Die Zauberinsel

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„Na – nu kimm do man rut, min Jung!“ brüllte Kapitän Eschler mit seiner Donnerstimme zwischen die im Laderaum der Brigg „Marie“ aufgestapelten Kisten und Ballen hinein, indem er das Licht seiner Laterne über die gerade noch sichtbaren Beine des blinden Passagiers hingleiten ließ, den der Steuermann vorhin bei einem Revisionsgange durch das Schiff entdeckt hatte.

Doch die Beine, um die der rötliche Lichtschein spielte, wurden jetzt nur noch näher an den Leib herangezogen, und ihr Besitzer schien keinerlei Neigung zu haben, sein Versteck zu verlassen, in dem er es nun schon Wochen ausgehalten hatte, denn so lange war es her, seit die Brigg aus dem Hafen von Hamburg mit einer gemischten Ladung für Pernambuco in Brasilien abgefahren war.

Hinter dem Kapitän und dem Steuermann drängten sich einige Matrosen neugierig zusammen. Und einer von diesen sagte jetzt lachend:

„Käpt’n, hei (er) bruck ne andre Inlodung – son por Eimer Woter.“

Eschler, einem Mann in den besten Jahren mit einem blonden Vollbart und blauen, gutmütigen Augen, die nur zuweilen recht streng blicken konnten, schien dieses feuchte Mittel jedoch nicht zu gefallen.

„Jungs, räumt die Fracht weg, dann hebben wir ihn“, meinte er kurz. „Und hebben wir ihn erst, so kriegt hei das Tauend’ zu schmecken, so wahr ich Friedrich Eschler heiße!“

Die Aussicht auf diese etwas handgreifliche Begrüßung schien den blinden Passagier davon zu überzeugen, daß es am ratsamsten wäre, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Langsam kroch er jetzt, mit den Beinen zuerst, aus seinem Schlupfwinkel hervor und stand nun scheu und ängstlich vor den Seeleuten, die ihn mit lebhaftem Interesse musterten.

Ein langaufgeschossener, ärmlich gekleideter Junge war’s mit krankhaft bleichem Gesicht. Um den Mund mit den schmalen Lippen lagerte ein scharf ausgeprägter Zug von Trotz und Verbitterung, und in dem Blick war bei aller Furcht vor den Folgen seiner heimlichen Fahrt doch etwas wie ein stilles Aufbegehren gegen die angedrohte Züchtigung zu lesen.

„An Deck mit dem seltenen Vogel!“ befahl der Kapitän jetzt und verließ den Laderaum. Und hinter ihm stolperten als Gefolge der Steuermann und die Matrosen, die den Jungen in die Mitte genommen hatten, die schmalen Schiffstreppen empor. Oben auf dem Hinterdeck angelangt, wollte Eschler den blinden Fahrgast sofort ins Verhör nehmen. Aber dieser war durch den wochenlangen Aufenthalt in dem dumpfen, finstern Loch derart entkräftet, daß er hier an der frischen Luft ganz plötzlich ohnmächtig zusammenbrach.

„Kein Wunder!“ knurrte Eschler schon halb mitleidig. „Der Bengel mot (muß) jo de ganze Tid (Zeit) getrocknete Plumen und rohen Reis gefreten hebben. Bringt ihn ins Logis (Mannschaftskajüte)! Und wenn hei wedder zu sich gekommen is, findt sich das Weitere.“

Ein kleines, blondes Mädelchen von vielleicht acht Jahren drängte sich da durch den Kreis der Matrosen hindurch und haschte nach des Kapitäns brauner Hand.

„Vater, bitte, bitte, laß den armen Knaben, der sicher recht krank ist, doch in die leere Kammer neben der meinen tragen“, bat sie mit ihrem hellen Kinderstimmchen. „Ich will ihn pflegen, bis er gesund ist. Und dann soll er mit mir spielen. Der Peter, unser Schiffsjunge, ist ein garstiger Bursche und spielt nie mit mir. Bitte, Vater, tu’s doch! Die Mama, die jetzt oben im Himmel ist, hätte sicherlich auch für ihn gebeten.“

Eschler strich zärtlich über den blonden Lockenkopf seines einzigen Kindes hin, das er auf dessen heißes Flehen jetzt zum ersten Mal mit auf eine Seereise genommen hatte. Die durch sein über alles geliebtes Lottchen wachgerufene Erinnerung an die vor einem Jahre verstorbene Gattin gab bei ihm den Ausschlag. Und so wurde Heinrich Marauke wirklich in der Kammer untergebracht. Das Tauende fand keine Arbeit bei ihm. Im Gegenteil – als Kapitän Eschler erst des armen Jungen Lebensgeschichte gehört hatte, beschloß er, auch weiter für den aufgeweckten Knaben, der schon nach drei Tagen sich vollkommen erholt hatte, zu sorgen. –

Heinrich Marauke war nach dem Tode seiner in ärmlichen Verhältnissen lebenden Eltern zu einer entfernten Verwandten in Pflege gegeben worden. Dort wuchs er auf, ohne je ein freundliches, liebes Wort zu hören. Schläge und rohe Schimpfworte waren die einzigen Erziehungsmittel, die ein hartherziges Weib an ihm versuchte. Alle guten Keime mußten hierdurch in dem heranwachsenden Kinde erstickt werden. Dann hatte er vor etwa einem halben Jahre, als seine Pflegemutter ihn abermals in brutalster Weise züchtigte, sich zur Wehr gesetzt und in einem Zustande von sinnlosem Zorn der Frau den Arm zerkratzt. Die Folge war, daß er einer Fürsorgeerziehungsanstalt übergeben wurde, wo er sich jedoch nur noch unglücklicher fühlte und schließlich entfloh. Zu Fuß wanderte er nach Hamburg und schlüpfte hier in einem unbewachten Augenblick in den Laderaum der segelfertig im Hafen liegenden Brigg „Marie“, wo er sich zwischen den Kisten und Ballen verbarg und sich von den Sachen nährte, die in einigen der Stückgüter des Schiffes enthalten waren. Nur des Nachts schlich er zuweilen an Deck und verschaffte sich aus der Kombüse (Küche) das nötige Trinkwasser. – – Bereits eine Woche nach seiner Entdeckung durch den Steuermann war er der allgemeine Liebling an Bord. Überall machte er sich nützlich, und zu jeder Arbeit war er zu gebrauchen. Ausgestattet mit einem trotz der entbehrungsreichen Jugend recht kräftigen und geschmeidigen Körper, besaß er außerdem eine selten schnelle Auffassungsgabe und viel praktischen Sinn. Bescheiden in seinem Auftreten und dankbar für jede geringe Freundlichkeit, bezeigte er Kapitän Eschler gegenüber eine geradezu rührende Anhänglichkeit, die besonders in seiner steten Fürsorge für dessen Töchterlein zum Ausdruck kam. Die beiden Kinder hatten sich bald miteinander angefreundet, und die kleine Lotte konnte sich kaum einen prächtigeren Spielgefährten denken als ihren „Heini“, wie sie Heinrich nach ihrem Geschmack umgetauft hatte.

Die Brigg war bisher vom Wetter außerordentlich begünstigt worden. Erst als man den Äquator passiert hatte, traten starke Nebel und Windstille auf, die es dem Kapitän tagelang unmöglich machten, die Lage seines Schiffes, das durch die Meeresströmungen trotz des fehlenden Windes weitergetrieben wurde, näher zu bestimmen. Am fünften dieser halbdunklen Tage, an denen die Brigg ständig von dichten, wallenden Nebelschleiern umgeben war, fiel dann das Barometer so plötzlich, daß der Kapitän mit dem Herannahen eines gefährlichen Sturmes rechnete und alle Vorkehrungen treffen ließ, um den Elementen mit Erfolg trotzen zu können. Nachmittags gegen fünf Uhr heulten die ersten Windstöße über die See hin, der Nebel zerflatterte und die „Marie“ legte sich vor den ersten Vorboten des Orkanes mit prall gefüllten Sturmsegeln auf die Seite, um sich aber sofort wieder aufzurichten und wie ein angesporntes Rennpferd durch die schnell höher und höher werdenden Wogen dahinzuschießen. Schwarzes Gewölk stand am Himmel, und die Dunkelheit nahm von Minute zu Minute zu. Regenschauer prasselten herab, wie man sie in solcher Stärke nur in den Tropen erlebt. Aber die Brigg, ein erst vor wenigen Jahren auf einer Hamburger Werft erbautes Schiff, hielt sich vorzüglich. Drei Stunden währte das Unwetter nun schon, und Kapitän Eschler hoffte bestimmt, daß der Sturm bald etwas nachlassen werde. Wirklich nahm die Kraft der Windstöße langsam ab. Die Matrosen, die bisher alle Hände voll zu tun gehabt hatten, atmeten erleichtert auf. Leider zu früh …! Wieder kam eine wahre Sintflut vom Himmel herab, und diese Wassermassen, die gleichsam aus Eimern ausgeschüttet wurden, ließen die Umgegend keine zehn Schritte weit erkennen und übertönten auch das Geräusch einer Brandung, die gerade in der Fahrtrichtung des Seglers tobte. Als Kapitän Eschler das Donnern der gegen die Felsen anrennenden Wogen endlich hörte, war das Unheil nicht mehr aufzuhalten. Ein furchtbarer Stoß erschütterte die Brigg, und gleichzeitig brachen schwere Sturzseen über das tief liegende Vorschiff herein, schlugen die beiden Rettungsboote in Trümmer und rissen das Kompaßhäuschen weg.

Kaum zwei Minuten später hatte der Kapitän sein Töchterchen und Heinrich Marauke mit Rettungsringen versehen.

„Gib auf mein Kind acht, Junge!“ rief er dem Knaben noch zu und stürmte dann davon, um auch für die Besatzung zu sorgen.

Ängstlich zusammengeduckt hockten die beiden Spielgefährten im Schutze des Kajütaufbaues. Die kleine Lotte weinte bitterlich und hatte ihr Gesichtchen furchtsam in den Falten von Heinis Jacke verborgen.

Dann nahte eine neue, riesige Welle, ein wahrer Wasserberg, heran. Der Steuermann machte Heinrich durch Zeichen klar, sich gut festzuhalten. Und nun geschah das Furchtbare: Die mächtige Woge riß die Kinder über Bord, hob aber gleichzeitig auch die Brigg von der verborgenen Klippe wie ein Papierschifflein herab und trieb sie in Nacht und Dunkelheit davon.

Heinrich hatte seine kleine Freundin nicht losgelassen. Mit aller Kraft hielt er sie, die ebenso wie er in einen Rettungsring eingebunden war, umklammert. Blitzschnell war die Woge über sie gekommen und trug sie nun auf ihrer Spitze wie ein ungeheures Reittier über den Klippengürtel eines ihnen noch unsichtbaren Felseneilandes hinweg, landete sie in etwas ruhigerem Wasser und ermöglichte es dem Jungen auf diese Weise, dem jetzt wie eine dunkle Wand vor ihm auftauchenden Ufer der Insel zuzuschwimmen. Doch auch hier ging die vom Sturm gepeitschte See noch beinahe haushoch, so daß Heinrich sehr bald in diesem Kampf gegen die zurück flutenden Wassermassen der Brandung ermüdete und bereits den sicheren Tod vor Augen glaubte, als eine zweite Riesenwoge abermals ihn und das kleine Mädchen ergriff und beide weit vorwärts auf das steinige Gestade warf. Eine wohltätige Ohnmacht umfing hier die Sinne der bedauernswerten Kinder, da der rettende Wasserberg sie mit allzu großer Wucht dem festen Lande übergeben hatte. – –

Stunden waren vergangen. Der Tag brach an. Über den jetzt wieder völlig klaren Himmel zuckten die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne hin. Da bewegte sich Heinrich, reckte die Arme, hob den Kopf. Und dann saß er mit einem Ruck aufrecht, blickte verwundert um sich. Neben ihm ruhte auf einem Haufen von trockenem Seetang die kleine Lotte. Um ihr blasses Gesichtchen hingen die noch feuchten blonden Locken wirr herum, und – wahrhaftig! – Da … an ihrem linken Arm trug sie einen Verband aus weißer Gaze, aus dem dünne weiße Brettchen herausragten. Sofort schoß dem Knaben der Gedanke durch den Kopf, daß sie sich den Arm gebrochen, irgend jemand sie inzwischen sorgfältig verbunden und das Glied kunstgerecht geschient haben müsse. – Und weiter sagte er sich, daß die letzte große Woge sie niemals bis hierher getragen haben könne, – bis an diese vor dem Winde durch einige Felsen geschützte Uferstelle, die gut hundert Meter vom Wasser entfernt lag. Nein, derselbe Wohltäter hatte sie an diesen Platz, gebracht und auch das Lager aus den verdorrten Seepflanzen für sie zurecht gemacht.

Wieder blickte Heinrich sich um. Aber er sah nichts als die noch immer recht bewegte unendliche Wasserfläche, die Brandung an dem Klippengürtel und ringsum die trostlosen, grauen Felsen des Gestades, die sich weiter landeinwärts immer höher türmten und eine schroffe Bergkette bildeten. Von einem Menschen entdeckte er keine Spur. Und doch war es ganz sicher, daß die Vorsehung ihnen hier einen unbekannten Freund und Helfer in den Weg geschickt hatte. Wenige Schritte neben ihrem Lager bemerkte er ja jetzt auch ein Häuflein Nahrungsmittel: kleine Brote von der Form einer flachen Semmel, reife Bananen, zwei geöffnete Kokosnüsse, in denen sich noch die erfrischende Kokosmilch befand, ferner auf großen Blättern liegend geröstete Fleischstücke und in einer leeren Konservenbüchse klares Trinkwasser!

Heinrich hatte sich, um diese Herrlichkeiten aus nächster Nähe bewundern zu können, erheben müssen. Jetzt erst fühlte er, wie sehr ihn alle Glieder schmerzten und wie steif seine Gelenke waren. Doch einige rasche Bewegungen machten diesen Zustand schon bedeutend besser. Er bückte sich und griff nach einer Banane. Aber schnell zog er die Hand wieder zurück, eilte zu der kleinen Lotte hin, weckte sie zart und erklärte der sofort in heiße Tränen Ausbrechenden, daß nun jede Gefahr vorüber sei und ein gütiger Unbekannter aufs beste vorläufig für sie gesorgt habe.

„Ganz still mußt Du liegenbleiben, Lottchen, ganz still“, bat er. „Du bist krank, vergiß das nicht! Aber der Arm wird schnell wieder heil werden. – Wo wir uns befinden? – Das weiß ich nicht. Aber nachher will ich mich hier einmal genauer umsehen, wenn wir gegessen haben. Ich verspüre schon rechten Hunger.“

Dann schichtete er den Seetang anders auf, so daß sie nun halb sitzend dalag. Dankbar lächelte sie ihn an, als er ihr die erste geschälte Banane und hinterher noch Fleisch, Brot und ein paar Schlucke von der süßen Kokosmilch reichte. Wie ein Krankenpfleger umsorgte er sie, genau so, wie sie ihn damals in der engen Kammer an Bord der Brigg gehegt hatte. Jedenfalls schmeckte es ihr prächtig, und als Heinrich sie nun fragte, ob der Arm ihr sehr wehtue, schüttelte sie tapfer das Köpfchen und meinte. „Ich werd’s schon aushalten, Heini. Ich bin doch die Tochter eines mutigen Seemannes!“

Da wurde er ganz froh, als er sie so verständig sah. Er begann nun von dem Schicksal der Brigg und deren Besatzung zu reden. Einmal würde er ja doch von dem Kinde danach gefragt werden. So sprach er denn seine Überzeugung dahin aus, daß die „Marie“ bei dem Aufrennen auf die Klippe kaum schwerer beschädigt worden sein könne, da sie so leicht nachher wieder in freies Wasser abgetrieben wäre. Und selbst wenn sie ein Leck gehabt hätte, würde man sie mit Hilfe der Pumpen längere Zeit über Wasser halten können. Die Leute auf der Brigg befänden sich mithin außer jeder Gefahr, und Lottchen brauche sich um ihren Vater nicht weiter zu ängstigen.

Der Kleinen Gesicht hellte sich noch mehr auf. Ihr erschien dieser halbe Schiffbruch jetzt schon wie ein recht hübsches Abenteuer. Ganz fröhlich plapperte sie mit dem langaufgeschossenen Spielgefährten und meinte, sie befänden sich hier rein wie im Zauberlande, wo dienstbare Geister ihnen ein Bett und ein Tischlein deck’ dich hergerichtet hätten. Bald wurde sie jedoch müde, ließ sich von Heinrich mit dessen Jacke zudecken und versprach ganz fest zu schlafen, bis er von seinem geplanten Ausflug landeinwärts zurückgekehrt sei. Als sie eingeschlummert war, nahm der Junge nochmals eine genaue Besichtigung der Umgebung vor. Hierbei entdeckte er zunächst die beiden Rettungsringe, die etwas näher nach dem Strande zu lagen. Dann untersuchte er die Örtlichkeit daraufhin, ob dem Mädelchen, das nunmehr seiner Obhut allein anvertraut war, irgend eine Gefahr während seiner Abwesenheit drohen könne. Die Stelle, wo die mächtige Woge sie beide ans Land geworfen hatte, war nur vom Wasser und den felsigen Bergen aus zugänglich. An den beiden anderen Seiten bildeten die aufeinander getürmten Felsbrocken förmliche Mauern, die gänzlich unersteigbar waren. So konnte er sich denn mit gutem Gewissen auf den Weg machen, ohne für der Kleinen Sicherheit irgend welche Besorgnisse hegen zu brauchen.

Aber welch’ mühsame Kletterpartie stand ihm nun bevor! Es dauerte eine gute Stunde, bevor er nach vielen Umwegen und gefahrvollem Überwinden vieler Hindernisse endlich den höchsten Kamm der etwa siebzig Meter hohen Uferberge erstiegen hatte. Mit vor Anstrengung keuchender Brust blieb er dann eine Weile stehen und betrachtete staunenden Blickes das eigenartige Panorama, das sich ihm von hier aus darbot. Zu seinen Füßen lag eine fast kreisrunde Insel von kaum eineinhalb Meilen Durchmesser. Rings von zackigen Felshügeln umgeben, die sich nach dem Innern zu in mehreren Terrassen allmählich senkten, bildete ihre Mitte ein entzückendes landschaftliches Bild mit Palmenhainen, grünen Wiesenstreifen, dunklen Wäldern aus Nadelbäumen und niedrigen Gebüschgruppen. Sogar der blinkende Spiegel eines seeartigen Wasserbeckens leuchtete zwischen den Bäumen auf. Doch vergebens schaute er sich nach einer menschlichen Behausung um. Zwar schien es ihm, als ob er in der Ferne ein paar Tiere weiden sah, aber genau vermochte er nicht zu sagen, ob seine Augen ihn nicht täuschten. Dagegen erkannte er ganz deutlich, daß nach Norden zu noch zwei weitere, kleinere Eilande lagen, über denen eine Unmenge von Seevögeln kreisten. Diese Inselchen bestanden ohne Zweifel aus nacktem Fels und waren von ihrer größeren Nachbarin nur durch eine wenige hundert Meter breite Wasserstraße getrennt.

Kurz entschlossen begann der kühne Knabe jetzt den Abstieg nach dem Innern der Insel zu. Dieser war bedeutend leichter zu bewerkstelligen als der Aufstieg von der Uferseite her. In zehn Minuten hatte Heinrich die letzte der Felsterrassen hinter sich und betrat einen Palmenhain, der sehr bald in dichtes Gebüsch von allerhand ihm fremden Straucharten überging. Hier und da bemerkte er kaninchenartige Tiere, die bei seinem Nahen blitzschnell in ihren Löchern verschwanden. Immer weiter drang er vor, bis ein großes, von einem aus Zweigen geflochtenen Zaun umfriedetes Haferfeld ihm den Weg versperrte. Also mußte diese Insel bewohnt sein und zwar von Leuten, die hier schon längere Zeit ansässig waren. Das Haferfeld zeigte das deutlich genug. – Nachdenklich blieb er abermals stehen. Er war bereits geistig genügend reif, um sich darüber klar zu werden, daß das Verhalten dieser Inselbewohner, die für ihn und seine kleine Gefährtin bereits so liebevoll gesorgt hatten, zum mindesten recht merkwürdig war. Weshalb hatte sich die Person, die Lottchens Arm so kunstgerecht verbunden und auch die Nahrungsmittel herbeigeschafft hatte, nicht wieder blicken lassen?! Weshalb waren diese Liebesdienste in solcher Heimlichkeit vorgenommen worden?! – Das mußte doch irgend einen Grund haben! Aber welchen – welchen?! –

So setzte er denn seinen Weg fort, umging das Haferfeld und gelangte in kurzem an das Ufer des Sees. Hier erblickte er auf einer nahen Wiese einige Ziegen, die ruhig die frischen Gräser abrupften und kaum den Kopf nach ihm hinwendeten, als er an ihnen vorüberschritt.

Zwei Stunden später machte er sich auf den Rückmarsch, nachdem er die Insel ganz umsonst nach einer menschlichen Wohnung abgesucht und zu diesem Zweck sogar die höchste der östlichen Felsterrassen erklettert hatte. Auch Fußspuren waren nirgends zu bemerken. Dafür entdeckte er aber einige weitere Dinge, die das Bewohntsein dieses Eilandes deutlich verrieten: ein eingezäuntes Reisfeld und eine ganze Menge von Tierfallen, die aus starken, federnden Ästen und Schlingen aus Eisendraht hergestellt waren. Und doch: keine Menschenseele hatte er zu Gesicht bekommen! Manches laute „Hallo!“ war aus seiner Kehle gedrungen. Eine Antwort blieb aus. Da kehrte er niedergeschlagen um, fest davon überzeugt, daß die Insel irgend ein seltsames Geheimnis berge. –

Um die Mittagszeit langte er wieder am Westufer an. Seine kleine Gefährtin schlief noch fest, ermunterte sich aber schnell, als er ihren Namen rief. Neugierig ließ sie sich von ihm berichten, was er indessen erlebt hatte. Wie zwei alte, verständige Leute besprachen sie dann ihre Lage und beschlossen, sofort gemeinsam nach den schönen Palmenhainen und frischen Wiesen aufzubrechen. Darüber, daß die Bewohner der Insel sich nicht sehen ließen, machte sich Lottchen keine Gedanken. – „Wir werden sie schon finden, Heini“, meinte sie altklug. „Vielleicht sind die Leute zum Fischfang auf die See hinaus. – Doch jetzt zeige mir den Weg. Ich will die Ziegen sehen und die Kaninchen und den See. Ach, Heini, herrlich finde ich das alles hier. Der Papa hat mir mal ein Buch vorgelesen, es hieß Robinson Krusoe, und jetzt sind wir auch beinahe solche Robinsons!“

Der große Junge lächelte ein wenig – nur um sie bei guter Laune zu erhalten. In Wirklichkeit ließen ihn die Gedanken an das merkwürdige Verhalten der Inselbewohner nicht los. Und – wie er das schwache Mädelchen mit dem gebrochenen und geschienten Arm über die Uferberge bringen sollte, machte ihm noch bösere Kopfschmerzen. Trotzdem wagte er den Versuch. Sorgfältig benutzte er nur die bequemsten Stellen zum Aufstieg, stützte und hob das Mädelchen von Stein zu Stein, bis sie endlich die Höhe glücklich erreicht hatten. Stundenlang durchstreiften sie dann noch die Insel nach allen Richtungen hin, pflückten sich Bananen, tranken aus einer Quelle, die sie dicht am Seeufer fanden, und freuten sich über die bunten Papageien, die in den Bäumen kreischten und lärmten.

Dann wurde die Kleine stiller und stiller. Besorgt fragte Heinrich, ob ihr etwas fehle. Tränen perlten ihr da aus den Augen.

„Der Kopf ist mir so schwer – so sehr schwer, Heini. Und die Beine wollen gar nicht mehr weiter,“ meinte sie mit matter Stimme.

Schnell nahm er sie auf die Arme und trug sie zurück nach der obersten der östlichen Felsterrassen, wo sie vorhin eine kleine Höhle entdecke hatten. Dort wollten sie für die Nacht bleiben. Und eilig holte der Junge nun trockenes Gras herbei und bereitete der kleinen Gefährtin ein weiches Lager. Müde streckte sie sich darauf aus und war in wenigen Minuten eingeschlafen. –

Dann kam die Nacht. Lottchen warf sich unruhig auf ihrem Lager hin und her. Oft schrie sie ängstlich auf, sprach allerhand verworrenes Zeug und atmete schwer und keuchend. Heinrich fand keinen Schlaf. Er saß neben ihr in der tiefen Dunkelheit, hielt ihre gesunde, aber fieberheiße Hand in der seinen und hatte nur einen Wunsch: daß es bald hell werden möchte. Einmal während dieser bangen Stunden war es ihm, als ob er draußen vor der Höhle leise, schleichende Schritte vernahm. Da begann sein Herz schneller zu schlagen, und seine Rechte tastete nach einem der schweren Steine, die er sich als Verteidigungswaffen für alle Fälle zurechtgelegt hatte. Aber da die kleine Kranke gerade in ihren Fieberphantasien laut nach Wasser rief, hörte er nichts weiter.

Wasser …?! Wo sollte er dieses jetzt hernehmen?! Hatte er doch die Konservenbüchse, in der ihr Schutzgeist ihnen das erfrischende Naß gebracht hatte, leichtsinnigerweise am Strande zurückgelassen.

Endlich graute der Morgen. Nachdem es dann ganz hell geworden war, räumte der Knabe die Steinmauer vor dem Höhleneingang soweit weg, daß er gerade ins Freie schlüpfen konnte. Wer aber beschreibt sein Erstaunen, als er auf einem flachen Felsen in nächster Nähe drei mit Trinkwasser gefüllte Konservenbüchsen fand, die durch Einfügen von starken Drahtbügeln zu kleinen Wassereimern umgestaltet waren. Schleunigst reichte er nun seiner Gefährtin, die matt und blaß auf ihrem Lager ruhte, einen erfrischenden Trunk. Auf seine teilnehmende Frage, ob er ihr vielleicht auch ein paar Bananen holen solle, nickte sie nur schwach. So eilte er denn schleunigst dem ersten Palmenwäldchen zu, wo auch zahlreiche Exemplare dieser nützlichen Pflanze vorkamen. Immerhin brauchte er gut zwanzig Minuten, bevor er wieder reich beladen bei der Höhle anlangte. Hier empfing ihn die kleine Lotte sofort mit der Nachricht, daß der unbekannte Schutzgeist inzwischen bei ihr gewesen sei, den Verband des Armes nachgesehen und ihr auch ein Pulver eingegeben habe, wonach sie sogleich frischer und klarer im Kopf geworden sei. Neugierig wollte der Junge natürlich allerlei Einzelheiten wissen. Doch das Mädelchen vermochte nicht viel zu erzählen. In der dunklen Höhle hatte sie das Gesicht des fremden Mannes nur ganz undeutlich erkannt, und gesprochen hatte dieser zu ihr nur wenige, leise Worte in deutscher Sprache. Dafür habe er aber für Heinrich einen Zettel zurückgelassen, der dort mehr im Vordergrunde der Höhle liegen müsse.

Gespannt suchte der Junge sogleich nach dieser schriftlichen Mitteilung, die er auch bald auf einem Steine fand. Es war ein offenbar aus einem größeren Notizbuche herausgerissenes Blatt. Darauf stand folgendes in deutscher Sprache mit Bleistift geschrieben:

„Die östliche Hälfte der Insel zu betreten verbiete ich Euch! Seid Ihr ungehorsam, so werde ich für Euch nicht weiter sorgen. Bis zur Quelle am See dürft Ihr Eure Ausflüge ausdehnen. – Nach zwei Stunden werdet Ihr an der westlichen Ecke des Haferfeldes allerlei Eßwaren und ein paar Decken vorfinden, ferner ein Beil zum Aufschlagen der Kokosnüsse und sechs in Papier gewickelte Pulver. Von diesen Pulvern erhält das kleine Mädchen morgens und abends je eins in Wasser. Ich rechne auf Eure Dankbarkeit. Sucht nicht zu ergründen, wer ich bin. Euer Gehorsam wäre der beste Lohn für mich.“ –

Als Heinrich diese seltsamen Sätze seiner kleinen Freundin vorgelesen hatte, sagte sie nur mit glücklichem Kinderlächeln:

„Siehst Du, Heini, – wirklich wie im Zauberlande ist es hier! Weißt Du, wie wir die Insel daher nennen wollen …? –: „Zauberinsel“!“

Noch lange plauderten sie über den gütigen, geheimnisvollen Fremden und rieten hin und her, wer es wohl sein könne und aus welchem Grunde der Mann sich so ängstlich verborgen halte. Doch sie fanden keine einleuchtende Erklärung. Für sie blieb ja auch das Eine die Hauptsache, daß der Unbekannte ohne Frage ein liebevolles, gutes Herz besitzen müsse. – Dann schlief Lottchen wieder ein, und der Junge durchstreifte nun die Terrassen in der Nähe um zuzusehen, ob er nicht eine bequemere und größere Höhle fände, die sich zur ständigen Wohnung besser eigne. Wirklich entdeckte er dann einige hundert Meter nach Norden zu in einer Felswand eine hohe, luftige Grotte, die nur auf einem schmalen, natürlichen Pfade zu erreichen war, ganz versteckt lag und einen glatten Steinboden besaß. – Inzwischen waren die zwei Stunden reichlich verstrichen, und der Knabe begab sich nach dem Haferfelde hin, um die angekündigten Sachen abzuholen. Zu seiner freudigen Überraschung war die Spende des Unbekannten jedoch weit reichlicher ausgefallen, als er dies anfänglich vermutet hatte. Außer dem Beile lagen noch sauber auf einer Decke ausgebreitet zwei Pakete langer Nägel, ein Hammer, eine kleine Säge, ein starkes Messer und zwei Knäuel Bindfaden von verschiedener Stärke, ferner drei Schachteln Zündhölzer, ein Kochtopf aus Eisen und zwei Blechlöffel. Unter den Nahrungsmitteln befanden sich wieder geröstete Fleischstücke, mehrere von den kleinen Broten, eine Anzahl Reiskuchen, eine Konservenbüchse mit Salz, ein kleiner Sack Reis und sogar eine Büchse mit Zucker. Jedenfalls mußte Heinrich den Weg nach der neuen Grotte zwei Mal hin und zurück machen, um all diese Schätze fortzuschaffen.

In den folgenden Tagen ereignete sich nichts von Wichtigkeit. Das kleine Mädchen erholte sich zusehends und war bald dem Freunde bei dessen Arbeiten behilflich, so gut dies mit dem einen Arme anging. – Heinrich setzte seinen Ehrgeiz darin, die Grotte möglichst behaglich und auch praktisch einzurichten. Aus starken Ästen baute er eine Wand vor dem Eingang, in der er nur eine Tür- und eine Fensteröffnung freiließ. Unter einem nahen, überhängenden Felsen wieder stellte er aus Steinen einen Herd her, so daß sie schon am dritten Tage eine aus gekochtem und gesüßtem Reis bestehende warme Suppe als Mittagsmahl verspeisen konnten. In der Hauptsache aber bestand ihre Nahrung aus Bananen und dem Fleisch der Kokosnüsse. –

Eine Woche war so vergangen. Das Wetter blieb klar und schön, und die Kinder gediehen bei dem steten Aufenthalt in der frischen Luft ganz prächtig. Hin und wieder erstiegen sie auch die höchste Spitze der östlichen Uferberge und schauten auf die weite See hinaus. Aber nur ein Mal erblickten sie in weiter, weiter Ferne die Rauchsäule eines Dampfers. Trotzdem machten sie sich über ihre Zukunft keine Sorgen. Sie rechneten bestimmt damit, daß Kapitän Eschler eines Tages mit der Brigg erscheinen und sie abholen werde. – Inzwischen hatte Heinrich, um den Eingang zu der Grotte noch besser zu verdecken, vor derselben einige Sträucher eingepflanzt, nachdem er in der Decke eine starke Schicht fruchtbarer Erde herbeigeschafft hatte, die er dann mit sauber ausgestochenen Rasenstücken belegte. Ebenso war um den Herd herum von ihm ein Wall von Steinen aufgeschichtet worden, so daß selbst aus der Nähe niemand gewahr werden konnte, daß an dieser Stelle Menschen ihre Wohnstätte aufgeschlagen hatten.

Dann fand er eines Morgens vor der Grotte einen neuen Zettel vor, der auf einen Haufen von allerlei Lebensmitteln gelegt war. Diese abermalige schriftliche Nachricht besagte, die Kinder sollten in den nächsten Tagen ihre Höhle nur nach Eintritt der Dunkelheit verlassen, da ein Schiff mit einer aus grausamen Negern bestehenden Besatzung vor der Insel ankere. Sobald alles wieder sicher sei, würden sie hiervon Mitteilung erhalten.

Das kleine Mädelchen zeigte sich infolge dieser Warnung höchst erschrocken, ließ sich aber von dem Freunde bald wieder beruhigen. Tatsächlich beobachtete Heinrich Marauke dann schon um die Mittagszeit durch die vor der Grotte stehenden Büsche hindurch einige recht zerlumpte Neger, die sich auf der Insel umhertrieben, Früchte einsammelten und auf die Kaninchen – denn daß es wirklich Kaninchen waren, hatte der Knabe inzwischen an einigen in die Fallen geratenen Tieren festgestellt – Jagd machten. Die Schwarzen verschwanden jedoch nach einigen Stunden wieder, tauchten aber auch an den folgenden Tagen wiederholt noch auf, so daß Heinrich erst immer spät abends nach der Quelle sich hinschleichen konnte, um Trinkwasser zu holen und damit für sich und die kleine Lotte eine Reissuppe zu kochen. Während es noch hell war wagte er es nicht ein Feuer anzuzünden, da er den verräterischen Rauch fürchtete. – Am vierten Tage nach dem Erscheinen dieser unbequemen Gäste trieb die Neugier den Knaben dann gleich nach Anbruch der Morgendämmerung auf die östlichen Uferberge. Sorgfältig stets hinter Felsstücken Deckung nehmend, erreichte er unangefochten die Höhe. Inzwischen war es bereits hell genug geworden, um einen großen Dreimaster erkennen zu können, der an einem der benachbarten Felseneilande in einer Bucht vor Anker lag. Zwei Stunden blieb Heinrich auf diesem Beobachtungsposten und bemerkte so, wie eine ganze Menge von Leuten eifrig mit irgend welchen Erdarbeiten beschäftigt war und wie anscheinend die losgeschaufelte Erde mit Hilfe von Schiebkarren nach dem Schiffe geschafft wurde. Als dann jedoch ein Boot von dem Dreimaster abstieß und auf die Ostküste der „Zauberinsel“ zuhielt, zog es der unternehmungslustige Knabe doch vor, schleunigst wieder nach der Grotte zurückzukehren, wo ihn seine kleine Freundin schon sehnsüchtig erwartete. An demselben Tage stellte er noch fest, daß die Besatzung des Segelschiffes nicht ausschließlich aus Farbigen bestand, da dieses Mal sich auch drei mit Gewehren bewaffnete Weiße an der Kaninchenjagd beteiligten.

Dieses Erscheinen des Dreimasters bei der kleinen Inselgruppe hatte zwei wichtige Ereignisse zur Folge, die auf die späteren Schicksale der beiden Kinder einen entscheidenden Einfluß haben sollten. Zunächst überlegte sich Heinrich das merkwürdige Verhalten ihres geheimnisvollen Beschützers nochmals ganz genau. Er sagte sich, daß der Unbekannte einen zwingenden Grund haben müsse, hier auf dem Eiland in völliger Verborgenheit zu leben, und daß jener vielleicht auch die Warnung vor den Leuten des Seglers, unter denen sich doch auch Weiße befanden, nur deshalb ihnen mitgeteilt habe, um eine Zusammenkunft mit den Matrosen zu verhüten, bei der sie diesen dann ohne Frage etwas von dem rätselhaften Bewohner der Zauberinsel erzählt hätten. Mithin schien es so, als ob der Fremde durch ganz besondere Umstände dazu gezwungen war, seine Anwesenheit hier ängstlich zu verheimlichen. Und diese Umstände konnten wieder nur in Vorfällen aus der Vergangenheit ihres Schutzgeistes bestehen, durch die dieser sich erbitterte Feinde geschaffen hatte, vor denen er sich sorgfältig zu verbergen trachtete. – Diese Erwägungen, die dem Scharfsinn des vierzehnjährigen Jungen das beste Zeugnis ausstellten, weckten gleichzeitig bei ihm ein gewisses Mißtrauen gegen den Unbekannten und den heißen Wunsch herauszubekommen, wer dieser Fremde eigentlich war und wo er hier auf dem Eiland hauste. Gewiß – die Dankbarkeit drängte diese Neugier zunächst noch zurück. Aber gerade die vielen langweiligen Stunden, die Heinrich während des Besuches des Dreimasters in der Grotte verleben mußte, führten seine Gedanken immer wieder zu diesem Punkt zurück, so daß er schließlich einen ganzen Plan in seinem Innern entwarf, wie er das Geheimnis, das ihren Beschützer umgab, etwas lüften könne. – Dies war die eine Folge des Auftauchens des großen Seglers. Die zweite aber hing damit zusammen, daß der fürsorgliche Schutzgeist ihnen mit einer neuen Spende von Nahrungsmitteln auch eine einfache Tranlampe und eine große Flasche Tran hatte zukommen lassen. Diese Lampe nun ermöglichte es dem Knaben trotz ihrer bescheidenen Leuchtkraft, auch den Hintergrund der Wohnhöhle, die sich als niedriger Spalt noch tiefer in die Felswand hineinzog, genauer zu untersuchen. Es war am fünften Tage nach dem Erscheinen des Segelschiffes, als Heinrich seiner kleinen Freundin am Nachmittag die Absicht kundtat, er wolle jetzt einmal tiefer in den engen Felsgang eindringen um zuzusehen, ob dieser nicht in eine zweite Höhle einmünde. Auf diese Vermutung war er nämlich dadurch gekommen, daß aus der Felsspalte stets ein recht kühler Luftstrom hervordrang. Das Mädelchen, immer um das Wohl des großen Freundes ängstlich besorgt, suchte ihm dieses Vorhaben eifrig auszureden. Doch Heinrich blieb fest und meinte, sie möge ihn doch begleiten. Vielleicht bekämen sie ganz interessante Dinge zu sehen. Lottchen war nun sofort einverstanden. Nachdem dann die Lampe aufs neue gefüllt war, mußte die Kleine das Beil als Waffe für alle Fälle mitnehmen, während der Knabe mit der Leuchte vorankriechen wollte. Doch bevor er noch in dem dunklen Felsgang untertauchte, gab es noch einen kurzen Aufenthalt, da Lottchen ihn auf ein paar Zeichen aufmerksam machte, die über der Mündung des niedrigen Ganges in die glatte Rückwand der Grotte eingemeißelt und die den Kindern bisher entgangen waren. – Ganz dicht hielt Heinrich jetzt die Lampe mit dem brennenden Docht an diese Stelle des grauen Gesteins heran. Die Zeichen bestanden in einem etwa fünfzig Zentimeter langen Pfeil, dessen Spitze nach unten zeigte und unter dem die Zahl dreißig in römischen Ziffern deutlich zu erkennen war. Unter dieser Zahl war wieder ein zweiter Pfeil zu sehen, der wagerecht lag und mit der Spitze nach Osten wies. Etwa in der Mitte des Pfeilschaftes war die Ziffer zehn eingemeißelt. – Heinrich wußte nicht recht, was er aus diesem Zeichen machen sollte. Daß sie einen bestimmten Zweck hatten, war ihm sofort klar. Aber welchen? – Grübelnd stand er da und überlegte hin und her. Schließlich war es dann Lottchen, seine tapfere, kleine Gefährtin, die ihn darauf brachte, daß der obere Pfeil doch beinahe genau auf die Mündung des Felsganges hindeute, und die Hoffnung aussprach, man würde vielleicht in dem Gange selbst weitere ähnliche Zeichen vorfinden, die die Absicht desjenigen, der sie hier im Gestein verewigt habe, näher erläutern könnten. – Nun, diese Hoffnung erfüllte sich nicht, wie die Kinder bald feststellten. In der allmählich breiter und auch höher werdenden Spalte waren keinerlei Spuren eines von Menschenhand geführten Meißels zu entdecken. Dafür aber gelangten die beiden kleinen Robinsons nach etwa zehn Metern wirklich in eine zweite, geräumige Grotte, in der mancherlei Überraschungen ihrer warteten. In einer Ecke dieser fast genau quadratischen Höhle standen einige Kisten, auf die Heinrich nun sofort lossteuerte. Die Kisten waren aus starkem, nachgedunkeltem Eichenholz gefertigt und mit altertümlichen Eisenzieraten beschlagen, jedoch unverschlossen. Und in ihnen lagen allerlei Gegenstände, die die Kinder nun unter stets erneuten Ausrufen des Erstaunens einzeln herausnahmen und nebenbei auf dem Boden aufschichteten. Da gab es Säbel, Degen und Dolche von mannigfacher Form, ferner Steinschloßflinten und -pistolen, weiter allerlei reichgestickte Gewänder und Mäntel, Ledersäcke voll grobkörnigen Pulvers und Bleikugeln, Fernrohre und allerlei seltsame Instrumente, ganze Bündel von Schiffskarten mit Aufschriften in einer den Kindern fremden Sprache, endlich mehrere dicke Bücher, deren Seiten aus einem faserigen, vergilbten Papier bestanden und mit Aufzeichnungen in roter Tinte bedeckt waren. – Alle Kisten waren jetzt bis auf die letzte entleert. Diese hatte fast die doppelte Größe der übrigen, und es kostete Heinrich nicht geringe Mühe, ihren schweren Deckel zu öffnen und zurückzuschlagen. Ein mit Goldstickerei prachtvoll verziertes Tuch war über ihren Inhalt gebreitet. Als der Knabe jetzt mit einem Ruck den schweren Stoff fortzog, prallte er entsetzt zurück. Beinahe wäre die Lampe seiner bebenden Hand entfallen. Auch das kleine Mädchen stieß einen lauten Schrei des Schreckens aus und umklammerte angstvoll den Freund. Doch der hatte schnell seine alte Keckheit wiedergefunden.

„Habe keine Furcht, Lottchen“, sagte er sorglos. „Der Mann da wird uns nichts tun. Ich weiß, solche Leichen, die nicht verwest, sondern eingetrocknet sind und daher sich wenig verändert haben, nennt man Mumien. – Sieh nur, welch’ prächtige Kleidung der Tote an hat! Und da – an seiner linken Hand blitzen kostbare Ringe. – Wie das funkelt und flimmert! Es müssen Edelsteine sein …“

Scheu wagte sich nun auch die Kleine näher heran. Aber so recht traute sie der Mumie doch nicht in das von einem langen, dunklen Bart umrahmte, bräunliche Gesicht zu sehen.

„Heini, mache den Kasten schnell wieder zu“, bat sie leise. „Der Mann sieht garstig aus.“

Der Junge kam ihrem Wunsche sofort nach. „Man soll den Toten ihre Ruhe lassen“, meinte er, und ließ den Deckel behutsam herab, nachdem er das goldgestickte Tuch wieder über die Mumie gebreitet hatte.

Dann schauten sie sich weiter in der Höhle um, fanden aber nichts mehr, was beachtenswert gewesen wäre. Auch an den Wänden gab es keinerlei neue Zeichen, so sorgfältig der Knabe alles auch ableuchtete. Nun suchten sie aus dem wirren Haufen von Gegenständen sich allerlei heraus, was sie mit in ihre Grotte nehmen wollten: ein paar der langen Mäntel, zwei Pistolen, einen Degen, einen Dolch, einen Pulversack und Bleikugeln. Die Sachen aber packten sie wieder in die Kisten zurück.

Dieses kleine Abenteuer gab dem leicht zum Grübeln geneigten Jungen neuen Stoff zum Nachsinnen. Besonders mit den seltsamen Zeichen über der Mündung des Felsganges beschäftigte er sich in Gedanken immer wieder. Selbst als er nachher in der Nacht auf seinem Lager ruhte und in dem für Lottchen aus geflochtenen Wänden hergestellten Kämmerlein die friedlichen Atemzüge seiner lieben, kleinen Gefährtin vernahm, mußte er fortgesetzt an die Pfeile und die Zahlen an der Rückwand der Höhle denken. Was sollten nur die Ziffern besagen, und weshalb zeigte der obere Pfeil direkt auf den Eingang der Felsspalte und der untere dagegen nach Osten …?! – Eine innere Stimme sagte dem Knaben, daß diese Zeichen geheime Anweisungen zum Auffinden eines bestimmten Ortes enthielten. Und seine lebhafte Phantasie reimte sich einen ganzen Roman zusammen, in dem Seeräuber und verborgene Schätze die Hauptrolle spielten. – – –

Genau eine Woche dauerte die Anwesenheit des Dreimasters in der Bucht des benachbarten, von zahllosen Scharen von Seevögeln aller Art bewohnten Eilandes. Dann fand Heinrich eines Morgens einen neuen Zettel ihres unbekannten Schutzgeistes vor. „Ihr könnt Euch wieder frei auf Eurer Inselhälfte bewegen. Habt Ihr ein Anliegen an mich, so legt ein Blatt Papier mit Euren darauf vermerkten Wünschen auf den großen Stein an der Westecke des Haferfeldes nieder. – Ich warne Euch zu Eurer eigenen Sicherheit davor, etwa vorüberfahrenden Schiffen Notsignale zu geben, da in dieser Meeresgegend nur Fahrzeuge auftauchen, deren Besatzung Euch schlecht behandeln würde. Wartet getrost ab, bis ich Euch selbst den Zeitpunkt angebe, wo Euer einsames Leben hier ein Ende haben soll.“ – So lautete diese neue Benachrichtigung. Neben dem Zettel lagen wieder eine ganze Menge Nahrungsmittel, außerdem einige Bogen Papier, ein Bleistift und zwei deutsche Bücher über Brasilien und Südamerika.

Wieder vergingen zwei Wochen, in denen das Wetter zumeist schön blieb und nur vereinzelte Regenschauer und Gewitter niedergingen.