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chirurgische allgemeine zeitung

Kritische Kommentare und humorvolle Anregungen zur Chirurgie

von Bartolomäus Böhm

chirurgische allgemeine zeitung

Die gesammelten kritischen Kommentare zum Fach Chirurgie im Speziellen und der Medizin im Allgemeinen sind als Einzeltexte für sich jeweils abgeschlossen und wurden im Lauf der vergangenen Jahre nach und nach in der Zeitschrift CHIRURGISCHE ALLGEMEINE veröffentlicht. Der eine oder andere Leser dieses Kompendiums wird nun vermutlich den roten Faden suchen, der die einzelnen Texte zu einem Gesamtwerk verbindet und zusammenschnürt. Diesen roten Faden gibt es tatsächlich. Ich habe ihn allerdings kurz vor der endgültigen Zusammenstellung entfernt. Sollten Sie die Spuren des roten Fadens dennoch erblicken, dann ist das äußerst erfreulich.

Manche Leser mögen wissen wollen, wodurch ich mich veranlasst gesehen habe, diese Kommentare zu schreiben. Böswillige mögen mir sogar den Oberlehrer unterstellen, der meint, alles besser zu wissen. Ich kann Sie diesbezüglich aber beruhigen – als ehemaliger Hochschullehrer habe ich den Oberlehrer überwunden und mich dem Staunen zugewandt.

Die meisten Kommentare wurden durch konkrete Ereignisse provoziert, an denen ich indirekt oder direkt teilnehmen durfte. Diese oftmals schon skurrilen Ereignisse weckten Erinnerungen aus meiner Kindheit in mir, denn ich verschlang damals Sagen, Legenden und Märchen, wobei mir Till Eulenspiegel und die Bürger von Schilda am besten gefielen. Wie überrascht war ich, im klinischen Alltag und auf Kongressen zu erkennen, dass diese Erzählungen nicht auf bloße Fiktion beruhten. Auf Kongressen und Industrieausstellungen tummeln sich noch heute viele geschickte Rattenfänger, die mit ihrer Musik so manchen klaren Blick trüben oder Geist vernebeln. Auch im klinischen Alltag wagt kaum jemand, den nackten Hoheiten ihren bedauerlichen Zustand zu offenbaren. Und sehr viele Personen beteiligen sich weiterhin daran, mit allerlei Behältern Licht in das Fensterlose Rathaus von Schilda zu tragen.

Diese Eindrücke wurden in den Kommentaren intellektuell verarbeitet. Sie sind somit als humorvolle Anregungen gedacht, dogmatische Regeln zu hinterfragen oder zumindest ihre Grenzen zu erkennen und liebgewonnenen Ritualen den Rücken zu kehren. Und wenn Ihnen diese Kommentarsammlung als zu chaotisch erscheint, dann möchte ich an einen Ausspruch von Terry Pratchett erinnern: „Das Chaos besiegt die Ordnung, weil es besser organisiert ist.“

Bartholomäus Böhm, Berlin im Juni 2017

chirurgische allgemeine zeitung
7. Jahrgang | 11+12/2006

Sind Chefärzte Hellseher?

Die Situation kennen wir alle: Es ist Chefarztvisite auf einer 30 Bettenstation und der Chef hat wieder einmal eine miese Laune. Genervt von der scheinbaren Schlamperei auf der Station kontrolliert er bei der Visite drei Akten. Alle sind fehlerhaft, wie auch bei der letzten Visite. Mit dieser Aktion verschafft er sich einerseits die Be­wunderung der nachgeordneten Ärzte, weil er instinktiv und quasi hellseherisch Fehler findet, und demonstriert andererseits, daß nichts seiner Aufmerksamkeit entgeht und er jeden auch noch so kleinen Fehler aufdecken könnte – wenn er wollte. Bei der Visite hat er die Assistenten auch gleich rund gemacht. Schließlich vermutete er eine große Schlamperei, denn alle Krankenakten scheinen schlecht geführt zu werden. Vor einiger Zeit hatte der Chefarzt kurzzeitig versucht, die Mitarbeiter speziell zu motivieren. Um diese Motivationstechnik zu erlernen, hatte er sogar einen Managerkurs besucht. Allerdings hatte das bei den Mitarbeitern überhaupt nicht gefruchtet, so daß er es bei der altbewährten Methode beließ – ebenfalls ohne Erfolg. Seltsamerweise sind die anwesenden Oberärzte bei der Visite immer sehr gelassen. Haben Sie sich mit den übersinnlichen Fähigkeiten des Chefs abgefunden? Ge­hört es zu den angeborenen Qualitäten eines Chefarztes, zielsicher fehlerhafte Krankenakten zu finden?

Die extrem geringe Wahrscheinlichkeit Fehler tatsächlich zu entdecken, macht Assistenten zu Recht stutzig

Es scheint also, daß Chefärzte mit hellseherischen Fähigkeiten be­gabt sind, denn sie finden bei der Visite fast immer problematische Akten – egal ob sorgfältig oder schlampig gearbeitet wurde. Aus der Sicht der eifrigen Assistenten ist das sehr ärgerlich und demotivierend, weil ihre Arbeit nicht nur nicht gewürdigt, sondern sogar als schlampig eingestuft wird. Wie aber kommt es, daß der Chef immer die problematischen Akten findet? Das kann doch kein Zufall sein? Um diese Frage zu beantworten, wie wahrscheinlich ein solcher „Glücksgriff“ ist, müßte zuerst geklärt werden, welches die reale Situation ist – sind alle 30 Akten fehlerhaft oder lediglich die entdeckten drei? Im ersten Fall beträgt die Wahrscheinlichkeit einhundert Prozent, daß fehlerbehaftete Akten gefunden werden, denn schließlich enthalten alle Fehler. Gleichgültig welche Akte gezogen wird, sie enthält Fehler. Da der Chefarzt von sich weiß – oder zumindest selbstkritisch vermutet –, daß er kein Hellseher ist, muß er annehmen, daß genau diese Situation vorliegt. Deshalb ist er auch so verärgert und unterstellt allgemeine Schlamperei.

Ganz anders sieht es aus der Sicht des Stationsarztes aus. Der Assistenzarzt weiß ganz sicher, daß er sehr sorgfältig gearbeitet hat und daß es nur diese drei fehlerbehafteten Akten unter den 30 Patientenakten hat geben können. Die Wahrscheinlichkeit unter diesen Bedingungen die richtigen drei Akten aus 30 Akten zu ziehen, läßt sich leicht berechnen. Für die erste Akte ist sie 1/30, für die zweite 1/29 und für die dritte 1/28. Das Ereignis, alle drei Akten während der Visite zufällig zu finden, tritt mit einer Wahrscheinlichkeit von (1/30)*(1/29)*(1/28) = 0,00004 bzw. 0,004 Prozent ein. Diese extrem geringe Wahrscheinlichkeit läßt Assistenten zu Recht stutzig werden. Da der Chefarzt dieses Wunder aber bei fast jeder Visite vollbringt, scheidet der Zufall definitiv aus. Chef­ärzte scheinen eben doch etwas Besonderes zu sein!

Selbst bei sehr sorgfältiger Arbeit ist es nur eine Frage der Zeit, bis man einen Dokumentationsfehler begeht

Betrachtet man die Situation nüchtern, ergibt sich ein detailreicheres Szenario: Es geht eigentlich gar nicht um Akten, sondern um die einzelnen Dokumente, die fehlerhaft sein können. So be­müht sich etwa ein Assistent, mit größter Sorgfalt eine Krankenakte zu führen, die aus n Teilen besteht, die allesamt einen Fehler aufweisen können. Eine kleine chirurgische Akte mag nur 15 relevante Dokumente enthalten, eine intensivmedizinische allerdings beinhaltet 50 und mehr Dokumente. Man kann also mindestens 15, 50 oder noch mehr Fehler pro Akte begehen, wenn nur ein Fehler pro Dokument unterstellt wird. Bei 30 Akten wären das 450 bzw. 1500 mögliche Fehler. Selbst wenn man sehr sorgfältig arbeitet, ist es offensichtlich nur eine Frage der Zeit, bis man einen Dokumentationsfehler begeht. Aber wie findet der Chef dann aus den 450 bzw. 1500 Dokumenten so zielsicher die fehlerhaften? Ist hier Magie im Spiel oder täuschen uns die Wahrscheinlichkeiten? Lassen Sie uns berechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine einzelne Akte vollständig bzw. fehlerfrei ist. Dazu unterstellen wir zunächst, daß der Assistent extrem gewissenhaft arbeitet – was bedeutet, daß er nur in einem Prozent Fehler macht. In 99 Prozent ist die Akte also vollständig und korrekt. Wenn wir nun weiterhin unterstellen, daß die Akte aus 15 relevanten Teilen besteht, dann ist die Akte in (0,99)15 vollständig. Dies entspricht einer Wahrschein­lichkeit von 0,86 – also 86 Prozent.

Auch wenn solch eine extreme Sorgfalt aus der Sicht des Chefarztes wünschenswert wäre, ist sie völlig unrealistisch. Im Routine­alltag werden wir diese Rate irgendwo bei 85 bis 95 Prozent ansiedeln müssen. Eine sehr gute Chefarztsekretärin schätzte intuitiv, daß sie in der Routine eine Akte bestehend aus zehn Teilen in ungefähr 85 Prozent völlig korrekt kontrollieren und abheften kann – vorausgesetzt, sie wird nicht gestört. Wenn Ärzte ihrer Dokumentation mit 95prozentiger Sorgfalt nachkommen, dann dürfen wir das mit gutem Gewissen als sehr gut bezeichnen. Wahrscheinlich ist 85 Prozent aber eher die Regel. Berechnen wir, wie häufig eine Akte bestehend aus 15 Teilen fehlerfrei ist, wenn wir mit 85- oder 95prozentiger Genauigkeit arbeiten. Sie beträgt im ersten Fall (0,85)15 = 0,087, was 8,7 Prozent bedeutet, und im zweiten Fall (0,95)15 = 0,46, also 46 Prozent. Sind wir also weniger sorgfältig, dann ist fast jede Akte unvollständig und sind wir sehr sorgfältig, dann ist es immer noch die Hälfte.

Chefärzte sind keine Hellseher, sondern einfach nur schlau – Assistenten sollten daher die Ausgangssituation ändern

Nun wird klar, daß man bei den sehr umfangreichen Akten der Intensivstation quasi immer einen Dokumentationsfehler entdecken kann. Wenn eine Akte aus 50 Teilen besteht, betragen die entsprechenden Wahrscheinlichkeiten (0,85)50 = 0,0003 und (0,95)50 = 0,077. Als Gutachter wird man also immer eine unvollständige ITS-Akte finden – allerdings nicht weil schlampig dokumentiert wurde, sondern weil es so viele relevante Dokumente sind. Chef­ärzte sind keine Hellseher, sondern einfach nur schlau. Sie wählen bei der Visite diejenigen Akten aus, bei denen irgend­etwas unklar gewesen sein könnte, bei der der Assistent im Streß war und nicht seine sonstige Sorgfalt walten lassen konnte. Da hier die Wahrscheinlichkeit niedrig ist, alles korrekt gemacht zu haben, findet der Chefarzt immer einen Fehler – selbst beim besten Assistenten! Vorausgesetzt er durchforstet die gesamte Akte, bis er einen Fehler gefunden hat. Wenn Chefärzte verläßlich einschätzen wollen, wie gut ihre Ärzte dokumentieren, dann sind die Visite oder eine wahllose Durchsicht der Akte dazu definitiv nicht geeignet.

Wie kann der Assistent sich vor der unberechtigten Kritik des Chefarztes schützen? Sicherlich nicht, indem er den Chefarzt bei der Visite demütig die Akte durchblättern läßt, bis er etwas gefunden hat. Denn aufgrund der beschriebenen Wahrscheinlichkeiten, hat der Assistent keine Chance, „fehlerfrei“ zu entkommen. Die einzige effektive Strategie besteht darin, die Ausgangs­situation zu ändern. Wenn der Chef die Akte sehen will, um etwas zu überprüfen, dann sollte er den Chefarzt fragen, wonach er denn suche oder welches Dokument er denn einsehen wolle. Wird nur ein Dokument überprüft, dann entspricht das eher der individuellen Fehlerwahrscheinlichkeit des Assistenten. Mit jeder weiteren Suche schwinden die Chancen des Assistenten, daß der Chefarzt keinen Fehler findet.

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8. Jahrgang | 1/2007

Der Patient als nicht-triviale Maschine

Wenn ein Arzt den Menschen als Maschine be­zeichnet, dann sollte ihm die Mißachtung seiner Kollegen eigentlich gewiß sein. Solch eine Einstellung konterkariert nämlich nicht nur die immanente moralische Verpflichtung dem Patienten gegenüber, sondern sie vergleicht die Beziehung des Arztes zum Patienten mit der eines Automechanikers zu seinem Auto. Solch eine Gleichstellung ist empörend und inakzeptabel. Ja, man könnte sogar soweit gehen und behaupten, daß derjenige, der den Menschen als Maschine be­zeichnet überhaupt kein klinisches Verständnis aufweist oder noch niemals als Arzt tätig war – sondern eher als Gesundheits­ökonom, Versicherungsmakler oder Verwaltungsmanager. Interessanterweise scheinen dennoch viele Ärzte diese Maschinenversion vom Menschen in ihrer täglichen Arbeit zu favorisieren: Die Suche nach technischen Standardisierungen von Behandlungen, um die Qualität des Produktes zu sichern, oder eindeutigen Handlungsempfehlungen, um Hilfe in problematischen Situationen zu gewährleisten, ist nämlich nur dann sinnvoll, wenn wir ein technisiertes und voraussagbares Verhalten des Patienten unterstellen – eben den Maschinenmenschen. Die industrielle Herstellung von Produkten wird uns als die effektivste Technik vorgegaukelt, die wir deshalb auch in die ärztliche Behandlung integrieren sollen. Durch ökonomische Zwänge angetrieben, fühlen sich einige Kollegen offensichtlich herausgefordert, die „industrielle“ Behandlung des Menschen zu versuchen. Allerdings müssen sie dabei unterstellen, daß der Mensch sich wie eine triviale Maschine verhält.

Triviale Maschinen können analytisch enträtselt werden

Was ist eine triviale Maschine? Stellen Sie sich ein beliebiges Gerät vor, das einen Eingang (Knopf, Schalter, o.ä.) und einen Ausgang (Display, Lautsprecher, o.ä.) aufweist. Wenn zwischen dem Eingang und dem Ausgang eine eineindeutige Beziehung besteht, dann handelt es sich um eine triviale Maschine (s. Abbildung 1). Das Gerät führt auf Knopfdruck bestimmte Prozesse durch und liefert ein definiertes Produkt. Es ist ein deterministisches System, denn die Beziehung zwischen Eingang und Ausgang ist durch die Konstruktion des Gerätes ein für alle mal festgelegt.

Dadurch wird sichergestellt, daß zu allen Zeiten eine bestimmte Eingabe zu einem bestimmten Produkt führt. Das Verhalten trivialer Maschinen ist immer eindeutig vorhersagbar, wenn sie fehlerfrei funktionieren. In unserem alltäglichen Umgang mit dem Auto, der Waschmaschine, einem Toaster und Geräten im Operationssaal gehen wir immer davon aus, daß sie sich als triviale Maschinen erweisen. Wir legen einen Schalter um oder drücken auf einen Knopf und erwarten, daß ein vorhersehbares Ereignis eintritt. In diesem Sinne verhalten sich diese Maschinen trivial. Jede realisierte erfolgreiche Technologie basiert letztlich auf einem trivialen Verhalten der konstruierten Maschine. Jede Art der Ab­weichung von diesem trivialen Verhalten ist unerwünscht und wird als Störung aufgefasst. Manchmal verhalten sich triviale Maschinen nicht-trivial. Wenn wir eines Tages das Auto nicht mehr starten können, dann gehen wir davon aus, daß sich etwas in dem inneren Zustand des Autos verändert hat und einer Reparatur bedarf. Nicht-Trivialität signalisiert hier Reparaturbedürftigkeit. Manchmal werden wir mit trivialen Maschinen konfrontiert deren Funktionsweise wir nicht kennen, – aber von denen wir dennoch gerne wüßten, wie sie funktionieren. Vielfach können wir auf die interne Konstruktion unbekannter Geräte schließen, indem wir die Zusammenhänge zwischen Eingang und Ausgang sorgfältig beobachten. Stellen wir uns dazu ein ganz primitives Gerät vor, bei dem wir zwei Zahlen eingeben und eine dritte erhalten. Wir geben zwei und drei ein und erhalten acht. Wir geben drei und vier ein und erhalten 81. Nun geben wir vier und vier ein und erhalten 256. Als mathematische Genies vermuten wir, daß die beiden Zahlen ein Rechenergebnis liefern nach der Formel: xy. Durch die eindeutige Transformationsregel der Maschine bzw. durch die festgelegten Prozesse in der Maschine ist es für uns also möglich, aus dem Eingang und Ausgang auf die innere Konstruktion der trivialen Maschine zu schließen. Durch einen analytischen Prozeß können wir das Konstruktionsprinzip und die Wirkungsweise erkennen. Triviale Maschinen können offenbar analytisch enträtselt werden.

Komplexe biologische und kognitive Systeme werden in Rückkoppelungssystemen reguliert

Was aber sind nicht-triviale Maschinen? Nicht-triviale Ma­schinen zeichnen sich durch einen Rückkoppelungsmechanismus (R) innerhalb der Maschine aus (s. Abbildung 2). Durch die interne Rückkoppelung wird die Maschine in verschiedene interne Zustände (Z) versetzt, die dann den Ausgang (A) mitbestimmen.

Es handelt sich zwar auch um ein deterministisches System, aber es ist nur dann eindeutig vorhersagbar, wenn man zusätzlich zum Eingang auch die genaue Konstruktion und die internen Zu­stände der Maschine kennt. Da die internen Zustände der Maschine von dem vorherigen Eingang abhängen, ist eine nicht-triviale Maschine geschichtsabhängig, sie wird von ihrer Vorgeschichte beeinflußt. In einer nicht-trivialen Maschine kann es ge­schehen, daß derselbe Eingang zu unterschiedlichen Ergebnissen führt. Für uns ist deshalb nicht eindeutig vorhersagbar, wie nicht-triviale Maschinen auf eine Eingabe reagieren. Nur wenn wir tatsächlich die exakte Arbeitsweise und die konkreten internen Zu­stände kennen würden, wäre eine Reaktion vorhersagbar oder planbar.

Vermutlich werden Sie schnell zustimmen, daß komplexe biologische und kognitive Systeme in Rückkoppelungssystemen reguliert werden und sie somit als nicht-trivial anzusehen sind. Damit scheitern alle ernsthaften Versuche einer industriellen Be­handlung. Die Suche nach hoch­gradigen und effektiven Standardisierungen wäre nur sinnvoll, wenn wir uns als triviale Maschinen verstehen würden. Das würde aber keiner ernsthaft behaupten wollen, oder? Wenn wir uns als nicht-triviale Maschine ansehen, deren Behandlungseffekte nicht sicher vorhersagbar sind, sind wir für eine standardisierte Behandlung ebenfalls ungeeignet. Sollte sich jemand überhaupt nicht als Maschine verstehen, sondern als komplexer biologischer Organismus mit einem autonomen Willen, dann scheitern alle schematischen Behandlungen und sind flexiblen und individuell-adaptierten Behandlungskonzepten unterlegen.

Wirklicher Fortschritt ist nur durch kreative Ideen kombiniert mit kritischer Hypothesentestung wahrscheinlich

Da wir in den meisten Fällen weder die internen Zustände noch die genaue Konstruktion von nicht-trivialen Maschinen kennen, könnte man versucht sein, die Sequenzen von Eingang-Ausgang-Paaren zu beobachten, um dann auf dieser Grundlage eine Hypothese über die Arbeitsweise der Maschine aufzustellen – wie wir es bei der trivialen Maschine erfolgreich gezeigt haben. Bei ihr war ja leicht erkennbar, daß sie nach der Formel xy arbeitet. Wir konnten aus den Eingaben und Ergebnissen schnell auf die Wirkungsweise und den Konstruktionsprozeß schließen. Ge­lingt das aber auch bei einer nicht-trivialen Maschine, wenn wir die internen Zustände nicht kennen? Können wir irgendwie auf die Funktionsweise der Maschine schließen, um die Arbeitsweise durchsichtig zu machen? In der medizinischen Forschung ist das eine beliebte analytische Methode. Man beobachtet, beobachtet und beobachtet. Man versucht durch Beobachtungen, die Funktionsweise des menschlichen Organismus zu entschlüsseln. Ein solcher analytischer Versuch mag auf den ersten Blick sinnvoll erscheinen. Man müßte sich nur der langweiligen Prozedur aussetzen, alle Sequenzen des Eingangs und Ausgangs auf eine Regel zu überprüfen. Und man könnte hoffen, solch eine Regel auch zu finden. Die Wahrscheinlichkeit, daß man auf diese Weise erfolgreich ist, ist leider extrem gering, – um nicht zu sagen völlig aussichtslos. Selbst wenn wir nur zwei Ausgangs-Zustände (0 und 1) und vier zweiwertige Eingangs-Zustände (0 und 1) in Betracht ziehen, dann gibt es bereits 6 × 1076 Möglichkeiten, die wir erfassen müßten. Steigen die Eingangszustände auf 16 an, so steigen die Möglichkeiten auf 1600 × 1070000. Selbst wenn wir unterstellen, daß es Billionen Galaxien mit Billionen intelligenten Lebewesen gäbe, die jeweils Billionen von Computern hätten, die Billionen Mal leistungsfähiger wären als die heutigen, und die seit dem Urknall rechnen würden, wäre nur ein kleiner Bruchteil aller Möglichkeiten erfasst. Anhand dieser Zahlen ist leicht erkennbar, daß selbst einfache nicht-triviale Maschinen prinzipiell nicht durch analytische Verfahren zu enträtseln sind. Es ist deshalb völlig aussichtslos, durch analytische Beobachtungen allein medizinische Probleme lösen zu können. Wirklicher Fortschritt ist nur durch kreative Ideen kombiniert mit kritischer Hypothesentestung in gut geplanten Studien wahrscheinlich – die allerdings immer das Risiko des Irrtums in sich bergen und uns keine absolute Sicherheit garantieren.

chirurgische allgemeine zeitung
8. Jahrgang | 3/2007

Standard Operating Procedures –
der Gral der modernen Medizin

In einigen Jahrhunderten werden sich Legenden um die gegenwärtige Medizin ranken. Es wird als das Zeitalter beschrieben werden, in dem versucht wurde, dem Individuum das Individuum zu entreißen. Ein Zeitalter, in dem die Massenproduktion als Massenabfertigung auf den Menschen übergriff. Ein Zeitalter, in dem sich die medizinische Behandlung auf Schienen bewegte – sogenannten Behandlungspfaden oder SOP (Standard Operating Procedures). Diese Legenden werden – wie die Gralslegende – auch tragische Figuren erwähnen, die sich der industrialisierten Behandlung des Menschen verschrieben hatten und erst zur Einsicht kamen, als sie selbst zu Pa­tienten wurden. Genauso wie dem Gral wundersame Eigenschaften zugesprochen worden sind – Glückseligkeit, ewige Jugend und Speisen in unendlicher Fülle – soll die medizinische Behandlung durch Behandlungspfade effektiver, besser und preiswerter werden, wobei als Vorbild die industrielle Massenproduktion angesehen wird. Da es unzweifelhaft ist, daß wir heute Massengüter in besserer Qualität und höherer Quantität produzieren als früher, liegt es nahe, diese Prozesse auch im medizinischen Alltag umzusetzen. Das denken zumindest diejenigen, die ausschließlich in der Ökonomie ausgebildet wurden und kein Verständnis für die ärztliche Behandlung aufbringen.

Der Gesundheitsökonom wurde in seiner Ausbildung mit einem Hammer ausgerüstet und darin trainiert, überall Nägel zu sehen, die er einschlagen kann

Das Problem wird verschärft, weil sich die Befürworter von SOP die medizinische Behandlung offenbar so vorstellen, als wollten sie Toastbrot produzieren. Dieses Beispiel wurde ausgewählt, weil in der Sendung mit der Maus kürzlich gezeigt wurde, wie Brot industriell hergestellt wird. Auf der einen Seite werden dem Produktionsprozeß ausgewählte Zutaten zugeführt und in einem hoch technisierten Verfahren wird daraus Brot hergestellt, geschnitten und abgepackt – fertig. Das war echt interessant. Es war vor allem sehr beeindruckend, wie es gelingt, eine hohe Brotqualität durch die intensive Kontrolle der Zutaten und der sorgfältigen Überwachung des Herstellungsprozesses zu garantieren.

Wahrscheinlich wird sich so mancher Gesundheitsökonom gesagt haben, daß solche Prozesse auch auf die überwiegende Mehrheit der Krankheiten anwendbar sein könnten. Die Vorteile solch einer industriellen Behandlung sind evident: Die Kosten wären geringer, das Qualitätsproblem wäre gelöst und der Wildwuchs von verschiedenen Behandlungsarten wäre beschnitten. Wenn man einmal davon absieht, daß auch evidente Sachverhalte täuschen können, darf man dem Gesundheitsökonomen keinen Vorwurf daraus machen, daß er die gegenwärtigen Probleme auf diese Weise zu lösen versucht. Er wurde in seiner Ausbildung mit einem Hammer ausgerüstet und darin trainiert, über­all Nägel zu sehen, die er einschlagen kann. Also wird er genau das tun, wozu er ausgebildet wurde. Der Vorwurf trifft eher die Ärzte, die sich daran beteiligen oder dem Treiben nicht widersprechen.

SOP sind ein schlechtes Substitut für eine gute Ausbildung und können schon gar nicht ein gutes Lehrbuch oder das Literaturstudium ersetzen

Warum sollten aber SOP verteufelt werden? Warum sollten wir Behandlungspfade überhaupt ablehnen? Solange sie nur darin bestehen, einen Behandlungskorridor zu bestimmen, in dem sich der Arzt orientieren kann, um die beste Behandlungsform zu finden, spricht natürlich nichts gegen solche Instrumente. Sie sind damit aber nicht mehr als niedergeschriebene Klinikstandards, – die es schon seit Jahrzehnten gibt und die früher den Assistenten in ihrer Ausbildung beigebracht wurden. Wenn SOP primär dazu gedacht sein sollen, den Anfänger anzuleiten und ihm in schwierigen und unbekannten Situationen zu unterstützen, dann verfehlen sie gänzlich ihr Ziel, denn Anfängern teilt man nicht einfach mit, was sie zu tun haben, sondern man erklärt ihnen die Hintergründe, Pathophysiologie und Konsequenzen. Erst mit diesem profunden Wissen wird der junge Arzt gute Entscheidungen treffen können. SOP sind ein schlechtes Substitut für eine gute Ausbildung und können schon gar nicht ein gutes Lehrbuch oder das Literaturstudium ersetzen. SOP erscheinen am Ende nur als intellektuelle Amputation einer kritischen Auseinandersetzung mit einem komplexen medizinischen Problem. Letztlich würden auch in diesen Situationen SOP nur funktionieren, wenn der Arzt verstanden hat, worum es eigentlich geht.

Es kann natürlich auch sein, daß wir SOP oder Behandlungspfade benötigen, weil wir unsere Mitarbeiter gar nicht mehr ausbilden können oder wollen. Wenn wir dem Mitarbeiter in Zukunft nur noch einen Stapel SOP vorlegen wollen und dann erwarten, daß er hervorragende Arbeit leistet, ist das ein Irrweg – wie uns die Ausbildung in einigen anästhesiologischen Kliniken offenbart. Oder benötigen wir SOP wegen der schlechten interdisziplinären Zusammenarbeit? Haben wir verlernt, mit anderen medizinischen Disziplinen zu kommunizieren, so daß wir rigide interdisziplinäre Ab­sprachen benötigen?

Wir können uns im klinischen Alltag die „Qualität“ oder den Gesundheitsstatus der Patienten nicht aussuchen

SOP oder Behandlungspfade werden aber häufig anders verstanden, und dagegen muß protestiert werden. Aus der Industrie und im Umgang mit trivialen Maschinen wird uns vorgeführt, wie man durch standardisierte Prozesse optimale Qualität zu geringen Preisen erreichen kann. Dabei wird übersehen, welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, damit solche industriellen SOP funktionieren. Die Ausgangssituation muß nämlich klar definiert sein und die Ausgangsbedingungen müssen immer vergleichbar sein. SOP sind Regeln mit einem festgelegten Geltungsbereich. Bevor nach einer solchen rigiden Regel gehandelt werden darf, muß überprüft werden, ob diese Regel in der spezifischen Situation überhaupt angewendet werden soll. SOP imponieren so als verbindliche Handlungsbeschränkungen, quasi als Rezepte, die für eine bestimmte Situation ein exaktes Vorgehen definieren. In ihnen wird klar vorgeschrieben, was wann und wie gemacht werden soll. Wer gutes Brot backen will und die Zutaten nicht exakt nach dem Rezept dosiert oder die Backtemperatur willkürlich verändert, wird niemals eine verläßliche Brotqualität erhalten. Aber ist die medizinische Be­handlung eines Patienten tatsächlich mit der industriellen Massenproduktion vergleichbar? Sind die Ausgangsbedingungen immer hinreichend klar formuliert und von gleich bleibender Qualität? Wir können uns im klinischen Alltag die „Qualität“ oder den Gesundheitsstatus der Patienten nicht aussuchen. Wir können den Patienten nicht eine sinnvolle Operation verwehren, weil er wegen eines Diabetes oder einer chronischer Niereninsuffizienz ein erhöhtes Operationsrisiko aufweist. Natürlich läßt sich mit guten Ausgangsprodukten ein exzellentes Dinner zubereiten und gesunde Patienten lassen sich besonders gut und komplikationsarm behandeln. Aber genau das unterscheidet den klinischen Alltag von der industriellen Produktion oder der Zubereitung eines Abendessens. Außerdem ist zu fragen, ob in problematischen Situationen hinreichend verläßliche Informationen verfügbar sind, um eine fundierte und sichere Entscheidung zu treffen? Für SOP im engeren Sinne, wie zum Beispiel „wie wird Brot ge­backen“ oder „was ist zu tun, wenn während eines Fluges das rechte Triebwerk brennt“ gelten ganz klare Regeln mit definierten Bedingungen und Handlungsanweisungen. Diese sicherlich erfolgreichen SOP sind völlig ungeeignet für die klinische Praxis, weil die Situation meist ungewiß bleibt, die Bedingungen unklar sind, wenige Informationen vorliegen und der Mensch keine triviale Maschine ist (s. Kommentar in CHAZ 1/2007, S. 1).

Werden SOP dagegen weiter gefaßt, werden sie in einer relativen unverbindliche Allgemeinheit formuliert, dann können sie als Leitlinie sinnvoll sein, bedürfen aber immer einer kritischen Überprüfung durch den Handelnden. Die Entscheidungen unter Risiko, die wir täglich im klinischen Alltag treffen müssen, erfordern eine sehr gute Ausbildung unserer Mitarbeiter. Nur durch eine zeitnahe und effektive Interpretation der Leitlinie und Adaptation an die konkrete Situation werden richtige Entscheidungen getroffen. Werden Behandlungspfade und SOP dagegen im engeren Sinne verstanden, dann wird es ihnen nicht anders ergehen als dem Gral, der ebenfalls von Siechtum, Unfruchtbarkeit und Sterilität umgeben war. Interessanterweise waren damals die Sucher des Grals wie Parzival ausgewählte Persönlichkeiten, die sich durch allgemeine Unbedarftheit auszeichneten und nicht selten als Narren beschrieben wurden.