Titelbild
Titelbild

Mehr über unsere Autoren und Bücher:

www.piper.de

Für Mats Lukas

ISBN 978-3-492-96582-8

Juli 2017

© Piper Verlag GmbH, München 2017

Covergestaltung: Agentur Rothfos & Gabler, Hamburg

Covermotiv: ilyast/gettyimages

Datenkonvertierung: Kösel Media GmbH, Krugzell

Sämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben.

In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.

Anstelle eines Vorworts: Schwarzwälder Kirsch und das maximale Glück

Intrinsische und extrinsische Werte

Darf ich das?

Dieses Buch stellt sich den moralischen Fragen unserer Zeit, die jedermann »auf den Nägeln brennen«. Macht man sich schuldig, wenn man einfach dabei zuschaut, wie täglich unzählige Menschen verhungern? Muss der Hamster dem Kraftwerk weichen oder hat Naturschutz Vorrang vor Wohlstand? Darf man grüne Gentechnik einsetzen, um den Hunger in der Welt zu bekämpfen? Wäre es schlimm, ein Klon zu sein?

Was läuft in diesem Buch anders als in vielen andern, die auch diese dicken Bretter bohren?

Erstens soll dieses Buch auch unterhalten. Oder – geradeheraus gesagt: Es darf auch mal geschmunzelt werden. Auch wenn das in den heiligen Hallen der Philosophie höchst unüblich ist: Die Erfahrung als Hochschullehrer zeigt, dass sich junges Publikum mit Humor am besten gewinnen lässt. Und alle Didaktik beiseite: Dem Autor selbst bereitet es eine gewisse Freude, darüber zu spekulieren, dass Menschen, die als auf den Knien liegende Würmer gedacht werden, auf die Dauer keine wertvollen Sozialkontakte für den lieben Gott darstellen, sodass man sich ernstlich Sorgen um seine psychische Gesundheit machen muss; oder statistisch zu begründen, dass Flüchtlingsfeindlichkeit in Mecklenburg-Vorpommern absurd ist, weil Flüchtlinge dort seltener als Kolibris sind; oder festzustellen, dass die biblische Kritik an diversen Wirten, die Maria die Herberge an Weihnachten verweigerten, nur rekonstruierbar ist, wenn man Moral als Gegenteil von Egoismus versteht. Außerdem schaffen Scherze eine Distanz zum Gegenstand, die für den kühlen Kopf des Philosophen lebenswichtig ist. So kann man noch schmunzeln, statt nur noch zu heulen oder pathetisch zu predigen.

Zweitens werden die Probleme in diesem Buch nicht nur geschildert, sondern es gibt Antworten. Jede Fragestellung verdient eine möglichst originelle Lösung. Die Texte erschöpfen sich nicht in dem Versuch, aktuelle Probleme für jedermann verständlich zu beschreiben. Sie formulieren sogar Vorschläge für politische Regelungen. Diese Lösungen überschreiten manchmal die Grenzen des vermeintlich »politisch Korrekten« und entlarven dieses immer wieder als unbegründetes Tabu. Doch schon hier die Warnung: Dieses Buch wird parteiisch.

Ich will daher drittens für einen Standpunkt werben, der nicht gerade populär ist: für den ethischen Utilitarismus.1 Den wie bitte, was? Die Ansicht, dass die Moral von Handlungen danach bewertet werden soll, wie viel Wohlergehen sie in die Welt bringen bzw. ob sie dieses Wohlergehen maximieren.

Utilitarismus
Eine auf Francis Hutcheson (1694 – 1746) und Jeremy Bentham (1748 – 1832) zurückgehende Lehre. Maßstab des moralisch Richtigen soll das Gute sein, das eine Handlung in die Welt bringt. Das besteht in einer Maximierung des Glücks (Wohlergehens) aller von einer Handlung Betroffenen durch diese Handlung. Der Utilitarismus ist
a)Universell: Alle Betroffenen sind gleich wichtig, jeder zählt als einer, keiner mehr als einer.
b)Wertmonistisch: Nur die Maximierung des Glücks ist an sich wertvoll, andere Werte dienen nur als Mittel dafür.
Aggregativ: Das Glück wird zwischen Personen verglichen und aufaddiert zu einer Gesamtsumme, die für jede Handlungsalternative über alle von ihr Betroffenen hinweg ermittelt wird. Man wählt danach die glücksmaximierende Alternative.

Der Utilitarismus ist eine besondere Form der Interessenethik, d. h., er baut darauf auf, ob Interessen oder Wünsche der Menschen erfüllt werden bzw. fußt letztlich auf ihrem dadurch erzeugten Wohlergehen.

Den Menschen soll es so gut wie möglich gehen, ganz logisch oder? Na ja, das heißt, dass nichts anderes außer der Menge an Wohlergehen zählt. Und mehr davon ist immer besser als weniger, das meiste Wohlergehen ist am besten. Diese Logik wird zwingend, wenn man Wohlergehen nicht mit Schwarzwälder Kirschtorte kurzschließt, von der man auch Mal genug haben kann. Wohlergehen oder Glück sollte als das verstanden werden, was auch immer Sie zufrieden macht, was zeitweilig natürlich mit Schwarzwälder Kirsch, zeitweilig auch mit dem Schnaps danach identisch sein kann. Nicht die Verteilung des Wohlergehens (Gerechtigkeit), nicht die Würde des Einzelnen, nicht die Freiheit des Einzelnen sind die finale Richtschnur. Allerdings spielen all diese Werte auch im Utilitarismus eine Rolle, denn sie sind wie Tortenstücke auf dem Weg zum Glück des Kuchenfreundes, d. h. Mittel, um viel Wohlergehen zu erzeugen. Wenn man den Menschen möglichst viel Freiheit lässt, werden sie z. B. meist glückliche Zeitgenossen. Verbote erzeugen Frust. Insofern zählt Freiheit schon, aber eben nicht als »Selbstzweck«, sondern als Mittel, um Glück zu schaffen. Alles andere wäre auch bedenklich, denn Freiheit oder Gerechtigkeit sind dafür gemacht, dass Menschen sich mit ihnen besser fühlen. Wenn sich niemand durch Gerechtigkeit besser fühlen würde, worin bestünde dann ihr Wert?

Interessenethik
Darunter wird eine Ethik verstanden, deren Normen durch Interessen von Individuen begründet werden, weil diesen Interessen und daher auch den Trägern von Interessen, Wert zugemessen wird. Manche Interessenethiker halten jedes Interesse für wertvoll, andere nur informierte Interessen, die nicht auf Irrtümern, Launen etc. basieren. Einige Interessenethiken weisen Interessen Wert zu, weil sie sie als Indikator für Wohlergehen sehen (dem schließe ich mich an), andere sehen ihren Wert als völlig eigenständig an.
Zwei Arten von Werten
intrinsischer Wert: X ist an sich wertvoll. X leitet seinen Wert nicht aus etwas anderem her wie etwa Folgen oder Begleitumständen von Ereignissen.
extrinsischer/instrumenteller Wert: Y bezieht seinen ganzen Wert daraus, Mittel für die Umsetzung von Z zu sein. Z ist selbst ein intrinsischer Wert oder leitet sich aus einem solchen her.

Einige Denker folgern daraus, Freiheit zähle im Utilitarismus also nichts und Glück alles. Das ist ein Glas-halb-leer-halb-voll-Fall. Richtig ist: Im Utilitarismus gibt es nur einen intrinsischen Wert, und zwar die Menge an Wohlergehen, das eine Handlung erzeugt, alle anderen Werte sind extrinsisch. Und genauso geht das in diesem Buch weiter: Ich beziehe Position, versuche aber dabei auch allgemein in Grundbegriffe der Ethik einzuführen – mein viertes Ziel. Diese Grundbegriffe werden in Kästchen verpackt und man kann sie unabhängig vom Rest konsumieren, je nach Appetit. So ergibt sich eine kleine »Einführung in die Ethik«, die nicht Theorie um der Theorie willen behandelt, sondern die sich um Antworten auf konkrete Fragen bemüht und die eine hoffentlich plausible Position begründen will. Damit soll die sich ergebende Einführung keine Einführung um ihrer selbst willen sein, sondern es geht dabei immer um die Sachthemen, die uns alle bewegen. Man kann aber jedes Kapitel isoliert verstehen und mit einem Stück Schwarzwälder Kirsch garniert genießen.

Der Plan

Ethiken, die z. B. die Natur, Gott oder Gerechtigkeit und Würde zur Richtschnur nehmen, wird hier eine Absage erteilt. Während das erste Kapitel jeder Interessenethik überhaupt erst einmal den Boden bereitet, indem es den lieben Gott vom Thron stürzt bzw. feststellt, dass dieser Thron nie wirklich besetzt war, dient das zweite Kapitel in erster Linie dazu, den Begriff der »Moral« einzuführen. Die Kapitel 3 und 4 sollen zeigen, wie der Utilitarismus funktioniert. Dann soll ein Ausflug beginnen, an dessen Ende wir nicht nur das schöne Wetter und Kaffee genossen, sondern den Utilitarismus ein Stück weit begründet haben. Im Kapitel 5 wird zuvor darüber nachgedacht, ob und wieweit (objektive) Moralbegründungen überhaupt möglich sind. Die Kapitel 6 bis 10 verwenden Hirnschmalz darauf, den Utilitarismus gegen alternative Prinzipien wie Natürlichkeit, Würde oder Gerechtigkeit zu verteidigen, wobei das nichts für schwache Nerven bzw. Menschen mit Einschlafproblemen ist.

Während im ersten Teil des Buches die wichtigsten Begriffe und Konzepte eingeführt werden und der Utilitarismus wenigstens grob begründet wird, wird dieser in den folgenden Teilen dann angewendet. Die verschiedenen Antworten, die wir dabei auf aktuelle Fragen erhalten, wie beispielsweise die nach der Lösung des Flüchtlingsproblems, fügen sich zusammen. Es entsteht ein Gesamtbild, das belegen soll, dass die Ethik attraktiv ist, die hinter ihm steht. Insofern liegt mir die Begründung weiterhin am Herzen, denn wenn die Ergebnisse der Anwendung prima sind, spricht das für die zugrundeliegende Theorie. Die Leser sollen außerdem »lernen«, wie ein Utilitarist schwierige Fragen analysiert. Vielleicht gelingt es den Lesern so, schon zu Beginn eines Kapitels die Antwort aus utilitaristischer Perspektive zu ahnen. So sollen sie selbst in die Lage versetzt werden, auf die kniffligen Fragen des Lebens Antworten zu formulieren und sich einen eigenen Kompass gegen moralische Verirrungen zu basteln.

Dabei wird sicher mancher Vertreter von Gegenpositionen aufschreien. Aber das Buch verfolgt insbesondere die Absicht, Menschen für Ethik zu interessieren, statt auf akademische Ausgewogenheit zu setzen. Angesprochen sind auch Menschen, die im scheinbar ewigen Kreislauf des Wenn und Aber keine Antworten gefunden haben – auch wenn sich für den ein oder anderen so manches wie ein empörender Nadelstich ins Sitzfleisch anfühlen mag. Es wird zugunsten der Lesbarkeit bewusst darauf verzichtet, jede These mit Fußnoten zu belegen. Die zitierte philosophische Literatur ist stets exemplarisch ausgewählt und fasst gleichzeitig die besten Lesetipps zur Vertiefung der jeweiligen Kapitel zusammen. Damit wird der Leser dazu eingeladen, mal auf eine Tasse Kaffee und ein Stück Schwarzwälder Kirsch im Elfenbeinturm vorbeizukommen. Da hat man einen schönen Überblick über das Umland …

Ich danke Vuko Andric, Christian Wendelborn, Julius Schälike, Tatjana Visak, Ruth Hinz, Marcel Mertz und Christian Haller für kritische Diskussionen und Angela Gsell und Carina Heer für ihr engagiertes Lektorat.

I. Welche Moral ist richtig? – Auf dem Weg zu einer utilitaristischen Interessenethik

1. Kapitel
Braucht die Moral Gott oder braucht Gott mehr Moral?

Über die Grundlagen einer religiösen Ethik

Die Biographie von Alexej Peschkow alias Maxim Gorki (dem Sohn des Kunsttischlers Maxim Peschkow) verläuft so dramatisch, dass die Geschichte aus der Feder eines auf Effekte versessenen Autors stammen könnte: Als der kleine Alexej die Cholera bekommt, steckt sich sein Vater bei der Krankenwache an und stirbt wenige Tage später. Über diesen Verlust kommt die Familie nicht hinweg, die Mutter verlässt die Kinder, die fortan bei den Großeltern aufwachsen.2

Auf jeden Schicksalsschlag im Leben Gorkis folgt ein noch schlimmerer. Der Großvater foltert die Kinder mit sadistischen Strafen und verliert seinen Besitz; Alexej muss sich alleine durchschlagen, indem er Vögel fängt, Knochen und Alteisen verkauft. Sein Bruder stirbt, seine Mutter stirbt, der Großvater wirft ihn aus dem Haus. Solche Geschichten schreiben aber eben nicht nur drittklassige Drehbuchautoren, sondern hier war das Leben der Autor. Wo ist Gott dabei? Das Problem bewegt die Menschen seit Jahrtausenden, und es hat sich herausgestellt: Gottes eigentliche Achillesferse ist das Theodizeeproblem – die Frage, wie man Gott angesichts des Leidens in der Welt rechtfertigen kann. Dieses Problem bietet gute Gründe dafür, nicht von der Existenz eines »lieben Gottes« auszugehen. Dann erübrigt sich auch eine religiöse, d. h. für unseren Kulturkreis insbesondere eine christliche Ethik.

Theodizeeproblem
Problem der Rechtfertigung Gottes angesichts des Übels in der Welt. Es lässt sich wie folgt zusammenfassen:
1.Gott ist allmächtig (… und kann Übel verhindern).
2.Gott ist allwissend (… und weiß um das Übel).
3.Gott ist allgütig (… und will Übel verhindern).
Ergo:
Es gibt kein Übel. ↔ aber: Übel existiert.

Wie kann man noch an Gott glauben, wenn man mit eigenen Augen das Leid und die Ungerechtigkeit in der Welt erblickt? Noch sind uns allen die Bilder aus Fukushima präsent, wo Erdbeben, Tsunami und Atomkatastrophe wüteten. Wie kann Gott das Übel in der Welt zulassen, wenn es ihn gibt und er uns liebt? Wie lassen sich Gottes angebliche Allmacht, Allwissenheit und Allgüte mit der Existenz des Leids in der Welt vereinbaren? Das wirft die Frage nach der Moral Gottes auf. Wenn es ihn gibt, ist er dann moralisch? Wäre nicht der Weg in den Atheismus überzeugender, statt einen bösen Gott anzunehmen? Manche behelfen sich, indem sie unterstellen, Gott tue einfach gar nichts. D. h., er nimmt keinen Anteil an seiner Schöpfung, genauso wenig wie der Gärtner an den Würmern im Garten, wenn er Blumenbeete anlegt. Aber ist nicht auch das böse? Und die religiösen Moralbegründungen würden dann natürlich scheitern, die voraussetzen, dass es einen moralischen Gott gibt. Da die religiösen Moralen häufig die Hauptgegner jedweder Interessenethik sind, will ich mich mit ihren Grundlagen beschäftigen. Die Frage nach der Existenz eines moralischen Gottes und die Frage nach der richtigen Moral sind direkt miteinander verbunden. Eine Interessenethik, die das höchste Gut im Wohlergehen findet, also in menschlichen oder auch tierischen Interessen, kann nicht gerechtfertigt werden, wenn eigentlich nur Gottes Wille und Wohlergehen (also Gottes Interessen) zählen.

Um das Theodizeeproblem loszuwerden, haben die Theisten, die Gott verteidigen wollen, genau drei Möglichkeiten:

1.Die Verteidigung: Man findet einen Weg, den auf den ersten Blick bestehenden Widerspruch zwischen den Aussagen aufzulösen, dass Gott allmächtig, allwissend, allgütig ist und dass Übel auf der Erde existiert.

2.Der Rückzug: Man lässt eine oder mehrere der gerade genannten Eigenschaften Gottes fallen.

3.Der Gegenangriff: Man verbietet die ganze Frage nach einer Rechtfertigung Gottes als Anmaßung.

Alle drei Strategien scheitern.

Das Übel – als Tor zum Guten oder als Preis der Freiheit

Manche Theologen meinen auch jenseits von Fieberträumen, dass das Übel »konstruktiv« sei: Das Übel sei zwar theoretisch durch Gott vermeidbar, aber es wäre schlecht, wenn Gott diese Möglichkeit genutzt hätte. Das Übel sei kein ungewollter, aber leider doch geschehener Lapsus des Schöpfungsaktes. Es sei vielmehr ein bewusst und willentlich von Gott eingesetztes Instrument, das den Menschen den Stoß in die richtige Richtung geben und sie zum Guten befähigen solle. Machen wir uns das klar: Gott hat demnach Hitler nicht an einer Blutvergiftung sterben lassen, die dieser sich als kleiner Junge beim Schnitzen eines Esels für die Krippe zuzog, weil Gott den Nationalsozialismus wollte, damit wir uns moralisch mit ihm auseinandersetzen können. Dieser Gedanke ist allerdings so – na sagen wir groß –, dass er einem die Sprache verschlägt. In dieser Logik weitergedacht: Gott hat die Naturkatastrophen genauso wie etwa den durch die Menschen verursachten Zweiten Weltkrieg geschehen lassen, damit wir z. B. Tugenden wie Verantwortung, Solidarität, Mitgefühl, Tapferkeit und Ausdauer ausbilden können.

Der australische Philosoph John Mackie kritisiert das und unterscheidet dazu zwei Sorten von Übeln3: Die absorbierten und die nicht absorbierten. Absorbierte Übel sind solche, die durch einen höheren Zweck aufgewogen werden, den sie ermöglichen. So etwa der Fall, wenn Erdbeben zwischenmenschliche Solidarität und Hilfsbereitschaft erzeugen, sodass sie letztlich gar keine Übel mehr sind, da sie diese Tugenden erschaffen. Allerdings gibt es zahllose Übel und Leiden, die nicht absorbiert werden. Erst einmal gibt es eine Menge an Übel, von dem der direkt von ihm Betroffene nichts lernen kann. Beispielsweise kann der Betroffene im Koma liegen oder durch eine Behinderung denkunfähig sein, sodass er aus seinem Zustand keine Konsequenzen für sein Leben ziehen kann. Das gilt umso mehr für einen verfrühten Tod. Wieso wurde das kleine Kind beim Erdbeben getötet und nicht nur verstümmelt, um lebenslänglich davon zu profitieren? Das heißt, dass für den jeweils Betroffenen häufig kein Nutzen aus seinem Leid resultiert. Die These vom konstruktiven Leiden müsste zeigen, dass das Leiden für jeden einzelnen Fall und für jede einzelne Person einen Gewinn birgt, sonst wäre Gott nicht gerecht. Das ist schlichter Wahnsinn.

Die einzig verbleibende Möglichkeit, diese These zu verteidigen, besteht darin, sie instrumentalistisch zu verstehen. Das heißt, man behauptet, dass das Leiden eines Betroffenen ihm selbst manchmal keinerlei Nutzen verschafft, aber dass andere dadurch Vorteile und Lernerfolge verbuchen können. Der leidende Mensch wird zum Bilderbuch für das Heil anderer Menschen degradiert. Wenn man das verteidigt, gibt man die Vorstellung eines gerechten Gottes auf. Ein gerechter Gott wird all seine Geschöpfe nach gleichen Prinzipien behandeln und nicht Unschuldige für andere opfern. Diese Gleichheit schafft auch sehr viel Glück, denn nichts erregt die Gemüter so, wie ungerecht behandelt zu werden: Bei jedem Kindergeburtstag gibt es Tränen, wenn der Kuchen ungleich geschnitten ist. Selbst wenn man den Instrumentalismus jedoch tolerieren würde, wäre die Strategie zur Verteidigung des konstruktiven Übels erfolglos. Es gibt sehr viel Leid, das für niemanden Nutzen bringt. Alles Leid, das nicht bekannt wird, fällt in diese Kategorie.

Fazit: Die These des konstruktiven Leidens erweist sich als völlig unzureichend.

Eine andere, ja vielleicht die bekannteste Verteidigung Gottes besagt: Das aus bösen Handlungen (etwa Krieg oder Verbrechen) resultierende Leid ist gerechtfertigt, weil nur dann ein freier Wille des Menschen existieren kann, wenn die Möglichkeit besteht, Leid durch böse Handlungen zu verursachen. Der freie Wille ist demnach ein derartig hohes Gut, dass er all die Übel wert ist, die ihn möglich machen. Nur wenn wir zwischen Gut und Böse wählen und beides in die Tat umsetzen können, sind wir wirklich frei, so das Argument. Gott wäre damit von der Verantwortung für das moralische Übel, das aus menschlichen Handlungen resultiert, befreit, denn wir Menschen selbst sind schuld daran.

Aber auch so funktioniert es nicht. Erstens: So wird das natürliche Übel nicht erklärt, das nicht aus moralischem Versagen, sondern aus Erdbeben, Sturmfluten usw. stammt. Warum lässt Gott dieses Übel zu, an dem Menschen keine Schuld haben? Einige Theisten holen an dieser Stelle den staubigsten Ladenhüter, den sie haben, heraus: die Erbsünde, also eine alte Schuld, für die auch heute noch alle Menschen bestraft werden. Diese archaische Form der Sippenhaft ist aber selbst ein Problem, da hoffnungslos ungerecht. Kein Wort mehr dazu.

Zweitens: Alle Menschen leiden in irgendeiner Form unter den schlechten Handlungen anderer Menschen. Aber etwa geistig behinderte Menschen haben keinen freien Willen als »Belohnung« für dieses erlittene Leiden erhalten. Für sie wird ihr Leiden nicht durch einen freien Willen kompensiert. Ist Gott gerecht, wenn er das zulässt?

Drittens: Oft wird das Gute gewählt, aber es entwickelt sich Böses daraus (so waren die Absichten des Sozialismus gut, aber die Folgen in vielen Teilen der Welt schrecklich, nicht weil man das frei gewollt hätte, sondern weil die Welt so unberechenbar ist. Warum ist sie das aber?).

Viertens: Wenn wir – aus unerklärlichen Gründen – so beschaffen sind, dass das Böse gebraucht wird, müssten wir es dafür doch nicht ausführen. Um frei zu sein, würde es ausreichen, wenn wir so viel mehr Vernunft hätten, das Böse im Kopf zu simulieren und dann frei zu verwerfen, ehe wir es tun. Sind nicht böse Taten, sondern allenfalls böse Gedanken für Freiheit nötig? Gott müsste uns dann mit mehr Vernunft und Empathie ausgestattet haben. Wäre das kein Eingriff in unsere Freiheit? Nein, denn Gott hat uns sowieso mit einem gewissen Grad an Vernunft und Empathie ausgestattet, als er uns in die Welt setzte, und dieser seit Adam und Eva etablierte Grad beeinträchtigt unsere Freiheit offenbar nicht. Wenn Gott einen höheren Grad dieser sympathischen Tugenden gewählt hätte, der uns nicht unausweichlich zum Guten zwingt, was wäre dann so grundlegend anders gewesen?

Fünftens: Ob es überhaupt einen freien Willen gibt, ist umstritten. Viele Neurowissenschaftler und Philosophen äußern hier Zweifel. So kann man durch die Stimulation bestimmter Hirnareale eine Handlung einer Versuchsperson erzeugen, etwa den Griff nach einem Glas. Diese Handlung wird von der Versuchsperson registriert, aber nicht etwa als etwas, das ihr aufgezwungen wird. Die Person meint nämlich, sie habe auf eigenen freien Entschluss hin zum Glas gegriffen. Während man also denkt, man selbst habe gehandelt, war man in Wahrheit durch körperliche Ursachen gesteuert. Der leicht gruselige Gedanke liegt nahe, dass das nicht nur im Versuch, sondern auch im echten Leben der Fall sein könnte. Warum? Weil uns die Naturwissenschaften zeigen, dass alles in der Welt verursacht (»determiniert«) oder rein zufällig ist. In der Natur wirken Gesetze und bislang ist keine »Lücke« in diesen gefunden worden, in welcher ein nicht verursachter menschlicher Wille Platz hätte. Aber genau das widerspricht dem, was wir häufig unter Freiheit oder genauer Willensfreiheit verstehen: die Fähigkeit, etwas nur aus uns heraus zu beginnen, erste Beweger in einer Handlungskette zu sein. Das naturwissenschaftliche Weltbild widerspricht damit unserer Selbsterfahrung direkt. Wir empfinden uns als freie Wesen, die eine Wahl haben, sonst wäre es ja auch nichts mit dem Anspruch, »Krone der Schöpfung« zu sein. Natürlich hätten wir uns heute beim Frühstück entscheiden können, das Ei auch wegzulassen, keine Frage, und deshalb tragen wir die Krone! Hier scheint die Kluft zwischen Alltagserfahrung und Wissenschaft unüberbrückbar.

Und nicht nur der Determinismus bereitet uns Kopfschmerzen unter der Krone: In unserer Welt ist nach Meinung der Naturwissenschaftler entweder alles determiniert oder es geschieht zufällig. In beiden Fällen ist Willensfreiheit ein Problem. Wenn alles auf der Welt durch Ursachen bedingt ist, dann ist auch unser »freier« Wille verursacht und mit einer Willensfreiheit jenseits der Naturkausalität sieht es schlecht aus. Läuft die Natur jedoch nicht so deterministisch ab, was auch manche Quantenphysiker meinen, hilft das genauso wenig weiter: Dann würde nämlich der Zufall die Welt regieren. Aber freie Handlungen verstehen wir nicht so, dass sie zufällig entstehen, sondern so, dass wir selbst sie verursachen. Mein freier Entschluss bedingt, ob ich das Frühstücksei esse oder nicht. Entstünden meine Entscheidungen zufällig, also unbeeinflusst von meinen sie verursachenden Wünschen und Überlegungen, wieso wären es dann noch meine Entscheidungen? Sie wären dann nicht das Produkt meiner Erwägungen und stünden in keiner anderen Verbindung mit mir, als eventuell zufällig in meinem Kopf entstanden zu sein. Ob die Welt also deterministisch ist oder nicht, für die Willensfreiheit bleibt auf den ersten Blick kein Platz, was für das Theodizeeproblem fatal wäre: Wir zahlen täglich brav unseren Preis der Freiheit, wenn uns andere den Liegeplatz in der Sonne wegnehmen. Wir meinen, unseren Lohn dafür einzustreichen, und schreiben Gedichte über unsere Freiheit – aber genau betrachtet ist das alles nur ein Schwindel, der Lohn ist ein Phantom und unsere Gedichte sind Papierverschwendung.

Kann man den gordischen Knoten des Freiheitsproblems zerschlagen? Viele Philosophen meinen gemeinsam mit David Hume: Ja!4

Das Freiheitsproblem
Freiheit/Definitionen:
Handlungsfreiheit: Keinen äußeren Zwängen unterliegen und so nach den eigenen Entschlüssen handeln können.
Willensfreiheit: Sich selbst bestimmen können, Freiheit von inneren Zwängen, Entschlüsse selbst bilden können.
Das Problem:
Selbstverständnis: Mein Handeln kann allein aus meinem Willensentschluss (der sich nicht durch Zufall oder Gene erklärt) entspringen. Ich hätte auch ganz anders handeln können.
Naturwissenschaft: Ursachen gehen auf andere Ursachen zurück. Es gibt keine Verursachung aus dem Nichts heraus, Verursachung ist Umwandlung schon existierender Energie, die nicht neu erzeugt werden kann (Energieerhaltungssatz). Falls es nicht verursachte Prozesse gibt, verlaufen sie rein zufällig.
Philosophische Positionen dazu:
Kompatibilisten (David Hume 1711 – 1776):
Determinismus und Freiheit sind kompatibel.
a)Deterministischer Kompatibilismus: In einer nicht determinierten Welt gäbe es keine Freiheit. Nur wenn eine Handlung durch meine Wünsche etc. verursacht wurde, ist sie meine. Je nachdem, ob die Welt als indeterministisch oder deterministisch eingestuft wird, gibt es dann Freiheit oder nicht.
b)Einfacher Kompatibilismus: Freiheit ist mit Determinismus und Indeterminismus vereinbar.
Inkompatibilisten:
Determinismus und Freiheit sind nicht kompatibel:
a)Libertarier (Immanuel Kant 1724 – 1804): Handlungen entspringen im naturwissenschaftlichen Sinn unverursacht aus reinem Willensentschluss, und der Determinismus ist falsch.
b)Impossibilisten: Libertarisches Freiheitsverständnis ist richtig, aber solche Freiheit gibt es nicht, da sie weder mit Determinismus noch mit völligem Indeterminismus kompatibel ist und die Naturwissenschaft die Welt richtig beschreibt.

Der philosophische Königsweg wird durch ein pompöses und silbenreiches Fremdwort bezeichnet: »Kompatibilismus«.

Determinismus und Freiheit sollen kompatibel sein, sich also nicht mehr ausschließen, wenn man genauer hinschaut, was wir unter »Freiheit« verstehen. Für Freiheit sei es genug, nach den eigenen Entschlüssen handeln zu können. Oder kritisch gewendet: Wir müssen den Begriff der »Freiheit« zur bloßen Handlungsfreiheit abschwächen, wenn wir ihn weiterverwenden wollen. Willensfreiheit »im starken Sinne«, die eine Lücke in der Naturkausalität annimmt, wird dann nicht mehr vertreten.5 Aber gerade von diesem starken Freiheitsbegriff geht der Theismus aus, der behauptet, ich hätte auch für das Gute entscheiden können, als ich für das Böse entschieden habe. Also: Es ist strittig, ob die Freiheitsunterstellung stimmt, von welcher der Theist ausgeht.

Sechstens: Gott hat einen freien Willen, und er tut das Böse nicht. Gott muss erstens einen freien Willen haben, denn sonst würde er unter irgendeinem Zwang stehen, was mit der These seiner Allmacht nicht vereinbar wäre. Gott darf zweitens nichts Böses tun, ansonsten wäre er nicht allgütig. Also ist ein freier Wille ohne böse Taten möglich. Wieso hat Gott diese Möglichkeit nicht für die Menschen fruchtbar gemacht, wenn er das Übel so verabscheut? Eine häufige Antwort darauf lautet: Weil er keine anderen Götter schaffen wollte. Aber warum nicht? Abhängige Geschöpfe, die auf den Knien liegen und bitten sollen, sind keine auf die Dauer wertvollen Sozialkontakte. Gespräche auf Augenhöhe sollten viel interessanter für Gott sein. Welcher Vater hat ein Interesse, auf Dauer abhängige und ungleichwertige Kinder zu haben? Offenbar nur ein kranker Vater, sodass man sich ernstlich Sorgen um Gottes psychische Gesundheit machen muss, falls er existiert. Ist die ganze tradierte Geschichte vom lieben Gott und seinen ihn anbetenden Kindern nicht moralisch anrüchig und narzisstisch?

Fazit: Die berühmteste Verteidigung scheitert und alle weniger berühmten lassen sich im Rahmen der Strategie, die ich »Verteidigung« genannt habe, ebenfalls nicht halten.

Ein ohnmächtiger Gott als Ausweg?

Viele Theologen wissen das und glauben stattdessen: Gott konnte unsere Welt einfach nicht wesentlich besser erschaffen, als sie ist. Er ist nicht allmächtig, das Schlaraffenland war zu viel für ihn. Gott hatte lediglich die Wahl, Menschen mit all ihren Fehlern und Vorzügen zu erschaffen oder gar nicht. Allerdings sind die Folgen dieser Rückzugsstrategie für den Gläubigen verheerend. Ein Glaube an Gott hat nur dann einen praktischen Sinn für die meisten Gläubigen, wenn Gott eine Person ist, welche die einzelnen Menschen kennt und eine persönliche Beziehung zu ihnen unterhält. Nur so macht es Sinn, zu behaupten, dass Gott den Gläubigen liebt und ihm durch seine Liebe einen Lebenssinn gibt. Gott muss zudem seine Gebete erhören können und die Möglichkeit haben, ihm das ewige Leben zu gewähren. Das sind die elementaren Fähigkeiten Gottes, die den Glauben für die Gläubigen begründen. Vieles davon kann ein Gott mit beschränkter Allmacht nicht mehr. Ohne diese Fähigkeiten wird Gott wieder zum Gärtner, der sich seinen Würmern gegenüber gleichgültig verhält. Im Fachjargon sind wir beim Deismus angekommen, der zwar eine Existenz Gottes anerkennt, allerdings nicht an dessen Wirken in der Schöpfung glaubt. Allenfalls kann man mit dem evangelischen Theologen Jürgen Moltmann darauf bestehen, dass der liebe Gott ohnmächtig und quasi ans Kreuz gefesselt mit uns leidet. Das mag uns trösten, aber dass der Gärtner zum Umgraben gezwungen ist und jeden Wurm höchst individuell bedauert, schafft zwar einen Moment der Wärme, aber dann ist’s mit dem Wurm auch schon vorbei …

Vor allem stellt sich besonders eine Frage: Wie machtlos müsste Gott sein, um dem Theodizeeproblem zu entgehen? Hätte Gott die Macht, konkret ins Weltgeschehen einzugreifen, so wäre dieses Problem nicht gelöst. Wir würden weiter die Frage stellen können, wieso Gott Hitler nicht an einer Blutvergiftung sterben ließ. Wenn eine eingeschränkte göttliche Allmacht das Problem lösen soll, dann nur, wenn sie radikal eingeschränkt wurde. Für all die Einzelfälle, die wir nicht mit Gottes Güte vereinbaren können, muss Machtlosigkeit die Erklärung bieten. So bleibt zum Schluss ein Gott übrig, der offensichtlich sogar weniger Macht besitzt als wir Menschen. Wir können jedenfalls in zahlreichen Einzelfällen eingreifen. Demzufolge wird Gott vonseiten mancher Theologen auch bescheinigt, dass er nicht einmal die Macht habe, eine Gewehrkugel von ihrem Kurs abzubringen. Aber das ist nicht mehr der donnernde Weltenschöpfer der Bibel, zu dem die Menschen jahrhundertelang voller Hoffnung gebetet haben. Der Gott der Bibel hatte die Macht, den Bittenden zu helfen und ihnen das ewige Leben zu geben. Letzteres ist zweifelsohne ein größeres Kunststückchen als eine Kugel abzulenken. Was nützt es folglich, das Theodizeeproblem zu lösen, aber Gott dabei zu verlieren?

Theodizee – eine verbotene Frage?

Der allmächtige Gott kann und darf nicht zum Gegenstand einer menschlichen »Gerichtsverhandlung« gemacht werden, meinen die Theisten, die zum Gegenangriff ansetzen. Er sei den menschlichen Maßstäben immer schon entzogen, seine Güte sei nicht die unsere. Wenn aber Gottes Güte etwas ganz anderes ist als das, was wir unter Güte verstehen, was für einen Sinn hat es dann, den Begriff der »Güte« noch zu gebrauchen? Das ist nichts anderes, als zu sagen: Wenn Gott einen Kreis zeichnet, ist das für uns ein Dreieck. Wenn Gott nicht »in unserem Sinne« gütig ist, dann ist er es überhaupt nicht. Sonst wäre es vorstellbar, dass ein nach unserer Begrifflichkeit sadistisches Handeln für Gott »gütig« wäre, weil sein Maßstab für Güte nicht der unsere ist. Alles, was Gott tut oder tun könnte, wäre demnach mit seiner Allgüte verträglich und das wäre doch ein bisschen empörend.

Darüber hinaus weist diese Strategie die Vernunft als Maßstab in Sachen Theodizee zurück. Genau diese Vernunft haben wir aber gerade gegen die fragliche Position angewendet. Das wird von ihren Vertretern jedoch als illegitim verurteilt. Die dritte Strategie stellt demnach einfach ein Frageverbot in den Raum. Das ist nicht gerade zeitgemäß. Eigentlich haben wir solche Dogmen auf dem Müllhaufen der Weltgeschichte entsorgt. Ein Atheist deutet dieses Manöver wie folgt: Weil der Glaube einer vernünftigen Kritik an seiner Achillesferse nicht standhalten kann, zieht er sich dogmatisch hinter die Grenzen der Vernunft zurück. Für den Atheisten ist nun ein Werturteil gefordert. Wenn man die Kritik schätzt, kann man sie nicht einfach suspendieren. Immerhin ist neben dem naturwissenschaftlichen Fortschritt auch die Befreiung aus autoritärer Herrschaft ein Verdienst des kritischen, demokratischen Denkens. Es ist keine folgenlose Handlung, die Kritik zu verbieten und dem Dogma Vorrang zu geben. Immerhin war dies die Grundeinstellung der Inquisition des Mittelalters und der frühen Neuzeit! Hier treffen zwei Weltbilder aufeinander: Mittelalter oder Moderne? Man muss sich zwischen diesen Weltbildern entscheiden, und diese Entscheidung hat beträchtliche Folgen. Nicht zuletzt weil es eine Illusion ist, dass dieselben Menschen, denen auf der einen Seite das kritische Denken verboten wird, auf der anderen Seite Stützen einer aufgeklärten Gesellschaft sein können. Daher fordern auch viele Theologen wie Hans Küng: »Kein blinder, sondern ein verantwortbarer Glaube: Der Mensch soll nicht geistig vergewaltigt, sondern mit Gründen überzeugt werden, damit er eine verantwortete Glaubensentscheidung fällen kann.«6

Folgt man dennoch dem »Gegenangriff«, dann muss man das eigene Denken auf die Stufe der Inquisition zurückstellen (was, so behaupte ich, gar nicht funktioniert, wenn man es bewusst tut). Oder man muss schlichtweg akzeptieren: Wenn es Gott gibt, dann ist er ein Gott, dem die Menschen bestenfalls völlig gleichgültig sind oder der ihnen schlimmstenfalls Böses will. An einem gleichgültigen Gott werden wir unsere Moral aber ebenso wenig ausrichten können wie an einem bösen. Für die Ethik verliert Gott damit jede Autorität, wenn wir überhaupt noch daran festhalten wollen, dass es ihn gibt.

Aber »Woher kommt die Welt, wenn nicht von Gott?«. Viele Menschen glauben nicht an die Zufälle, denen die Physik ihr Entstehen zuweist. Allerdings: Letztlich ist ein ewiger Gott genauso unvorstellbar wie ein ewiger Zyklus von Universen. Wir können bei beiden immer wieder die Frage »Und woher kommt das?« stellen und uns ab einem gewissen Punkt eine Antwort nicht mehr vorstellen. Hier sind Gottesglaube und Physik gleichermaßen unvorstellbar. Und selbst wenn es einen Gott braucht, um zu erklären, wie die Welt entstanden ist, sagt das nichts darüber aus, dass dieser Gott auch moralisch ist. Ein bloßer Schöpfergott könnte auch ein böser Dämon sein. Und erst ein moralischer Gott hat Relevanz für unsere Lebenspraxis, erst er könnte sich wohlwollend um uns kümmern.

Fazit: Unsere Untersuchung zeigt, ein moralischer Gott existiert offenbar nicht und damit wird die Gottesfrage uninteressant für unsere Praxis. Die religiöse Ethik, die unsere Alltagsmoral an vielen Stellen entscheidend mitbestimmt, ist dann ebenfalls nicht zu rechtfertigen, was auch kein gutes Licht auf eben diese Elemente der Alltagsmoral wirft. Diese Moral setzt sich ja aus christlichen Gedanken, die unter den Einfluss einiger Ideen der Aufklärung geraten sind, zusammen. Kernbestände wie die »Heiligkeit des Lebens« wurden nahtlos aus dem Christentum übernommen und werden nicht umsonst von theologisch beeinflussten Denkern wie Albert Schweitzer ausgearbeitet.

Alltags-/Common-Sense-Moral
Global, kulturell oder schichtspezifisch weit verbreitete moralische Überzeugungen, die den Anschein erwecken, zeitlos und universell gültig zu sein. Sie sind stattdessen beeinflusst durch Religion, Schichtzugehörigkeit, kulturelle Identität, Lebensraum etc. Der Grad der Verbreitung ist meist nur geschätzt, nicht empirisch erforscht. Sie sind de facto starkem Wandel unterworfen: In der Sexualmoral im viktorianischen England galt Masturbation als so schlecht, dass sie sogar als Todesursache in Krankenakten vorkommt. Etwas, das heute unvorstellbar ist.
Gleichwohl gibt es auch einige Intuitionen (d. h. ohne Rechtfertigung als wahr unterstellte Meinungen, meist auf Gefühlen basierend) aus der Alltagsmoral, die zum Kernbestand der Moral gehören, etwa dass alle Menschen in der Moral zählen, dass vielen Menschen zu helfen wichtiger ist als wenigen, dass Leid schlecht ist.