Mami – 1879 – Wir haben es geschafft, kleine Angelika

Mami
– 1879–

Wir haben es geschafft, kleine Angelika

Für ein Kind ist die Welt wieder schön

Claudia Torwegge

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-946-7

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»Können Sie denn nicht ein bißchen besser auf Ihre Tochter aufpassen? Ich habe sie nun schon zweimal dabei erwischt, wie sie über meinen Zaun geklettert ist!«

Die Stimme der alten Frau überschlug sich fast vor Zorn. Sie drohte dem kleinen Mädchen, das sich mit angstvoll aufgerissenden Augen eng an seine Mutter preßte, mit ihrem Krückstock.

»Wenn ich dich noch einmal erwische, dann – ja, dann setzt es was, das verspreche ich dir, mein kleines Fräulein.«

Franziska Hansen legte mit einer beschützenden Geste den Arm um ihre Tochter. Sie spürte wie die Kleine zitterte, und selbst ihr flößte die jähzornige alte Frau Furcht ein.

»Entschuldigen Sie, Frau Akularius, es soll nie wieder vorkommen«, sagte sie so ruhig wie sie konnte, obwohl sie innerlich vor Empörung bebte. Die alte Frau trat einen Schritt näher auf sie zu, und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. Franziska wich unwillkürlich zurück.

»Sie wohnen noch nicht lang hier, nicht wahr?« fragte sie mit ihrer brüchigen Stimme.

»Nein, noch nicht lange«, brachte sie heraus. Sie umfaßte die Hand der Kleinen fester und wandte sich zum Gehen. »Komm, Angelika, wir gehen nach Hause.«

»Ja, ja, gehen Sie nur, gehen Sie nur«, maulte die Alte. Sie war enttäuscht, daß die junge Frau sich auf keine Unterhaltung einließ. Zu gerne hätte sie sie ausgefragt und ihre Neugierde gestillt. Diese neu hinzugezogenen Nachbarn beschäftigten sie schon, seitdem sie die junge Frau mit ihrem Kind vor einigen Wochen das erste Mal in ihrer Umgebung gesehen hatte.

Franziska ging mit ihrer Tochter davon, ohne sich noch einmal umzudrehen. Noch im Weggehen hörte sie die gemurmelten Verwünschungen der alten Frau und spürte, wie sich Angelika mit ihrer kleinen Hand fester an ihre klammerte.

»Warum tust du das aber auch, Angelika?« fragte sie mit leichtem Vorwurf, als sie außer Hörweite der Alten waren. »Warum kletterst du über Frau Akularius’ Zaun? Du weißt doch, wie böse sie wird, wenn man sie stört. Und außerdem tut man das wirklich nicht. Das solltest du inzwischen auch wissen. Schließlich bist du ja kein Baby mehr.«

Sie erwartete keine Antwort von ihrer eingeschüchterten Tochter. Hatte sie es nicht schwer genug, mit all den Veränderungen in ihrem jungen Leben fertig zu werden? Kein Wunder, daß sie auf dumme Ideen kam. Sie wohnten erst seit kurzem in diesem kleinen Vorort und hatten beide Mühe genug, sich in dieses neue, für sie ungewohnte Leben einzugewöhnen. Eine fremde Umgebung, eine neue Wohnung, ungewohnte Menschen – und das alles nur, weil sie sich von Rüdiger, Angelikas Vater, getrennt hatte.

»Weißt du, Mami, es – es war eine Mutprobe«, flüsterte Angelika. Franziska blieb abrupt stehen und sah ihre Tochter verblüfft an.

»Wie bitte?« fragte sie, weil sie glaubte, nicht recht verstanden zu haben.

»Ja, Mami, eine Mutprobe«, bestätigte die Kleine ernsthaft und sah sich verstohlen um, ob die schreckliche Frau Akularius immer noch dastand, und ihnen mit verkniffender Miene nachschaute. Zum Glück war die Straße leer, die alte Frau war inzwischen in ihr Haus zurückgegangen. Es war von draußen von der Straße aus kaum auszumachen. Der Garten war verwildert, dichte dornige Büsche und hohe Hecken verwehrten den Einblick, und das kleine Haus war von Heckenrosen und Efeu umrankt.

»Eine Mutprobe?«

Franziska sah mit gerunzelter Stirn auf ihre Tochter hinab.

»Was soll das denn nun wieder heißen? Eine Mutprobe? Wer – in aller Welt – verlangt denn so etwas?«

Angelika scharrte verlegen mit der Fußspitze auf den Pflastersteinen des Gehweges.

»Darf ich nicht sagen. Es ist geheim«, antwortete sie gepreßt.

»So, es ist geheim, und du darfst nichts sagen«, wiederholte Franziska ärgerlich. »Aber das dich die alte Frau Akularius mit ihrem Geschimpfe und ihren Drohungen fast zu Tode ängstigt, das ist wohl in Ordnung. Was hättest du getan, wenn ich eben nicht zufällig bei dir und du ganz alleine gewesen wärst?«

Entsetzen stand in Angelikas Augen, und auch Franziska konnte sich eines Schauders nicht erwehren, wenn sie daran dachte, was die alte Frau mit ihren Drohungen in einer Kinderseele anrichten könnte. In letzter Zeit hatte Angelika sowieso des öfteren in der Nacht Alpträume, aus denen sie schreiend aufwachte, und es dauerte immer eine ganze Weile, bis es Franziska gelang, sie wieder zu beruhigen.

»Also, raus mit der Sprache! Wer verlangt eine so abscheuliche Mutprobe von dir?«

»Sebastian, natürlich auch der Benni und der Alexander«, brachte Angelika widerstrebend heraus.

Angelika senkte den Kopf.

»Damit sie mich in ihren Geheimbund aufnehmen«, gestand sie. »Eigentlich dürfen Mädchen da nicht rein. Nur Jungen. Aber sie haben gesagt, wenn ich dreimal zu der Akularius in den Garten klettere – über den Zaun oder über die Mauer – dann darf ich zu ihrer Bande dazugehören.«

»So.« war alles was Franziska dazu sagte, aber insgeheim nahm sie sich vor, sich diese Burschen einmal vorzuknöpfen und auch mit der Lehrerin darüber zu sprechen.

»Du sagts aber nicht, daß ich es dir verraten habe!« flehte Angelika, die anscheinend die Gedanken ihrer Mutter erriet. »Sonst gilt alles nicht und ich darf nie, nie zu der Bande gehören!«

»Das muß ich mir noch sehr gut überlegen«, gab Franziska zurück. »Darüber muß ich wirklich erst mal nachdenken.«

»Mama, bitte, nein, tu’s nicht«, beschwor Angelika ihre Mutter, aber die gab keine Antwort mehr, sondern kramte in ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel. Sie schloß die Haustür auf und hielt sie einladend offen.

»Komm rein, Kind, ich mach uns jetzt was Gutes zu essen«, sagte sie freundlich und übersah Angelikas flehenden Blick. Sie ging die Treppe hinauf in das obere Stockwerk gleich unterm Dach und stellte den Korb mit ihren Einkäufen auf den Tisch der kleinen Küche. Sorgfältig begann sie ihn auszuräumen und die Sachen im Kühlschrank zu verstauen.

»Mama, bitte, bitte! Versprich es mir, daß du keinem einzigen Menschen etwas sagst«, versuchte Angelika es noch einmal, aber Franziska schüttelte abwehrend den Kopf.

»Nicht jetzt, Kind, nicht jetzt«, sagte sie in bestimmtem Ton. Angelika schlurfte hinaus und warf ihre Jacke unordentlich über das Treppengeländer.

Man darf Erwachsenden einfach nichts verraten, dachte sie verdrießlich. Sie können einfach nichts für sich behalten und wenn es noch so geheim ist!

*

Die blonde junge Frau, die – bekleidet mit einem knappen Bikini – im Liegestuhl auf der Terrasse der eleganten Villa saß, ließ die buntbebilderte Zeitung sinken, in der sie geblättert hatte. Ihr Blick schweifte über den gepflegten Rasen bis hinunter zum Seeufer. Ein schnittiges Motorboot und daneben ein kleiner Kahn lagen am Bootssteg vertäut, und weiter draußen auf dem See war ein Segelboot zu sehen. Schön ist es hier, dachte sie. Berauschend schön. Ich habe wirklich ein sagenhaftes Glück gehabt, daß ich den Mann, dem das alles

hier gehört, kennengelernt habe.

Sie lächelte in sich hinein.

»Er hat mir gleich gefallen, der liebe Rüdiger. Ich habe mit ihm geflirtet, habe ihn umgarnt und nicht mehr losgelassen. Aus einem kleinen Flirt wurde Liebe«, sagte sie leise zu sich selbst, denn es war niemand da, der sie hätte hören können. »Und jetzt lebe ich hier glücklich und zufrieden in seinem schönen Haus – und er liest mir jeden Wunsch von den Augen ab…«

Sie rekelte sich behaglich in ihrem Liegestuhl und griff dann nach dem Drink, der auf einem kleinen Tischchen neben ihr stand.

Eine dunkelhaarige Frau in einem langen, weichfließenden Strandkleid kam langsam vom Seeufer hoch über den Rasen herbei und winkte ihr lässig zu. Sie trug ein Badetuch um den Arm und eine Flasche mit Sonnenöl in der Hand.

»Na, wie war es im Wasser, Vicky?« fragte die andere. Die Frau in dem Strandkleid schüttelte lachend den Kopf.

»Ich bin wasserscheu, Lena«, meinte sie. »Ich lag einfach nur in der Sonne und habe mich vom Wind fächeln lassen. Und du?«

Lena reckte sich, und Vicky musterte neidlos den gertenschlanken Körper der jungen Frau.

»Nun, du hast mich ja vorhin gesehen. Ein paar Runden Wasserski, ein wenig schwimmen…«

»Ein wenig schwimmen nennst du das! Das waren mindestes drei Kilometer, die du hinausgeschwommen bist! Ich hatte schon Sorgen, du kämst nicht mehr zurück!«

»Ich – und nicht mehr zurück!« rief Lena aus. Sie stand aus ihrem Liegestuhl auf und band sich ein buntes Seidentuch um ihre Hüften. Ihr braungebrannter Körper war schlank und an den richtigen Stellen weiblich gerundet. »Ich brauche eben Sport und Aktivität. Das Herumsitzen und Faulenzen ist nichts für mich, ich brauche den Ausgleich. Rüdiger hat es gern, daß ich so sportlich bin. Er ist ja selber ein ausgezeichneter Schwimmer und Wassersportler. Morgen gehen wir zusammen segeln – egal, wie das Wetter ist. Mir macht eine flotte Brise nichts aus und ihm erst recht nicht.«

Vicky zündete sich eine Zigarette an und betrachtete Lena nachdenklich durch den aufsteigenden Rauch.

Sie ist klug, diese Lena, dachte sie. Sie zeigte sich ihm ständig von ihrer besten Seite und imponierte ihm mit ihren sportlichen Leistungen. Sie weiß genau, daß ein Mann wie Rüdiger eine sportliche aktive Frau schätzt und bewundert. Sie weiß auch, daß sie sehr gut aussieht und ist selbstbewußt genug, um sich von einem erfolgreichen und sehr selbstsicheren Mann wie Rüdiger nicht unterbuttern zu lassen.

»Ich bin wahnsinnig glücklich mit Rüdiger«, sagte Lena und schaute verträumt über den See. »Er ist der Mann, auf den ich gewartet, der Mann, von dem ich immer geträumt habe.«

»Das glaube ich dir gern«, meinte Vicky, und es klang ein klein bißchen boshaft. »So einen Mann wie Rüdiger gibt es aber auch nicht alle Tage.«

»Ganz recht«, konterte Lena, die die kleine Spitze wohl gemerkt hatte. »Und deshalb muß man ihn auch festhalten. Man sollte ihn auch tunlichst nicht alleine lassen, die Konkurrenz ist groß.«

Sie lachte und strich sich dann eine blonde Haarsträhne aus der Stirn.

»Er hat es gern, wenn ich ihn auf seinen Geschäftsreisen begleite. Das nächste Mal fahre ich auch wieder mit. Er reist nicht gern alleine, und mir macht es Spaß. Außerdem haben wir dann mehr voneinander.«

Das Reisen in die Metropolen der Welt, das mondäne Leben in eleganten Hotels, all der Kitzel und die Aufregung, fremde Städte und ständig Neues zu sehen, gefiel ihr. Obendrein war Rüdiger auf Reisen äußerst großzügig. Es machte ihm Vergnügen, sie in ausgezeichnete Restaurants, in intime Bars auszuführen und sie in schicken, teuren Boutiquen auszustaffieren oder ihr ausgefallenen Schmuck zu kaufen. Sie brauchte nur einen Wunsch zu äußern – und schon war er erfüllt.

»Ja, ja, du bist ein kluges Mädchen«, meinte Vicky, und Lena konnte nicht sagen, ob es nun abfällig oder anerkennend gemeint war.

»Ich weiß«, sagte sie nur und knotete ihr seidenes Strandtuch fester um sich.

Ja, sie weiß genau, was sie will, diese Lena, dachte Vicky. Sie weiß aber auch, daß man einen attraktiven Mann wie Rüdiger nicht allein lassen darf – nicht zu Hause und ganz besonders nicht auf seinen ausgedehnten und häufigen Geschäftsreisen in alle Welt. Und das war – ihrer Meinung nach – das ganze Unglück von Franziska. Früher, bevor die kleine Angelika geboren wurde, ist sie ständig mit ihm gereist, war immer an seiner Seite. Das war auch gut so, denn Rüdiger hatte die Angewohnheit, immer etwas zu viel zu trinken. Besonders zu vorgerückter Stunde verlor er schnell die Kontrolle über das, was er an Alkohol vertragen konnte. Mit Geschick und Diplomatie wußte sie dann einen Weg zu finden, um ihn aus den diversen Bars, die er gern besuchte, heraus – und in ihr Hotelzimmer zu locken.

Doch als dann das Kind auf der Welt war, blieb sie mit der Kleinen zu Hause. Sie wollte das Kind nicht fremden Leuten überlassen – und Rüdiger reiste eben allein. Daß er nicht lange allein blieb, daß es immer eine Gelegenheit gab, mit einer hübschen Frau anzubändeln, das war bei Rüdiger vorauszusehen. Er nahm alles mit, was sich ihm bot – und Franziska war die Betrogene, die davon keine Ahnung hatte.