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Ein Engel für Hotte

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Leseprobe

„Schmucklos“ von Anke Gebert

Virulent Kurzkrimis

Kriminalromane von Anke Gebert

Ein Engel für Hotte

Horst greift nach den zwei mit Pommes und Wurst gefüllten Pappen, die Erna ihm über den Tresen schiebt. Im »Zur Ecke« gibt es die beste Currywurst, die man auf dem Kiez kaufen kann, Jägermeister in Fläschchen für zwei Mark und fünfzig das Stück und Holsten Edel in der Flasche. Bei Erna bekommt man für einen Heiermann ein Mittagessen – inklusive Getränk. Wo bekommt man das in Hamburg sonst noch?

Früher hieß der Imbiss »Zum Löffel«. Weil »Zum Löffel« bald nur noch »Zum dreckigen Löffel« genannt wurde, entschloss sich Erna eines Tages, ihrem Laden einen neuen Anstrich und einen neuen Namen zu geben: »Zur Ecke«. Seitdem wird der Imbiss, der in einer Seitenstraße der Reeperbahn liegt, von vielen nur noch »Dreckeck« genannt. Jeder, der Erna kennt, weiß aber, dass es bei ihr nicht dreckig ist.

Horst schiebt sich auf die rote Sitzbank. Er hat das Gefühl, als sei es in Ernas Laden enger geworden, und versucht, den hellgrünen Tisch weiter von sich wegzurücken. Doch das Teil ist festgeschraubt, schon immer. Horst beobachtet Barbara, die am Tresen noch ein Weilchen mit Erna schwatzt. Er liebt diese Stunden, in der er und seine Kollegin die Mittagspause hier im fremden Revier verbringen, nur um ein paar Pommes und die obligatorische Currywurst zu essen. Sie sind allein im Dreckeck. Die meisten Leute kehren um, wenn sie die beiden Uniformierten im Imbiss sitzen sehen. Barbara und Horst.

Und Erna. Wie jeden Tag steht sie in ihrer rosa Kittelschürze mit dem rosa-grün karierten Kragen über den Spültisch gebeugt. Es sieht aus, als könne sie sich nicht mehr aufrichten, als würde sie nur in dieser Haltung in den schmalen Gang zwischen Flaschenregal und Tresen passen. Horst versucht sich vorzustellen, ob Erna irgendwann einmal anders ausgesehen haben könnte, anders als mit dieser weißen Kribbelkrause auf dem Kopf, anders als schätzungsweise siebzig Jahre alt. Wenn Erna eine Marlboro inhaliert, pfeift es in ihrer Lunge. Nach ein paar Zügen hustet sie einen schleimigen Husten, den sie hinunterzuschlucken versucht, wobei ihr Gesicht rot anläuft. Bei anderen Menschen würde Horst sich in solchen Momenten ekeln. Doch genauso wie seiner Mutter vergibt er auch Erna, was er an anderen Menschen unverzeihlich findet.

Auf St. Pauli gibt es Kneipen, die allem Anschein nach niemals schließen, in denen Betrunkene schon morgens um zehn Uhr nach Liedern aus der Musikbox tanzen. »Manchmal möchte ich so gern mit dir …« oder »Fiesta Mexikana« bis zum Abwinken. Bei Erna jedoch wird allmorgendlich vor dem Aufschließen frisch gewischt. Hier merkt man noch, dass ein neuer Tag beginnt. Abends kommen Nutten in die »Ecke«, um sich aufzuwärmen. Dann gerät Erna in Hektik, weil sie unermüdlich für Freier, Touristen und Penner Appelkorn oder Kakao über den Tresen schieben und viele Currywürste klein schneiden muss. Abends löst sich Erna aus ihrer Versteinerung, bewegt sich hin und her in ihrem schmalen Gang.

An einem dieser Abende entdeckten Horst und Barbara »Zur Ecke«. Weil sie zufällig zur gleichen Zeit auf das Revier in Winterhude versetzt worden waren, fühlten sie sich als »die Neuen« verbündet. In einem Anfall von Mut fragte Horst damals Barbara, ob sie etwas zusammen unternehmen wollen, um sich besser kennen zu lernen, für die Arbeit – zum Einstand sozusagen. Horst hatte dabei an Essengehen im Blockhaus (in der unteren Etage, wo sich das preiswerte Selbstbedienungslokal befindet) oder an einen gemeinsamen Kinobesuch (mit Einladung zum »Pizza Hut«, wo man zwei Stück Pizza plus Getränk für weniger als acht Mark bekommt) gedacht. Barbara aber schlug einen Kiezbummel vor. Begeistert war Horst davon nicht gewesen, denn er hatte sich als Polizist nicht umsonst in einen der heilsten Bezirke Hamburgs – nach Winterhude – versetzen lassen. Er hasste das allgegenwärtige Elend in St. Pauli. In Winterhude passierte es äußerst selten, dass er bei Ausübung seines Dienstes in Wohnungen einbrechen musste, um verwahrloste Kinder herauszuholen, deren Mütter seit zwei Tagen im »Goldenen Handschuh« in den »Suren Montag« hineinfeierten und bei jedem Schnaps, der hier montags nur eine Mark achtzig kostete, immer lauter »Hossa« brüllten. Doch auch in Winterhude gibt es Elend, eine andere Form von Verwahrlosung – modern, nennt Horst sie, und sehr verdeckt. Die meisten Leute haben eigentlich alle Voraussetzungen – finanziell, räumlich und zeitlich – für ein zufriedenes Leben, sind aber nicht in der Lage, ihren Kindern mehr als ausreichend Essen und Kleidung zu geben. Die Menschen verwahrlosen emotional. Mit den Folgen hat Horst zu tun. Ein Buch könnte er darüber schreiben.

Eddi betrachtet zufrieden seine Handgranate. Also, wenn er es nicht besser wüsste … Täuschend echt – auf den ersten Blick. Die gesamte Arbeitsfläche seiner Küche ist mit Teilen von Alufolie bedeckt. Manche Stücke sind zerknüllt, andere wieder glatt gestrichen und grau eingefärbt. Dazwischen Zitronen in verschiedenen Größen, Limetten, Wachsmaler und ein Schälchen Zigarettenasche. Heute ist der Tag, an dem Eddi sein Leben grundlegend ändern wird. Und diese beiden mit Alufolie umwickelten Zitronen werden ihm dabei helfen. Ab morgen wird Eddi wieder der sein, der er früher einmal war: der schöne und berühmte Edgar! Freunde dürfen Eddi zu ihm sagen. Seine besten Freunde waren es, die den genialen Einfall hatten, wie sie ihm aus der jetzigen Misere helfen können. Gute Freunde sind uneigennützig. Man erkennt sie in schlechten Zeiten, das hat Edgar in den letzten Jahren begriffen. Darüber hat er in den zurückliegenden Monaten ein Buch geschrieben. Er ist Autor. Schriftsteller. Vor fünf Jahren, als er noch wegen Einbruch einsaß, schrieb Edgar sein erstes Manuskript – ein Knasttagebuch. Den Einbruch hatte ihm ein falscher Freund angehängt. Eddi hatte ihm eigentlich nur seine Wohnung in der Silbersackstraße zur Verfügung gestellt. Sein Kumpel lagerte dort ein paar Sachen zwischen: Rolex-Uhren – alle angeblich billige Kopien aus Thailand. Als die Polizei die Uhren bei Eddi fand, hatte sein »Freund« ein Alibi für die Einbruchszeit. Edgar hatte keines …

Er sollte die Sache endlich vergessen, denn dass er einsaß, hatte – wie die meisten schlechten Dinge im Leben – auch etwas Gutes nach sich gezogen. Im Knast hatte Eddi zu schreiben angefangen und war dadurch berühmt geworden. Um einen schriftstellernden Knacki reißen sich die Talkshows – mindestens ein halbes Jahr lang. Schnell war alles vorbei. Edgars kleiner Verlag ging Pleite.

Danach folgte wieder etwas Gutes: Edgar wurde von einem berühmten Hamburger Regisseur gebeten, auf Grundlage des Tagebuchs ein authentisches Drehbuch für den Großen Deutschen Film zu schreiben. Der Anruf des Regisseurs Arne Krohn kam Eddi wie ein Anruf aus Hollywood vor. Sofort beschloss er, aus der Eineinhalbzimmerbacksteinbauwohnung in der Silbersackstraße in eine Viereinhalbzimmeraltbauwohnung in der Hein-Hoyer-Straße zu ziehen. Bald würde er nicht mehr nur berühmt, sondern auch reich werden, da war er sich sicher. Als Knacki-Autor musste er natürlich auf dem Kiez bleiben, denn die zahlreichen Journalisten, die ihn nach seinem großen Kinoerfolg interviewen wollten, würden eine Adresse in St. Pauli erwarten. Edgar zog in eine modernisierte Jugendstilwohnung mit viel Stuck, Gegensprechanlage und einer Hausmeisterin, die, damit sich kein Elend im Hausflur ausbreiten kann, streng darauf achtet, dass die Eingangstür zu jeder Tageszeit abgeschlossen bleibt. Blut, Urin oder Erbrochenes vor der Tür sind weggewischt, bevor der erste Bewohner morgens das Haus verlässt. Nach dem Umzug von der kleinen in die riesige Wohnung fühlte sich Eddi wie in einem Palast. Er begann, sein Drehbuch »Knackis unter sich« zu schreiben, und begriff schnell, worauf es beim Film ankommen sollte. Der Regisseur, der bald sein guter Freund wurde, war begeistert von der Authentizität, die Edgar mit jeder Zeile zu Papier brachte. »Endlich mal einer, der weiß, wie die Leute reden!« Eddi schrieb Tag und Nacht, überarbeitete, las »Vom Handwerk des Drehbuchschreibens«, verstand die Dreiaktstruktur und an welcher Stelle im Script die Plotpoints sitzen sollten. Der Regisseur ermunterte ihn, sich berühmte amerikanische Knastfilme anzusehen und daraus besonders gelungene Versatzstücke zu klauen. Eddi aber ist kein Dieb, genauso wenig, wie er ein Einbrecher ist. »Knackis unter sich« wurde ein großer Erfolg. Leider stand Eddis Name nicht auf dem Plakat, nicht im Vorspann und auch nicht im Abspann.