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Schmucklos

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Leseprobe

„Ein Engel für Hotte“ von Anke Gebert

Virulent Kurzkrimis

Kriminalromane von Anke Gebert

Schmucklos

Manchmal hasst sie ihr Leben. Zum Beispiel in einem Augenblick wie diesem, wenn sie genau spürt, dass sie in Hundekot getreten ist. Wenn sie es spürt, ohne es zu sehen. Wenn sie sich einreden könnte, dass es nur ein Haufen des feuchten Laubes sei, von dem es in diesem Spätherbst so viel gibt, und doch genau weiß, dass es kein Laub ist. Helen kratzt den Schuh über die Gehwegplatten, um den Dreck loszuwerden und sich von dem Gestank zu befreien, der zu ihr aufsteigt. Widerlich. Der einzige Trost: Auch Sehende treten in so etwas hinein und ärgern sich darüber nicht mehr und nicht weniger als Helen.

Diese Stadt ist schön, doch diese Massen an Hunden und dessen, was sie hinterlassen, verderben jeden Spaziergang, lassen einen ständig auf der Hut sein, zwingen einen, statt den Anblick der vielen besonderen Bäume oder der prachtvollen Villen zu genießen, ständig nach unten zu sehen, vor seine Füße. Wenn man denn noch sehen kann. Helen geht seit vielen Jahren täglich diese Runde. Willistraße, Klärchenstraße, Leinpfadkanal, Heilwigstraße und über die Goernebrücke zurück. Jeden Morgen diese eine Runde, um sich mit Tageslicht und Sauerstoff zu versorgen, bevor sie an die Arbeit, an ihr Klavier geht. Jeden Morgen nach dem Aufstehen und Duschen dieselbe Runde, »einmal um den Pudding«, nennt sie es scherzhaft. Einmal um den Pudding dauerte früher immer genau eine halbe Stunde. Helen ging auch dann, wenn es regnete, denn ging sie direkt nach dem Frühstück ans Klavier, konnte sie sich nicht gut genug konzentrieren und brauchte lange, zu lange, um kreativ zu werden. Es war dann, als wären die Gedanken vom Tag zuvor oder von der Nacht noch überlagert. Wenn Helen spazieren ging, dann dauerte es keine zehn Minuten, bis sich das Durcheinander in ihrem Kopf zu klären begann. Wenn sie zurückkam, konnte sie sofort arbeiten. Immer dieselbe Runde. Die gleiche Anzahl von Schritten, die gleichen Ausblicke. Nur der Wechsel der Jahreszeiten und manchmal eine Veränderung, weil hier oder dort eine Villa am Leinpfadkanal renoviert wurde, hatten Helen gelegentlich von ihren Gedanken abgelenkt.

So war es lange gewesen. Jahr für Jahr. Tag für Tag. Auch noch, als ihre Sehkraft begonnen hatte nachzulassen. Auch noch, als ihre Sehkraft stark nachgelassen hatte. Wenn es keine Brille mehr gibt, die einem beim Sehen hilft, ist man sehbehindert, hatte ihr der Arzt gesagt und sich angehört, als meinte er, Helen wäre bereits blind. Aber Helen ist noch nicht blind. Sie hat noch einen Sehrest. Sie weigert sich, das Zeichen zu tragen, das sie eigentlich tragen sollte. Und sie trainiert die wichtigsten Abläufe ihres Lebens, um sie beibehalten zu können, wie diese Runde, ihre Runde: Willistraße, Leinpfadkanal, Heilwigstraße, Goernebrücke. Die Goernebrücke ist ihre Lieblingsbrücke in Hamburg. Dass Helen in deren Nähe wohnt, scheint ihr immer noch ein Privileg. Da Helen nie aufhörte, die Runde zu gehen, braucht sie nun kaum mehr Zeit für ihren Spaziergang als sie als Sehende benötigte. Inzwischen kann sie den Weg aber nicht mehr ohne Stock gehen. Zu häufig unverhoffte Baustellen, gefährliche Baugruben. Doch meist sind ein paar nette Bauarbeiter in der Nähe, die Helen kommen sehen und sie warnen.

Vor Jahren, als Helen in diese Gegend gezogen war, pfiff ihr der eine oder andere noch nach. Das hatte bereits aufgehört, bevor sie begann, schlecht zu sehen. Das hörte wohl bei jeder Frau Mitte vierzig auf, egal wie gut ihre Augen sind. Gleichgültig, was eine Frau wie Helen mit Ende Vierzig noch alles sieht, von den meisten Männern nicht mehr wahrgenommen.

Helen hat einen Sehrest. Sie kann noch Hell und Dunkel unterscheiden. Der Fußweg ist ein breiter grauer Streifen, auf dem sie sich orientieren kann. Wenn Helen gar nichts mehr sehen könnte, würde es ihr häufiger passieren, dass sie schräg läuft. Unvorstellbar, dass sie mal bis zum Horizont sehen konnte. Unvorstellbar, dass sie Menschen sah, die ihr von weitem entgegen kamen. Unvorstellbar ist eigentlich nicht das richtige Wort. Vorbei ist das richtige Wort. Vorstellen kann sich Helen noch alles. Sie hat sich die Ansichten und Aussichten so gut wie möglich eingeprägt, damit sie sie nie vergessen wird, damit sie weiß, worüber sie spricht, worüber andere sprechen. Damit für sie die Welt nicht noch schmuckloser wird, als sie bereits geworden ist.

Helen geht die Klärchenstraße entlang, Schritt für Schritt, und müsste nun auf der Höhe der kleinen Brücke über dem verwunschen aussehenden Kanal sein. Eines der Häuser am Kanal ist eine große weiße Villa. Eine der schönsten, wie Helen findet. Vier Etagen mit Terrasse, Dachtürmchen, Garten und Bootsanleger. Alles wirkt etwas ungenutzt, weil das Anwesen nur von einer alten, einer inzwischen sehr alten Frau bewohnt wird. Helen muss lächeln. Sie ist über die Jahre mit den Menschen, denen sie auf ihrer Runde begegnet, gemeinsam älter geworden. Die Frau in der weißen Villa zum Beispiel war vor zwanzig Jahren vielleicht zehn Jahre älter als Helen heute. Helen fühlt sich nach wie vor jung. Alles scheint ihr wie immer. Nur ihre Augen, die haben durch eine Krankheit stark nachgelassen, aber das passiert auch anderen, wie sie inzwischen weiß. Nachdem Helen erfahren hatte, dass sie erblinden würde, hatte sie plötzlich das Gefühl gehabt, ständig Menschen zu begegnen, die blind sind. Sie hatte das Gefühl gehabt, dass die Welt voller Blinder sei. Vorher hatte sie diese kaum wahrgenommen. So wie jemand, der sich ein rotes Auto gekauft hatte und plötzlich überall rote Autos sieht, hatte Helen wahrgenommen, wie viele Blinde es tatsächlich gibt. Dass sie langsam, also über die Jahre nach und nach erblinden würde, hatte sie als Vorteil gesehen, denn sie hatte sich nach und nach ans Dunkelwerden gewöhnen können. Helen hatte Abschied nehmen können vom Sehen. Wenn man in diesem Zusammenhang überhaupt von Abschiednehmen, Vorteil oder Gewöhnen sprechen konnte. Daran, dass die Welt für sie so schmucklos geworden war, würde sie sich jedoch kaum gewöhnen.

Helen stützt sich aufs Brückengeländer und richtet ihren Blick zur Villa. Es ist still dort. Manchmal hatte sie früher die alte Frau in ihren weißen Mercedes einsteigen sehen, der neben dem Haus in der Einfahrt stand. Die kleine alte Frau hinter dem hohen Lenkrad, mit einem roten Stockschirm auf der Rückablage. Es war immer ein schönes Bild gewesen, die alte Frau ausfahren zu sehen. Belustigend, aber auch faszinierend. Helen hatte häufiger überlegt, die Frau anzusprechen. Sie war ihr so oft begegnet, dass es naheliegend gewesen wäre, sich zu grüßen und auch miteinander zu reden. Helen bedauert, es nicht getan zu haben, so lange sie sie noch sah. Nun scheint es ihr dafür zu spät zu sein.

Max Weber tritt vor das Haus. Er lässt es so aussehen, als wäre er aus seinem Haus getreten. Immer, bevor er sein Zimmer im Souterrain der Villa verlässt, späht er durch einen Spalt in seiner Tür, ob gerade niemand auf dem Gehweg vor dem Haus zu sehen ist. Und wenn gerade niemand zu sehen ist, kommt er hervor und eilt auf den breiten, von Rosen gesäumten Bereich vor dem Haupteingang der Backsteinvilla. Niemand, der ihn beobachten könnte, geht gerade vorbei. Nur diese Frau mit dem weißen Stock, doch die kann sein Tun ja nicht erkennen.

Die Villa gehört Max Webers Vermietern, zwei alten Leuten, die es sich leisten können, mehrere Etagen des riesigen Hauses am Leinpfad zu bewohnen und nur dieses eine Zimmer im Souterrain vermieten, sich es aber auch leisten könnten, dies nicht zu tun.

Max ist vor zwei Jahren nach einer gescheiterten Ehe und mehreren gescheiterten Geschäftsideen hier untergekommen. Ihm ist kein Geld geblieben, wenn er etwas hatte, steckte er es immer wieder in neue Ideen. Gute neue Ideen, die eigentlich zum Erfolg hätten führen müssen, für die die Menschen um ihn herum offenbar aber noch nicht reif genug gewesen waren.

Max atmet tief durch, richtet Schal und Kaschmirmantel und bleibt noch ein wenig vor seinem Haus stehen. Ein Paar geht Arm in Arm vorbei. Max lächelt ihm zu. Die Frau blickt auf die letzten blühenden Rosen im Vorgarten und sagt zu Max, wie schön seine Rosen seien und wie schön es sein müsse, in einer Villa wie dieser wohnen zu dürfen. Max nickt lächelnd.

Wie einer, der es sich leisten kann, morgens gegen zehn Uhr spazieren zu gehen, begibt er sich auf seine tägliche Runde. Max braucht diesen Anblick der weißen Villen und der großen dunkelblau oder schwarz glänzenden Autos in den Auffahrten. Dieser Anblick spornt ihn an, hat ihn schon immer angetrieben, weiterzumachen, angetrieben, Geld zu machen. In den letzten Jahren hat er allerdings begriffen, dass die wenigsten Menschen, die hier wohnen, zu ihrem Reichtum gelangt sind, weil sie viel arbeiteten, sondern weil es ihnen vergönnt war, irgendwann einmal eine solche Villa zu erben. So etwas stand Max leider nicht in Aussicht, und es machte ihn manchmal ganz verrückt, wenn er beobachtete, dass in das eine oder andere Haus junge Leute einzogen, als wäre es die normalste Sache der Welt, zukünftig eine dreistöckige Villa mit Wassergrundstück am Leinpfad zu bewohnen. Diese jungen Leute, die konnten doch gar nicht wertschätzen, was sie bekommen hatten. Wenn auch Max Weber es eines Tages geschafft haben würde, dann hätte er es aus eigener Kraft geschafft. Er würde dann stolz sein können. Stolz sein können die, die alles geschenkt bekommen haben, nicht.