, wo am Allerwichtigsten ist, Neues zu sehen und zu entdecken. Wenn ich die gleiche Strecke ein ums andere Mal fahre, dann fällt die eine Reise mit der anderen irgendwann in eine zusammen – und dann sind die vier Wochen nicht länger als ein Monat, ja, verlaufen sogar Gefahr, zu zwei Wochen zu schrumpfen.

Obwohl es mir nicht auf die Landschaft, die an mir vorüberfliegt, ankommt. Aber allein die Tatsache, dass ich nach drei Malen schon wüsste, wann der Zug überall hält und welches die nächste Ortschaft sein wird, wo man aus- oder einsteigen kann, allein das, dieses Wissen, sei es auch nur unbewusst, würde mir einen Teil des Spaßes verderben.

Die Tageszeit, an der ich auf dem Bahnhof in meiner Heimatstadt abfahre, verschiebe ich jedes Jahr um zwei Stunden und dann hängt es davon ab, in welche Richtung der nächste Zug fährt, ob nach Osten oder nach Westen, und natürlich ist dieser Teil der Reise jedes Mal derselbe. Es ist der Vorspann, die Einleitung, die nur die Vorfreude wachsen lässt und in der ich mein Herzrasen mühsam besänftige.

Die nächste große Stadt ist schnell erreicht und dann wird es spannend: Wann fährt der nächste Zug in den Norden oder Süden? Welche Entfernung ist weit genug, um diese erste Nacht im Zug zu verbringen? Ab dann wird es leichter, jedes Mal gibt es immer mehr Möglichkeiten, in verschiedene Richtungen weiterzureisen; wie ein riesiges Fadengewirr multiplizieren sich die Wege –_manche Schnittstellen sind in Wirklichkeit Sterne, wo Osten, Westen, Süden und Norden und Nordnordost und Südsüdwest um meine Auswahl buhlen.

Ich liebe die alten Abteile, mit ihrer ganz spezifisch eigenen Atmosphäre, die wie weise Urgroßmütter mir Schatz und Schutz gewähren. In ihnen spielt sich mein Leben ab, dort atme und denke, höre und verstehe ich, sammle Menschen wie andere Briefmarken oder getrocknete Blumen.

Meine Schätze sind die Begegnungen mit anderen derselben Spezies, Mensch, die hier, in dieser unkonkreten Zwischenwelt, wahrhaftiger sind und sein können, als sie es normalerweise zulassen würden. Nicht alle, nein, natürlich nicht. Aber auch die, mit denen es keinen Austausch, keine Verbindung gibt, auch sie sind mir wertvoll und erfüllen mich, ohne ihr Wissen und noch weniger ihren Willen. 

Elsa



Nach zwei Tagen hatte ich mich erholt und war bereit, meine Reise fortzusetzen. Ich war früh am Bahnhof, hatte noch kurz einen Milchkaffee in einem netten Straßencafé getrunken und suchte mir auf der großen Anzeigentafel mein neues Ziel aus. Einer der nächsten Züge fuhr über Frankreich nach Spanien. Spanien hörte sich gut an. Ohne Eile begab ich mich zum Bahnsteig und war eine der Ersten, die in den Zug stieg. Ich suchte mir ein schönes Abteil aus, in der Mitte des Wagens gelegen, und verstaute Koffer und Handtasche, neugierig und gespannt auf meinen nächsten Reisegefährten.


Elsa stieg in Rom ein. Ich hatte selten schönere Hände, sanftere Gesichtszüge und ausdrucksvollere Augen gesehen. Aber natürlich ist möglich, dass mir das nur so vorkam, da ich durch ihre Kleidung nicht von den wichtigen Dingen abgelenkt, sondern meine Aufmerksamkeit geradezu angezogen wurde von den sich langsam reibenden Händen, die sich heiligen trockenen Waschungen unterzogen und dem unsicheren schüchternen Blick, der leicht und leise das Abteil nach möglichen Gefahren absuchte.

Wie glücklich war ich, dass ich ihre Prüfung bestand und sie mit einem leisen „buon giorno“ in der Ecke mir gegenüber Platz nahm. Warum nur hatte ich an der Universität als Wahlfach Spanisch statt Italienisch gewählt? Ob sie Spanisch sprach? Oder vielleicht Englisch?

Ich musste mit ihr sprechen, koste es, was es wolle; konnte mich nicht damit zufriedengeben, sie als stumme Begleiterin in meine Sammlung einzuordnen. Nein, sie sollte einen Ehrenplatz erhalten. Er stand ihr zu.

Nach den ersten zehn Minuten angespannter Aufmerksamkeit entspannte sie sich zusehends. Meine Bestrebungen, freundlich und unbefangen die wenigen Male, in denen sich unser Blick kreuzte, ein angedeutetes Lächeln in meine Mundwinkel zu zaubern, zeigten Wirkung.

Manchmal kam ich mir vor wie ein Jäger auf der Jagd nach Wild, die unterschiedlichen Waffen sorgsam prüfend, auf ihre Tauglichkeit, ihre Wirksamkeit, ihren Wert.

Womit fing ich dieses Reh, so scheu, so sanft und so erstrebenswert?

Doch nicht erlegen wollte ich es, nur mich ihm nähern, sein Leid und sein Lachen verstehen, die Welt einige Zeit, nur kurz, durch seine Augen sehen, mit ihm fühlen, und sein Lied erkennen.

Jeder Mensch singt sein Lied, vibriert in seiner spezifischen Melodie, geprägt von Genetik, Erziehung, astrologischer Bestimmung, Karma, Umwelt und Umfeld, vom Glauben und vom Glück. Und vom eigenen Willen, wie Münchhausen, der sich an den eigenen Haaren zog und sich dadurch selbst aus dem allergrößten Schlamassel befreite. Jede dieser Melodien ist es wert, gehört zu werden und trägt bei zu meiner Symphonie, mit allen Dissonanzen, Synkopen, allen Dur- und Mollvarianten, allen schrägen Akkorden und falschen Einsätzen.

Machte mich meine Sammelleidenschaft zum Vampir? Nützte ich die Gutgläubigkeit meiner Reisebegleiter aus, um mich von ihrem Leben zu ernähren?

Aber gab ich nicht jedem auch etwas mit auf den Weg? Verständnis, Freude, das Gefühl, einen der wertvollen Momente des Austauschs und der Kommunikation erlebt zu haben? Liebe?

Wer kennt nicht das Hochgefühl nach einem Gespräch mit einem Fremden, bei dem wir mehr wir selbst sein konnten, als im alltäglichen Leben zwischen Arbeitskollegen und Familie? In meiner Stadt habe ich meinen Platz, meine Rolle; jeder weiß, ich bin die Englischlehrerin der Oberstufe am einzigen Gymnasium vor Ort, bin die unverheiratete Frau, die mit dem Fahrrad in die Schule kommt und deren erklärte Hobbys vom Stricken über das Lösen von Bilderrätseln, die zum festen Repertoire meines Unterrichts zählen, bis zu Malerei und Musik reichen.

Einige Kollegen wissen, dass meine Eltern früh starben, meine einzige Schwester mit Mann und Kindern in England lebt. Vermutlich nehmen sie an, ich verbringe meine Ferien mit den Neffen in London. In Wirklichkeit sehe ich meine Schwester nur notgedrungen und so selten, wie es geht. Das letzte Mal bei der Beerdigung unserer Tante, der Schwester unseres Vaters, die uns nach dem frühen Tod der Eltern bei sich aufgenommen hatte. Sie hat sehr unter unserem Zerwürfnis gelitten und nie verstanden, was damals, vor vierzehn Jahren, geschehen war – und keine von uns hat es ihr jemals erzählt. Darin waren wir uns einig. Doch all dies ist mein Lied und tut nichts zur Sache, nicht im Moment. Wir waren bei Elsa, sind neugierig auf ihr Lied, auf ihr Leben und ihre Geschichte.

Ich beschloss, um meinem Reh näherzukommen, die Taktik anzuwenden, die am ehesten seiner Energie entsprach, auch wenn es von allen meinen möglichen Wegen der war, der mir am schwersten fiel. Ich würde warten.

Ich würde warten und sie, Elsa, neugierig auf mich machen und ihr Zeit lassen, um von sich aus, langsam die Hürden der Angst und Vorsicht zu überwinden, und so selbst den ersten Schritt zu unserem Begegnen zu wagen. Ich holte meine Wollknäuel aus der Tasche, ordnete achtsam das bereits Gestrickte und gab mir Mühe, mein Schmunzeln zu verbergen. In Gedanken spielte ich mit mir selbst um das richtige Erraten ihrer ersten an mich gerichteten Worte.

Das Strickzeug war mein lieber Begleiter, seit uralten Zeiten, seit die Mutter meine erste Strickliesel in die Schultüte gelegt hatte. Lange bunte Würstchen waren neugierig aus der Liesel gewachsen, zu herrlichen Untersetzern von der Mutter schneckenförmig aufgedreht und mit schnellen Stichen kunstfertig vernäht. Bald ersetzte ich die Strickliesel durch Nadeln; die Untersetzer wandelten sich in Schals, Pullover, Socken und Handschuhe.

Der Autounfall meiner Eltern hatte meinem bis dahin unbeschwerten Leben ein Ende gesetzt. Ich hatte meine Trauer und Angst in die Reihen gestrickt, zwischen die Maschen die unhörbaren Schluchzer, die Verzweiflung der heimatlosen, verlorenen Kinderseele, für immer aus dem Paradies verbannt.

Auch fühlte ich mich der Mutter beim Stricken näher,_die letzte spürbare Verbindung wurde wiederhergestellt: die Weichheit des Gestrickten, das ich mit Vorliebe an Wange und Lippen hielt, vergleichbar nur mit der sanften Berührung der streichelnden Hand meiner Mutter, die so wieder bei mir war.

Etwas an Elsa erinnerte mich an sie, vielleicht die Art, wie sie ihre Hände aneinanderrieb, oder die Form der Fingernägel, ich weiß es nicht. Ob sie stricken konnte?

Die Welt lässt sich in zwei große Lager aufteilen: die Strickenden und die, die es nicht tun – diese wiederum in eine Gruppe, die es gerne lernen wollen, aber zu faul sind, und die anderen, die viel zu ungeduldig sind, um dieses langsame Schaffen und Warten zu ertragen: Knopfdruck-Menschen, die daran gewöhnt sind, alles sofort, oder innerhalb kürzester Zeit zu erreichen, zu erhalten, zu leben. Sie würden niemals im Zug fahren, wenn sie fliegen könnten, niemals freiwillig länger als fünf Stunden schlafen, aus Angst, das Leben läuft ihnen davon.

Aber auf alle werden meine geübten und anmutigen Bewegungen, das Aufwickeln des Fadens, die ohne Mühe zusammenspielenden Stricknadeln, durch ihre rhythmische Gleichmäßigkeit, durch die ständig sich wiederholende Abfolge kleiner, gut einstudierter Handgriffe eine entspannende Wirkung haben.

„Wo gesungen wird, da setze dich ruhig nieder“, das Sprichwort der Großmutter leicht entfremdet: „Wer strickt, hat nichts Böses im Sinn.“ Da werden Vertrauen und Ruhe ausgestrahlt, Frieden, Gelassenheit. Auch das Weiche der Wolle färbt ab auf die Strickende – nicht zuletzt habe ich wunderschöne bunte Wolle ausgesucht.

Die Wirkung von Farbe sollte niemals unterschätzt werden. Ich verstricke keine braune oder schwarze Wolle, nein, erfrischend grüne, leuchtend gelbe und fröhlich rote Wollknäuel, am liebsten gemischt, mit Abstufungen verschiedener orange- und rosafarbener Streifen, Lila- und Blautöne, blauer als der Himmel in Italien, und Türkise, die mit dem Meer der Karibik auf den Werbeplakaten der Reisebüros wetteifern könnten. Gibt es etwas Berauschenderes, als die Symphonie der Farben, die ich zu meinen unbeschreiblichen Umhängen, Vorhängen und Decken wild und mutig zusammengeführt habe?

Eine Bewegung der schräg mir gegenübersitzenden Reisebegleiterin riss mich aus meinen Gedanken.

Elsa stand auf, holte ihre kleine Reisetasche aus dem Gepäckfach, stellte diese auf ihren Sitz und öffnete den Reißverschluss.

Ich traute kaum meinen Augen. Sie förderte ein beigefarbenes Wollknäuel mit einigen bereits gestrickten Reihen zutage, die Stricknadeln säuberlich in das Ganze gesteckt.

Das war besser als alle Worte, die ich mir vorgestellt hatte. Sie konnte nicht nur stricken, sie teilte sogar meine Freude daran und ein freundliches „Lei anche?“ (soweit reichte mein klägliches Italienisch gerade noch) unterstrich mein glückliches Lächeln.

„Si, me encanta tejer!“_

Oh, sie hatte spanisch gesprochen, ich war entzückt!

„Que lindos colores tiene su tejido, que esta haciendo?“

Sie schien auf einmal gar nicht mehr so schüchtern wie im ersten Moment. So erzählte ich ihr in meinem ziemlich akzeptablen Unispanisch, dass das ein Umhang, eine Art Poncho für den Winter werden sollte.

„Realmente me gustan mucho esos colores, Usted debe ser una persona muy alegre.“

„Si, puede ser, por lo general tengo buen humor y trato de ver el lado positivo de todo ... aunque .., no siempre me sale! Y Ud, que teje?“

„Ah, esto va ser una manta para mi cama, vivo en el convento de Santa Catalina en Sevilla. Fui a recibir la bendición del Santo Padre y ahora vuelvo a España.“

Es wäre sehr wünschenswert, dass du, lieber Leser, genügend Spanisch verstündest, um unserem Gespräch folgen zu können. Leider kann ich nicht davon ausgehen, und so bleibt mir nichts anderes übrig, als direkt zu übersetzen, was mein Erinnerungsvermögen von unserer Begegnung behalten hat.

„Ich stricke einen Überwurf für mein Bett, ich lebe im Kloster Santa Catalina, etwas außerhalb von Sevilla. Ich bin auf der Rückreise nach Spanien, jetzt, nachdem mich der Heilige Vater gesegnet hat.“

Unendlich viele Fragen bestürmten mich, und nur mühsam konnte ich mich beherrschen, nicht mit allen auf einmal herauszuplatzen.

Auch wenn meine Gefährtin erkannt hatte, wie harmlos ich war, ich wollte sie nicht erschrecken und durch nichts ihr Vertrauen missbrauchen oder ihre Offenheit brüskieren. Langsam und zart würde sie mir ihre Geschichte erzählen; ich fühlte es und würde alles dazu tun, ihr aufmerksam und mit aller Empathie zuzuhören.

„Wie interessant! Sie haben also den Papst persönlich kennengelernt? Ist er ein so bemerkenswerter Mensch, wie es den Anschein hat? Gestatten Sie, dass ich mich vorstelle, Marion Brandauer aus Deutschland.“

Ich streckte ihr meine rechte Hand entgegen. Ihr Handdruck war fest und weich zugleich, fast perfekt, falls es so etwas geben konnte.

„Ich bin Elsa Toledo, ich freue mich, Sie kennenzulernen.“

Die Übersetzung des encantada de conocerle ist im Deutschen nicht ganz nachvollziehbar; wieso freut sie sich, sie kennt mich doch noch gar nicht. In der Übersetzung klingt dieser Vertrauensvorschuss nach, der im Spanischen anstelle der deutschen Skepsis den noch Fremden, Unbekannten gewährt wird.

„O ja, der Papst ist ein beeindruckender Mensch. Ich bin so glücklich, dass ich ihn sehen konnte; stellen Sie sich vor, er hat in der Audienz mit allen Menschen persönlich gesprochen, hat sich für alle interessiert. Das Protokoll wurde völlig außer Acht gelassen. Ich kann immer noch nicht glauben, wie er verstand, was in mir vorging, wie er mich ansah, meine Hände in seine nahm, und mir sagte: „Schwester, ich sehe dich und ich möchte, dass du weißt, dass ich deinen Weg achte und bewundere. Er ist für dich bestimmt, es ist dein Weg.“

Die tiefe Bewunderung und Ehrfurcht, die ich ihren Worten entnahm, erfüllte mich fast mit etwas Neid. Nein, ich wollte unvoreingenommen ihr Glaubensbekenntnis weitergeben, auch wenn ich nicht im Geringsten vom Glauben dieser christlich-katholischen Welt überzeugt war. Das Gegenteil war der Fall. Meinen Namen Maria Helena hatte ich abgelegt. Maria, dem Rosenkranzkatholizismus der Mutter entsprungen, Helena, Auswahl des der Antike verbundenen Vaters, der als Lateinlehrer die erste Tochter nur zu gern mit der Schönsten des Altertums gleichgesetzt,_dabei aber völlig außer Acht gelassen hatte, dass dieselbe Auslöserin des Trojanischen Krieges war.

Ich hieß Marion Ellen, wollte nichts mit dieser grausamen Maria zu tun haben, die mir mit Gottes Willen meine Eltern entrissen hatte, und noch weniger mit der kalten Schönheit, die für Kriege verantwortlich zeigte.

Was hatte diese junge, ausnehmend ansehnliche Person dazu bewegt, Nonne zu werden? Die braun-beige Uniform, die nur ihr Gesicht unverhüllt und schutzlos der Außenwelt darbot, stand im krassen Kontrast zu der Leidenschaft, die ihre Worte unterstrichen hatte.

Unser Gestricktes wuchs Reihe um Reihe und begleitete aufmerksam unser Gespräch.

„Jetzt bin ich bereit, diesen wichtigen Schritt zu gehen. Falls ich irgendwelche Zweifel an meiner Entscheidung, in Klausur zu gehen, hatte, so sind sie jetzt gänzlich verschwunden.“ Ihre Augen leuchteten. 

Hoffentlich entnahm sie nicht meiner Mimik, wie sehr mich diese Aussage schockierte. Nicht nur, dass sich dieses junge Menschenkind, denn älter als Mitte zwanzig war Elsa auf keinen Fall, entschlossen hatte, ins Kloster zu gehen, nein, zu allem Überfluss wollte sie freiwillig allen weltlichen Freuden entsagen; sei es die Möglichkeit, mit anderen Menschen in Berührung zu kommen, ihre Familie wiederzusehen, ein Bad im Meer zu nehmen, andere Kulturen kennenzulernen, zu reisen. Endlos erschienen mir die Freuden und Genüsse, auf die sie verzichten wollte.

Niemals im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, Nonne zu sein. Vermutlich war es sogar eines der allerletzten Begriffe auf meiner imaginären Berufswunsch-Liste, nur zu überbieten von dem der Kloputzerin in einer Diskothek oder einer Tankstelle. Und von dem einer Köchin in einem Restaurant, die fünfundzwanzig verschiedene Gerichte gleichzeitig anrichten muss. Nein, Nonne stand definitiv an letzter Stelle!

In Wirklichkeit ist natürlich Beruf nicht mit Berufung zu verwechseln, etwas, das mir definitiv fehlte. Meinen Beruf mochte ich ganz gern, zugegebenermaßen langweilte ich mich aber von Jahr zu Jahr mehr. So sehr ich mich auch anstrengte, den Unterricht spannend und interessant zu gestalten, gelang mir dies doch immer weniger. Ich wollte Elsa verstehen, wollte nachvollziehen, wie sie zu dieser Entscheidung gelangt war. „Entschuldigung, dass ich Sie frage, was bedeutet das, in Klausur gehen?“

„Oh, das heißt, dass diese Reise nach Rom eine meiner letzten Begegnungen mit der Außenwelt war. Nächsten Monat werde ich das Kloster wechseln und in ein geschlossenes Kloster in Córdoba übersiedeln, in dem ich bleiben werde, bis der Herr mich zu sich ruft.“

„Sie meinen, bis zu Ihrem Tod? Und Sie dürfen nie wieder heraus?“

„Nein, nicht dürfen, wollen“, korrigierte sie mich sanft.

„Oh ...“ Jetzt war ich doch etwas sprachlos. Es fiel mir schwer, nicht sofort, aber warum, zu fragen. Und im nächsten Satz, zu versuchen, sie von ihrem verrückten, mir unverständlichen, unsinnigen Vorhaben abzubringen. So sehr ich versuchte, die eben noch zur Schau gestellte Strickgelassenheit zu bewahren, alles in mir wehrte sich gegen das in mir deutlich aufscheinende Bild von Elsa, eingesperrt im Käfig dieser irrigen Religion. „Elsa, Sie sind noch so jung, Verzeihen Sie mir bitte, dass ich so reagiere, es fällt mir sehr schwer, das zu verstehen. Haben Sie es sich wirklich gründlich überlegt?“_Meine Sorge, sie mit meinem Ausbruch, der in keiner Weise unserer eben erst aufkeimenden Beziehung entsprach, vor den Kopf gestoßen zu haben, erwies sich als unbegründet.

Sie lächelte mich freundlich an. „Sehen Sie, so fremd, wie Ihnen mein Leben erscheinen mag, so seltsam mag Ihres für mich sein. Glauben Sie an Gott?“

Auch ihre Frage stand in keinem Verhältnis zu der kurzen Zeit, seit unsere Wege parallel, zeit- und raumgleich verliefen. Nicht einmal mit der Tante, die mir und meiner Schwester die neue Heimat sein wollte, hatte ich über meinen Glauben bzw. besser ausgedrückt, meinen Unglauben gesprochen. Meine Antwort ließ einige Zeit auf sich warten. „Nein, um ehrlich zu sein, ich kann nicht glauben. Manchmal würde ich gerne, ich meine, es ist oft einfacher, alles in die Hände einer übergeordneten Macht zu legen und so weniger verantwortlich für das eigene Leben zu sein. Oh, verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen.“

Sie schüttelte leicht den Kopf. „Bitte sprechen Sie weiter, machen Sie sich keine Sorgen, es ist nur normal, dass wir anders denken. Aber ich freue mich sehr über dieses aufrichtige Gespräch. Wissen Sie, ich komme nur sehr selten mit andersdenkenden Menschen zusammen. Jetzt, wo ich bald nur noch im Kloster leben werde, genieße ich unsere Begegnung besonders. Was hätte sie für einen Sinn, wenn wir nicht offen und ehrlich unsere Gedanken teilten?“

So hatte sie mir gleichzeitig erlaubt, weitere meiner drängenden Fragen auszusprechen, als auch zu verstehen gegeben, dass sie diese beantworten wolle. Elsa war warmherzig und intelligent. Die nächste Frage brannte mir auf der Zunge.„Aber was sagt Ihre Familie dazu? Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dürfen Sie auch keinen Besuch empfangen, oder? Also ist es noch schlimmer als im Gefängnis.“ Der letzte Satz war mir herausgerutscht, entflutscht, bevor ich ihn schnell hatte hinunterschlucken können.

Elsa lachte! „Gefängnis? Für mich ist es so etwas wie das Vorparadies.“

„Limbo“ war ihr genaues Wort – ich habe vergeblich im Wörterbuch nach einem entsprechenden Begriff gesucht. Können Sie sich vorstellen, dass als Übersetzung Vorhölle angegeben war, was lustigerweise genau meiner Empfindung entsprach?

„Die einzige Familie, die ich habe, sind meine Gefährtinnen im Kloster. Ich kenne meine Eltern nicht; Schwester Olga hat mich vor dem Portal des Klosters gefunden, notdürftig in ein weißes Handtuch gewickelt, nur mit einem zierlichen, goldenen Kreuz als einzigen Hinweis auf meine Herkunft, das in einem kleinen Päckchen neben mir lag.“

Ich hörte gespannt zu und freute mich über ihr Vertrauen.

„Schwester Olga gab mir die Milchfläschchen (mamaderas), später die ersten Kartoffel- und Kürbispürees, sie nannte mich Elsa nach ihrer Mutter, und auch den Nachnamen habe ich von ihr. Sie war meine Mutter, begleitete meine ersten torkeligen Schritte, tröstete mich, wenn ich mir die Beine aufgeschürft hatte, weil ich wieder einmal im Innenhof, der mit unregelmäßigen Pflastersteinen ausgelegt war, gerannt und hingefallen war. In meiner Erinnerung waren meine Knie immer entweder blutig oder gerade mit einer Kruste aus Schorf, die sie, um mich zum Lachen zu bringen, Himbeere nannte. Ich liebe Himbeeren, wissen Sie!“

„Ich auch, alle Beeren: Erdbeeren, Heidelbeeren, Brombeeren, Johannisbeeren, Stachelbeeren.“ Da mir das spanische Wort dafür fehlte, beschrieb ich ihr so gut ich konnte diese für sie gänzlich unbekannte Frucht. „Aber am allerliebsten mag ich Himbeeren!“

Die Stricknadeln bewegten sich zum Rhythmus der Worte und Sätze, die Zeit blieb stehen und dehnte sich atemweit. Das genau war es, was mir diese Zugfahrten so lieb und wertvoll machten, diese magischen Momente der Kommunikation, der Begegnung. An das glaubte ich, nicht an einen weit entfernten, grausamen Gott. Doch zurück zu Elsa.

„Olga war mir Vater und Mutter zugleich, und wenn ich Albträume hatte, durfte ich sogar bei ihr im Bett schlafen.“ Sie schmunzelte. „Ich hatte oft Albträume.“

Ich lächelte mit ihr. „Sind Sie nicht in die Schule gegangen? Hat Olga Sie unterrichtet?“

„Nein, glücklicherweise ist dem Kloster Santa Catalina eine Schule angegliedert, die auch Mädchen aus der Stadt aufnahm. So hatte ich Freundinnen außerhalb meiner klösterlichen Welt, die ich ab und zu besuchte. Olga wollte unbedingt, dass ich so „normal“ wie möglich aufwuchs. Sie sehen ja, dass das nicht ganz geklappt hat.“

Jetzt lachten wir beide.

Sie strahlte eine ansteckende und entspannende Ruhe aus, mein Vergleich mit dem verschreckten Reh war alles andere als richtig. Wahrscheinlich war mein Erstaunen, eine Nonne von anmutiger Schönheit, gepaart mit erwartungsvollster Neugier genug gewesen, um sie vollständig zu verunsichern. Und ich hatte gedacht, freundlich und sanft zu wirken!

„Zu meiner Kommunion gab sie mir das goldene Kettchen, das sie seit meiner Ankunft in Santa Catalina für mich aufbewahrt hatte“, fuhr Elsa fort. „Das ist das Einzige, was mich daran erinnert, nicht ihr leibliches Kind zu sein. Und doch liebte ich sie mehr als mein Leben, mehr als das Kreuz an dem Kettchen, das mich an den Vater im Himmel erinnert, der mich führt und leitet.“ Bei diesen Worten öffnete sie vorsichtig den obersten Knopf ihrer hochgeschlossenen weißen Bluse und zog an dem nun sichtbaren Halsschmuck, bis ihre Finger das kleine Kreuz umschlossen. „Sehen Sie, ich trage es seit jenem Tag und danke von Herzen für dieses Geschenk.“

War Elsa nie auf die Idee, gekommen, ihre wahren Eltern zu suchen? Hatte sie nicht den Wunsch, zu erfahren, warum sie sie ausgesetzt und verlassen hatten? War keine Wut, kein Hass in ihr? Warum hatte sie die Vergangenheitsform gewählt, um von ihrer Liebe zu Schwester Olga zu erzählen? Was war geschehen?

Ich holte ein neues Wollknäuel aus meiner Tasche, machte einen doppelten Knoten an der Verbindungsstelle zum alten Faden, den ich später fachmännisch im Gestrickten verbergen würde, und begann mit der nächsten Reihe; lila, so lila wie die Veilchen, die mir die Tante zum Geburtstag neben meinen Teller auf den festlich gedeckten Tisch zu stellen gepflegt hatte. „Also haben Sie immer im Kloster gelebt?“ Ich wollte auf keinen Fall so plump und unsensibel sein, sie direkt auf die Tatsache anzusprechen, dass eben diese Eltern, die ihr die goldene Kette überlassen hatten, sie auf unverzeihliche Weise für immer verlassen hatten.

„Nein, leider nicht. Nach meinem Abitur schickte mich Schwester Olga in die Stadt. Ich sollte eine Lehre als Schneiderin machen, das Leben außerhalb meiner vertrauten Mauern kennenlernen. Sie wünschte sich nichts sehnsüchtiger, als mich irgendwann mit dem besten Mann verheiratet zu sehen, glücklich und umringt von einer Schar von Kindern.“ Ein Schatten überflog ihr Gesicht, das mit einem Mal nachdenklich und ernst wurde. „Ich habe es genau ein halbes Jahr ausgehalten.“ Sie schüttelte energisch den Kopf. „Dann bin ich wieder zurück in mein Zuhause. Die Welt dort draußen war falsch und laut, verlogen und grausam. Am Anfang versuchte ich noch, mich einzugewöhnen, suchte Entschuldigungen für alle mir fremden und unverständlichen Verhaltensweisen der Menschen. Ich sah Männer, die ihre Frauen anschrien, Frauen, die ihre Kinder schlugen, Kinder, die andere Kinder mit den Füßen traten und an den Haaren zogen. Ich sah junge Mädchen mit Miniröcken, die sich nicht erst bücken mussten, um ihre Unterwäsche zu zeigen, sah junge Burschen mit Hosen, die jeden Moment herunterfallen würden, so locker, wie sie auf den Hüften saßen. Ich sah Kinder, die an den Straßenecken bettelten, mit aufgeblähten Bäuchen und glasigen Augen, benebelt von Rauschgift oder Alkohol. Die Schneiderin, bei der ich lernte, war eine liebe und freundliche Person. Das Nähen mit der Maschine machte mir Spaß. Aus den nichtssagenden Stoffbahnen Jacken und Hosen, Kleider und Mäntel zu erschaffen, das war ganz nach meinem Geschmack. Aber in den Nächten sehnte ich mich nach der Ruhe von Santa Catalina. Sevilla schien nie zu schlafen, der Lärm der Autos, die Musik aus den Diskotheken, die Hupen und das Geschrei der sich streitenden Betrunkenen – all‘ mein Beten nützte nichts! Ich konnte und konnte nicht einschlafen, lag manchmal bis zwei Uhr morgens wach und musste doch um sechs Uhr schon wieder aufstehen.“

Gebannt hörte ich Elsas Schilderung zu. Wir hatten beide fast gleichzeitig aufgehört, zu stricken. Mir war auf einmal kalt, ich zog meine Strickjacke an und wartete auf die Fortsetzung ihrer Erzählung.

Aber sie blieb stumm.

Wir sahen durch das Zugfenster auf vorbeifliegende Landschaft.

Die Stille breitete sich immer weiter aus und füllte bald das ganze Abteil. Es gab keinen Raum mehr für Worte.

Beklemmend, dumpf, furchterregend und drückend war dieses Schweigen, es ließ keinen Zweifel an erlebtem Schrecken, an Verletzungen, die zu tief waren, um mitteilbar zu sein.

Auch wenn mich nach Elsas Wahrheit gelüstete, verstand ich ihre lautlosen Schreie nur zu gut. Fragen Sie nicht weiter, bitte nicht!

Sie waren den meinen verwandt. So sehr ich die geheimen Triebfedern der anderen erfahren und verstehen wollte, so verschlossen konnte ich sein, wenn es um die schrecklichen Wunden in meiner eigenen Seele ging. Deshalb blieb ich still, hielt unser Schweigen aus, das alles Zeitgefühl gesprengt hatte.

Hatte es zehn Minuten oder eine ganze Stunde gedauert?

Irgendwann bemerkte ich die Tränen, die Elsas Gesicht benetzten und nahm ihre Hand in meine. Erst dann wurde die Stille zu Ruhe, zu Frieden, zu Wärme und Trost. Ich war mir sicher, dass sie wusste, wie ähnlich ich fühlte, denn als sie wieder sprach, fing ich an zu weinen. Das war mir bei keiner meiner Begegnungen passiert!

„Es tut Ihnen immer noch weh?“, fragte sie mich leise. Fragte nicht was und wann, fragte weder wer noch warum.

Ihr Zartgefühl durchbrach meine Schutzwälle und berührte mich im Innersten. Zum ersten Mal seit vierzehn Jahren entließ ich meinen Schmerz aus seinem so sorgsam versteckten Gefängnis. Haltlos rollten die Tränen über mein Gesicht und die unterdrückten Schluchzer meines Herzens brachen unbeherrscht und laut, viel zu laut, aus mir hervor.

Ich heulte mich aus, bis kein Wasser mehr in mir war, kein Atem mehr da, um noch weiterem Stöhnen Klang zu geben. Ich fühlte mich ausgebrannt und leer.

Elsa reichte mir ihr Taschentuch. Als ich meine Wangen trocken wischte, wunderte ich mich, dass es, so weiß, wie es war, nicht seine Farbe verändert hatte. Ich hatte geblutet, die Tränen waren aus meinem verletzten Herz direkt in die Augen geflossen und von dort über meine Wangen an der Nase entlang bis zu den Mundwinkeln. Sie schmeckten salzig und süß, nach Blut. Blutleer, mein Herz, wie leicht sich das auf einmal anfühlte.

Elsa hatte mein Weinen nicht unterbrochen, hatte nicht versucht, mich zu beschwichtigen, hatte mit mir mein Leid ertragen und ausgehalten.

Jetzt erst strich sie mir sanft über die Haare und streichelte meinen Kopf. „Wenn Sie möchten, können Sie mir erzählen, was Sie so traurig macht. Aber wenn Sie es lieber für sich behalten möchten, verstehe ich das genauso.“