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Es war Vollmond. Sternklarer Himmel. Wir schleppten sie aus dem Wald heraus. Ich weiß nicht, ob die Frau wirklich schon tot war. Schwer war sie. Schwer wie ein Sack, das sagt man doch so, wenn einer sich nicht mehr rührt. Vielleicht lebte sie auch noch, das stelle ich mir bis heute oft vor. Ihre Füße rutschten mir aus den Händen. Schleiften eine Spur in den schwarzen Waldboden. Es war schwierig, sie wieder zu fassen. Über der Straße lag dichter Nebel. Wir legten die Frau ab. Schnell. Schnell … Von weitem nahte ein Auto. Mit hell leuchtenden Scheinwerfern. Besoffene hingen aus den Fenstern und grölten in die Nacht. Fuhren wie die Henker. Sahen uns nicht. Sahen die Frau nicht. Überrollten sie. Schnell. Schnell weg …

 

 

»Es war einmal eine kleine süße Dirne, die hatte jedermann lieb, der sie nur sah,

›Komm, Rotkäppchen, … Mach dich auf, bevor es heiß wird, und wenn du hinauskommst, so geh hübsch sittsam und lauf nicht vom Weg ab, sonst fällst du und zerbrichst Glas, … Und wenn du in die Stube kommst, so vergiss nicht, guten Morgen zu sagen, und guck nicht erst in allen Ecken herum …‹

Wie nun Rotkäppchen in den Wald kam, begegnete ihm der Wolf. Rotkäppchen aber wusste nicht, was das für ein böses Tier war, und fürchtete sich nicht vor ihm …«

(Aus »Rotkäppchen« von den Gebrüdern Grimm)

Wie die anderen Rechtsanwälte vor ihm hatte auch Lutz Thiele Nora kaum Hoffnungen gemacht, dass es ihr gelingen würde, Jürgen Herbst vor Abbüßung seiner lebenslänglichen Strafe aus dem Vollzug herauszubekommen. Doch Thiele hatte wenigstens versprochen, es mit allen Mitteln, die rechtlich zur Verfügung stünden, zu versuchen. Es gab nicht viele Möglichkeiten, eine lange zurückliegende, rechtskräftige Verurteilung anzufechten. Eigentlich war da nur Noras unerschütterliche Gewissheit über die Unschuld ihres Vaters. Und der Glaube an die eigene Schuld, daran, dass Jürgen Herbst nur wegen ihrer belastenden Aussage einsäße. Alles, was im Prozess vor zwölf Jahren gegen ihren Vater vorlag, waren nur Indizien gewesen. Und Noras unglückliche Aussage. Lutz Thiele hatte Nora lange zugehört. Sie hatte diesen Anwalt durch Zufall gefunden, an einem Tag, an dem sie ziellos durch die Straßen lief, verzweifelt darüber, dass sich niemand bereit fand, die Möglichkeit der Wiederaufnahme des Verfahrens wenigstens zu prüfen. In einer Einkaufspassage neben einem Drogeriemarkt hatte sie Thieles Namensschild entdeckt und sich spontan entschlossen, ohne Termin bei ihm vorzusprechen. Ein letzter Versuch. Was hatte sie zu verlieren? Heute, in wenigen Minuten, würde das Gericht nun über ein Gnadengesuch des Vaters entscheiden. Dass es überhaupt so weit gekommen war, verdankte Nora Anwalt Thiele. Sie war sich ganz sicher, dass ihr Vater heute frei kommen würde. Sie hatte einfach nicht zugelassen, auch nur einen Moment selbst daran zu zweifeln.

Lutz Thiele wartet vor dem Anhörungssaal, zu dem Nora die Stufen hinaufgeeilt kommt. In Gedanken wettet Nora mit sich selbst darüber, ob der Anwalt beiläufig auf die Uhr sehen würde, weil sie so spät dran ist, oder nicht. Dass er nicht auf die Uhr sieht, überrascht sie. Thiele ist ein angenehmer Mann, groß und schwer und gut zehn Jahre älter als sie. Zu jung, denkt Nora.

Der Anwalt schiebt seine Mandantin vor sich her in den Anhörungssaal. Der Raum wirkt nüchtern, eigentlich ist es nur die trostlose Leere, die an einen Saal erinnert. Durch einen zweiten Eingang wird Jürgen Herbst von einem JVA-Beamten hereingeführt. In seiner blauen Arbeitskleidung wirkt er müde. Nora lächelt ihrem Vater aufmunternd zu. Bald würde alles anders werden, da ist sie sich sicher. Der Richter zieht seine Robe zurecht, alle Beteiligten setzen sich. Nora sucht noch einmal Blickkontakt zu ihrem Vater, doch er sieht nicht in ihre Richtung. Freut er sich denn gar nicht? Erwartungsvoll drückt Nora mit dem Rücken gegen die Lehne ihres Stuhls. Als der Richter beginnt, eine ausführliche Erklärung zu verlesen, schweifen ihre Gedanken vor Aufregung ab. Sie sieht sich als Sechsjährige hinter ihrem Vater auf dem Beifahrersitz seines alten Motorrades sitzen. Damit sie während der Fahrt nicht herunterfällt, wickelt er ihren Oberkörper mit einem langen Band um den seinen. Dann startet er die Maschine und fährt vom Grundstück weg. Sie fahren die Dorfstraße in Wolfshagen entlang. Lachend winkt Nora Leuten in deren Gärten zu. Schönborns, Sobottas und Pösels, wie die Nachbarn alle heißen. Und die winken zurück.

Der Besuchsraum des Gefängnisses hat die Atmosphäre eines lieblos ausgestatteten Kirchenbasars. Drei Inhaftierte verkaufen Kaffee und Kuchen. Alle Tische sind besetzt. Kinder laufen herum und toben. Nur wenige Beamte sitzen auf entlang den Wänden verteilten Stühlen. Nora holt für sich und ihren Vater Kuchen, spürt die Blicke der Männer auf ihrem Körper. Jürgen Herbst umfasst seinen Kaffeebecher, als müsse er sich daran wärmen. Nora zerteilt ihren Kuchen in immer kleinere Stücke. Sie ist zu nervös, um Appetit zu haben. Ein weiterer Häftling wird in den Besuchsraum geführt. Freudig geht eine junge Frau auf diesen Mann zu. Sie trägt ein kleines Mädchen auf dem Arm. Das Kind beginnt zu schreien, als sein Vater, der fremde Onkel, ihm zur Begrüßung zu nahe kommt. Nora steckt einen Krümel Kuchen in den Mund, während sie ihren Vater ansieht.

»Tut mir Leid. Ich dachte wirklich, wir hätten dieses Mal eine Chance.«

Der Vater nickt wortlos und beginnt, seinen Kuchen zu essen.

Nora knetet Krümel zu Teigkugeln.

»Ich werde nach Wolfshagen fahren.«

Der Vater legt abrupt sein Stück Kuchen auf den Teller zurück.

»Ach, du großer Gott. Was willst du denn dort?«

Lächelnd holt Nora einen Brief aus ihrer Umhängetasche und schiebt diesen ihrem Vater zu. Der nimmt den Brief, besieht sich den Umschlag, der mit recht großen und unbeholfenen Buchstaben an Nora adressiert ist. Auf der Rückseite befindet sich kein Absender. Der Vater versucht, den Stempel auf der Briefmarke zu entziffern, doch auch dort befindet sich kein Hinweis auf die Herkunft des Briefes.

»Aus Wolfshagen …«, flüstert Nora viel sagend und beobachtet aufgeregt, wie ihr Vater überrascht und eilig den zusammengefalteten Zettel aus dem schon geöffneten Kuvert herausholt und auseinanderfaltet.

»DER MÖRDER DEINER MUTTER LEBT HIER!« steht in ausgeschnittenen und aufgeklebten Zeitungsbuchstaben auf dem Blatt. Einen Moment lang spürt Nora leichten Triumph, doch dann reagiert ihr Vater nicht so, wie sie es sich seit Tagen ausgemalt hatte. Jürgen Herbst faltet den Brief wieder zusammen, steckt ihn zurück in den Umschlag und schiebt ihn hinüber zu seiner Tochter.

»Na, dann weißt du spätestens jetzt, dass ich nicht derjenige bin, der deine Mutter umgebracht hat.«

»Das weiß ich schon, seit es passiert ist! Oder was glaubst du, weshalb ich diese ganzen Aktionen für dich unternommen habe, seit ich aus dem Heim raus bin?«

Der Vater nickt resigniert. Das leicht Abschätzige in seinem Blick macht Nora sofort aggressiv. Immerhin hatte sie doch alles für ihn versucht. Fast alles.

»Ich werde herausfinden, wer es war. Ich gehe nach Wolfshagen!«

Jürgen Herbst registriert, wie manche seiner »Kollegen« seine Tochter fixieren. Die ständige Geilheit ist es, die den meisten Männern im Knast am stärksten zu schaffen macht. Die sollen sich mit ihren Phantasien gefälligst an andere Weiber wenden, denkt Jürgen Herbst wütend und betrachtet seine Tochter. Er fühlt Stolz, weil sie so schön ist. Und Schmerz, weil sie das Spiegelbild seiner Frau ist. Auch das Wesen hat Nora von Helga Herbst geerbt. Nur das dunkle Haar, das hat sie wohl von ihm. Und ihre Wutanfälligkeit.

»In Wolfshagen wird dir kein Mensch etwas erzählen.«

»Aber einer von denen hat doch den Brief geschrieben. Und derjenige, der hat garantiert das Bedürfnis zu reden. Nach dem werde ich zuerst suchen.«

Der Vater schiebt seinen Teller beiseite.

»Ich will nicht, dass du nach Wolfshagen fährst!«

Nora lehnt sich lächelnd zurück.

»Ich fahre dort nicht nur hin, ich ziehe für eine Weile in unser altes Haus!«

Jürgen Herbst greift über den Tisch und packt seine Tochter am Arm.

»Du gehst nicht nach Wolfshagen!«

Zwei Vollzugsbeamte erheben sich von ihren Stühlen.

Nora reißt sich aus dem Griff ihres Vaters los, nimmt ihre Tasche und geht.

»Dann halte mich doch zurück!«

Wütend haut Jürgen Herbst seinen Kuchenteller vom Tisch.

Nora dreht sich nicht noch einmal um. Vor den Augen der beiden Beamten geht Jürgen Herbst auf die Knie und sammelt die Kuchenstücke zurück auf den Teller.

»Scheiße!«

Mechanisch schlägt Nora mit den Handflächen gegen ihr Lenkrad. Den Schmerz in ihren Händen fühlt sie nicht. Stoisch wippt sie mit dem Oberkörper vor und zurück. Dieses Wippen hat sie sich im Heim angewöhnt, die meisten Kinder schaukeln sich dort so in den Schlaf. Nora sieht nach hinten, dorthin, wo sich hinter ihrem Auto in einer endlosen Schlange Auto an Auto reiht. Entschlossen zieht sie den Zündschlüssel aus dem Schloß und steigt aus. Der Fahrer aus dem Wagen hinter ihr hebt mit einem komplizenhaften Lächeln die Schultern – nach dem Motto: Was soll man machen. Es ist ein junger Mann. Nora erwidert sein Lächeln nicht. Sie beugt sich in ihr Auto und hebt die alte blonde Puppe, deren Wimpern klimpern, auf den Beifahrersitz, und aus dem Bauch der Puppe ertönt wieder das verstimmte »Mamaa«.

Nora bemerkt, dass auch der junge Mann aus dem Auto gestiegen ist und sie nicht aus den Augen lässt. Lässig lehnt er sich an seinen Opel Omega und scheint noch über einen geeigneten Spruch nachzudenken, mit dem er sich ihr nähern könnte. Nora lächelt, als sie im nächsten Moment die Autotür zuwirft und davon geht. Der junge Mann ruft: »He! Halt! Hiergeblieben! Wo wollen Sie denn hin? Das können Sie doch nicht machen!«

Nora dreht sich nicht um. Sie hat es eilig in das Gebäude der Justizvollzugsanstalt – zu ihrem Vater – zu kommen.

Nora wippt mit dem Oberkörper auf dem Stuhl vor und zurück. Zur Beruhigung legt Thiele kurz seine Hand auf ihren Unterarm. Der Richter liest den entscheidenden Satz.

»Der Inhaftierte hat zu keinem Zeitpunkt seine Schuld anerkannt. Deswegen ergeht folgender Beschluss: Dem Gnadengesuch vom 16. 4. 2000 wird wegen besonderer Grausamkeit der Tat nicht stattgegeben. Jürgen Herbst verbleibt in Haft …«

Nora springt auf.

»Nein!«

Ihr Vater lässt sich gleichmütig abführen. Nora will ihn aufhalten, doch Thiele hindert sie daran. Jürgen Herbst dreht sich kurz um und sieht seiner Tochter in die Augen. Dann schließt sich die Tür hinter ihm.

 

 

Für Ralf

Das Treiben

An der Kreuzung Stephansplatz staut sich der Verkehr so stark, als wäre Rushhour in Hamburg. Doch es ist erst vormittags gegen elf Uhr, als Nora in ihrem alten Alfa Romeo durch die Stadt in Richtung Justizvollzugsanstalt fährt. Noch ahnt sie nicht, dass sich direkt vor der JVA ein Unfall ereignet hat. Polizisten beginnen damit, die Unfallstelle zu sichern. Ein lebloser Frauenkörper wird auf eine Trage gebettet und in einen Notarztwagen verfrachtet. Ringsum ist der Verkehr zum Stehen gekommen. Auch in den Seitenstraßen fahren Wagen für Wagen auf. Nora fixiert das gewaltige Justizvollzugsgebäude und kann gerade noch bremsen, bevor sie beinahe mit hoher Geschwindigkeit auf einen stehenden Wagen auffährt. Sie wird nach vorne geschleudert. Noras alte Puppe fällt von der Rückablage auf die Sitzbank und dann mit einem lauten, kläglichen »Mamaaa«, das aus ihrem Bauch tönt, auf den Boden des Autos. Nora dreht sich um. Die blonde Puppe liegt dort mit langen, ausgebreiteten Haaren. Die Augen aufgerissen. Wie tot. Abrupt dreht Nora sich wieder nach vorne, sieht mehrmals hektisch auf die Uhr und versucht vergeblich zu erspähen, warum sie ausgerechnet jetzt hier im Stau stehen muss. Ratlos löst sie den Gurt und lehnt sich zurück.

Den Blick auf die JVA gerichtet, erinnert sie sich, wie sie als Siebenjährige zum ersten Mal dieses Gebäude betrat. Sie hört noch das laute Hallen der Schuhabsätze der Gerichtsdienerin. Und sie sieht, wie sie durch eine riesige braune Flügeltür in den Gerichtssaal geführt wurde. Die Leute drehten sich zu ihr um. Nora drückte ihre Puppe ganz fest an sich. Ihre Schritte wurden immer kleiner, doch die Beamtin schob sie mit Nachdruck weiter in den Saal hinein. Plötzlich entdeckte Nora ihren Vater. Er saß zwischen zwei uniformierten Männern. Nora lief auf ihn zu und hielt ihm stolz ihre Puppe hin.

»Die hat mir der Weihnachtsmann ins Heim gebracht!«

»Papa, wann holst du mich ab? Ich will wieder nach Hause!« Der Vater streichelte mechanisch über das blonde Haar der Puppe. Die Gerichtsdienerin führte Nora behutsam auf den Stuhl im Zeugenstand. Noras Füße kamen nicht bis zum Boden. Sie verschränkte sie ineinander. Ihr Kinn legte sie auf den Kopf der Puppe.

Der Staatsanwalt fragte:

»Nora, du hast uns erzählt, dass dein Papa und deine Mama sich zu Hause laut angeschrien haben. Stimmt das?«

Nora sah nicht auf.

Der Richter fragte:

»Was hat dein Papa denn zu deiner Mama gesagt?«

Nora begann, auf dem Stuhl vor und zurück zu schaukeln.

»Was hat er geschrien, dein Papa?«

Nora reagierte nicht.

Die Stimme des Staatsanwaltes wurde leiser und sehr nett.

»Nora, du musst jetzt wiederholen, was du uns gestern erzählt hast. Du willst doch deinem Papa helfen. Das willst du doch, oder?«

Nora nickte, sah zaghaft ihren Vater an. Der lächelte. Nur ein wenig und anders als sonst. Doch er lächelte – endlich. Nora sah zu ihren baumelnden Füßen hinunter und flüsterte:

»Was Schlimmes hat er gesagt.«

Die Stimme des Staatsanwaltes wurde noch freundlicher als vorher.

»Was hat er Schlimmes gesagt?«

Es war ganz still im Saal. Ganz kurz nur würgte Nora ihre Puppe am Hals.

»Ich bring dich um!«

Der Staatsanwalt wendete sich sofort von ihr ab und verkündete laut:

»Ich wiederhole: Ich bring dich um, hat der Angeklagte geschrien und ist dabei handgreiflich geworden. Jürgen Herbst hat seiner Frau mit Mord gedroht, ihn regelrecht angekündigt.«

Der Richter wollte von Nora wissen, ob das wirklich stimmt. Ganz verstand sie die Worte der Erwachsenen nicht. Doch was sie selbst gesagt hatte, das war wahr. Sicherheitshalber ließ sie nur ihre Puppe für sich nicken. Der Richter gab zwei uniformierten Männern ein Zeichen, damit sie Jürgen Herbst abführten. Sofort rutschte Nora von ihrem Stuhl.

»Papa!«

Sie lief ihm nach.

»Papa!«

Der Vater drehte sich noch einmal um und sah seinem Kind in die Augen. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.

Kurze Zeit, nachdem Nora in das Hochhaus eingezogen war, lief ihr ein Kater zu. Damals war sie spätabends aus der Kneipe, in der sie regelmäßig jobbt, nach Hause gekommen. Es war, als hätte der Kater sie vor dem Haus erwartet, um ihr dann wie selbstverständlich in die Wohnung zu folgen. Nora ließ geschehen, dass das Tier in ihr Einzimmerapartment einzog und war bald fest entschlossen, den Kater nie wieder herzugeben. Da nie jemand eine Vermisstenmeldung an die Hauswand gepinnt hatte, vermutete sie, dass der Kater wahrscheinlich ausgesetzt worden war, fett und gepflegt wie er aussah.

Seit einem halben Jahr wohnt Nora in diesem Hochhaus, bis heute bekam sie kaum einen ihrer Nachbarn zu Gesicht. Nur manchmal steigt ein nach Frittenöl stinkender Koch zu ihr in den Fahrstuhl, der ebenso spät vom Dienst in irgendeinem billigen Restaurant nach Hause kommt, wie sie selbst. In einer alten Plastiktüte transportiert der Mann die dreckige Kochuniform, die er später in den Waschsalon trägt, in dem auch Nora ihre Kleider wäscht. Sie hasst den Geruch von altem Öl und Rauch, der auch an ihr hängt, wenn sie aus der Kneipe kommt, doch nirgends kann man durch einen Nebenjob so viel Geld verdienen und dabei unabhängig bleiben, wie in der Gastro-Szene.

In einer Ecke ihres Apartments stapeln sich volle Kartons. Wohin mit dem alten Kram, der sich in all den Jahren im Heim reichlich ansammelte? Und wozu soll sie sich auch durch den Inhalt der Kartons an ein Leben erinnern, mit dem sie nichts zu tun haben will, weil es nie das ihre war? Auch dieses Apartment ist kein Zuhause für Nora, sondern nur eine Übergangslösung, bis sie ihren Vater aus dem Knast geholt hat. Erst wenn sie mit ihm ein gemeinsames Zuhause hat, würde ihr Leben wirklich beginnen.

Der schwarze Kater rekelt sich auf der Matratze, zwischen ein paar Sachen, die Nora für ihre bevorstehende Reise nach Wolfshagen bereitgelegt hat. Auf dem Tisch liegen verschiedene Zeitschriften, Schere, Kleber, ausgeschnittene Buchstaben und einige Entwürfe ihres selbst geklebten Briefes »DER MÖRDER DEINER MUTTER LEBT HIER!«

Nora kommt aus der winzigen Dusche, streichelt flüchtig ihren Kater und stopft das Papier in den Müll, bevor sie eines der zahlreichen Fotos von der Wand nimmt, auf denen sie als Kind gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrem Vater zu sehen ist – und sehr glücklich aussieht. Das Porträt ihrer Mutter stellt sie auf die Ablage über dem Waschbecken. Einen Moment lang betrachtet sie sich im Spiegel, dann rafft sie ihre Frisur so zusammen, wie die Mutter sie meist trug. Ohne zu zögern schneidet Nora ihr Haar um einige Zentimeter kürzer und beginnt, eine Blondierung aufzutragen.

Über der stark befahrenen Straße steigt eine Wolke aus Abgasen auf, entstanden durch all die Autos, die zur Feierabendzeit aus der Stadt hinaus in die angrenzenden kleinen Gemeinden, in den so genannten Speckgürtel, bewegt werden.

Nora flucht über den stockenden Verkehr, der die Fahrzeit von mindestens zwei Stunden noch mehr in die Länge ziehen wird. Sie versteht nicht, weshalb sich so viele Menschen Tag für Tag scheinbar gleichmütig diesen Strapazen, zwischen ihren Arbeitsplätzen und Wohnungen zu pendeln, aussetzen. Der Kater hockt aufgeregt im Katzenkorb und krallt mit einer Pfote immer wieder nach Noras alter, blonder Puppe.

Nach einer Stunde Fahrt erstrecken sich links und rechts der Autobahn nur noch abgeerntete Felder. Am Horizont ziehen Gewitterwolken auf. Über der Stadt, die Nora hinter sich lässt, scheint noch die Sonne.

Amüsiert betrachtet Nora sich immer wieder im Rückspiegel. Dass sie durch das blondierte Haar ihrer Mutter so stark ähneln würde, hätte sie selbst kaum geglaubt. Nora gefällt sich. Erste Tropfen klatschen gegen die Frontscheibe ihres Autos. Minuten später bewältigt der Scheibenwischer kaum noch den starken Regen. Beinahe übersieht Nora die Abfahrt nach Wolfshagen. Alle paar hundert Meter kleben aufgeweichte Plakate mit dem Hinweis auf ein bevorstehendes Dorffest. Ein Transparent ist quer über die Straße gespannt. Es ist, als wäre es plötzlich Nacht geworden, und Nora schaltet die Scheinwerfer an. Dunkel liegt nun der Wald zu beiden Seiten der Straße. Dies ist der Ort, an dem ihre Mutter Helga Herbst überfahren wurde. Später stellte sich heraus, dass sie bereits tot war, als sie von dem von betrunkenen Jugendlichen gefahrenen Auto überrollt wurde. Wie um sich Mut zu machen, fasst Nora immer wieder neckend nach der Pfote ihres Katers.

»Huhuuu. In Wolfshagen warten schon die Wölfe auf uns … Da musst du aber gut auf mich aufpassen.«

Der Kater schlägt mit seinen Krallen nach Noras Hand.

In Wolfshagen liegen entlang der Straße nur wenige Häuser. Gleich am Anfang des Dorfes befindet sich das größte Haus, das der Schönborns. Auch deren Pferdestall existiert noch. In unmittelbarer Nachbarschaft liegen die Häuser der Liebenthals und Pösels – alle mit sehr gepflegten Vorgärten. In den Wohnzimmern brennt Licht. Nora spürt Aufgeregtheit, denn plötzlich ist all das, was ihrer Erinnerung entrückt schien, wieder sehr nah, fast greifbar. Auf der anderen Straßenseite liegt im Dunkeln ihr eigenes Elternhaus. Nora zögert lange, auszusteigen. Es hat sich eingeregnet, der Scheibenwischer arbeitet gleichmäßig, sein Geräusch hat etwas Beruhigendes für Nora. Sie betrachtet ihr Haus. Als sie endlich aussteigt, regnet es kaum noch. Am Horizont scheint die Sonne für einen Augenblick rot zwischen zwei schwarzen Wolken hindurch, bevor sie für diesen Tag endgültig untergeht.

Nora ist überrascht, wie kalt und windig es geworden ist. Sie nimmt ihren Kater fest in den Arm und geht auf das Haus zu. Die Verriegelung der hölzernen Gartenpforte klemmt. Nora steigt über den morsch gewordenen Jägerzaun. Im verwahrlosten Vorgarten liegt umgefallen ein verrottetes Schild, auf dem »Zu verkaufen« steht. Das Tor des verwaisten Hundezwingers ist offen und schlägt in gleichmäßigen Abständen gegen den Pfosten. Über der Eingangstür des Hauses, das Nora jetzt viel kleiner vorkommt, als vor zwölf Jahren, hängt ein verwittertes Hirschgeweih – der ehemalige Stolz ihres Vaters. Das kleine Klofenster neben der Tür ist eingeworfen worden. Jemand hat »MÖRDER« an die Hauswand gepinselt. Auf den Stufen zum Haus sieht Nora sich noch einmal zum Dorf um und bemerkt, dass auf dem Nachbargrundstück jemand am Zaun steht und sie beobachtet. Überrascht hebt sie die Hand zum Gruß und geht auf den fremden Mann zu.

»Guten Tag, ich bin Nora Herbst. Das Haus, das Haus gehört mir. Meinen Eltern besser gesagt. Es gehört uns.«

Der Mann nickt grinsend, während er ihr aufs nass werdende T-Shirt sieht.

»Feske, Fred Feske. Ich bin hier der Förster.«

»Ach so. Das war mein Vater hier auch mal.«

Feske greift über den Zaun, um den Kater in ihrem Arm zu streicheln, dabei berührt er wie beiläufig ihren Oberkörper.

Nora dreht sich weg und eilt auf ihr Haus zu.