Der kleine Fürst – 153 – Alina und der gute Wolf

Der kleine Fürst
– 153–

Alina und der gute Wolf

Wie in den größten Wirkungen Familienbande wachsen

Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.keltermedia.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-983-2

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»So kurz vor dem Ziel zu scheitern ist das Allerschlimmste«, sagte Baronin Sofia von Kant niedergeschlagen. Ihre Hände nestelten nervös an einem Zipfel ihrer Jacke, sie konnte sie nicht ruhig halten.

Kriminalrat Volkmar Overbeck, der mit Sofia und ihrem Mann, Baron Friedrich, in einem der Salons von Schloss Sternberg zusammensaß, nickte. »Ich weiß, was Sie fühlen, Frau von Kant«, erwiderte er. »Meinen Leuten und mir geht es ähnlich, das können Sie sich ja wahrscheinlich vorstellen.«

Der Baron versuchte, wie so häufig, am fehlgeschlagenen Einsatz der Polizei auch etwas Gutes zu entdecken. »Immerhin wissen wir jetzt, dass Sie auf der richtigen Spur waren, Herr Overbeck.«

»Aber die Entführer wissen es nun auch, fürchte ich. Sie sind uns immer noch den entscheidenden Schritt voraus.«

Der Kriminalrat war ein häufiger Besucher im Schloss geworden, seit der langjährige Sternberger Butler entführt worden war. Eberhard Hagedorn hatte sich im Nachbarort mit einem alten Freund getroffen, war aber anschließend nicht, wie angekündigt, ins Schloss zurückgekehrt.

Zum Glück waren jedoch von einem Hobbyfotografen rein zufällig Fotos von der Entführung gemacht worden, die sich für die Polizei als sehr hilfreich erwiesen hatten, ebenso wie die Aussagen einiger weiterer Zeugen. Da aber die strikte Anweisung der Entführer lautete, die Polizei solle nicht eingeschaltet werden, wurde offiziell lediglich nach dem vermissten ›Eberhard H.‹ gesucht. Es war allerdings ein Foto des Butlers veröffentlicht worden, viele Leute hatten ihn erkannt und wussten jetzt zumindest, wer der vermisste Mann war.

Die Familie von Kant, zu der außer Baronin Sofia und Baron Friedrich noch ihre Kinder Anna und Konrad, sowie ihr Neffe Christian von Sternberg gehörten, war durch die Entführung tief getroffen worden, denn Eberhard Hagedorn war für alle viel mehr als ein Butler. Zwar gehörte er nicht zur Familie, aber Vertrauens- und Respektsperson war er dennoch, und es gab nicht wenige Geheimnisse, die die Teenager mit ihm und nicht mit ihren Eltern teilten. Ohne ihn fehlte ein wichtiger Mensch im Schloss, zumal er es meisterhaft verstand, alles so zu lenken, dass es reibungslos lief.

Die Aussage einer alten Dame hatte am Tag zuvor für einen Polizeieinsatz in den Vogesen gesorgt. In der Nähe der deutsch-französischen Grenze hatten deutsche und französische Polizisten gemeinsam ein Haus im Wald gestürmt. Das Haus war leer gewesen, kurz zuvor verlassen, die Spurensicherung hatte jedoch eindeutig ergeben: An diesem Ort war Eberhard Hagedorn gefangen gehalten worden.

Sie waren also kurz vor dem Ziel gewesen und dennoch gescheitert. Das war für alle eine bittere Erkenntnis, zumal die Sorge um den alten Butler wuchs. Zwei Lösegeldübergaben waren bisher gescheitert, Anweisungen für eine dritte waren noch nicht eingegangen. Ob die Entführer wussten, dass die Polizei ihnen sehr dicht auf den Fersen gewesen war oder ob sie rein zufällig ihre Unterkunft gewechselt hatten, war nicht bekannt, aber der offensichtlich eilige Aufbruch deutete auf ersteres hin, und das wiederum hieß, dass Eberhard Hagedorns Situation sicherlich heikler geworden war. Wenn die Entführer die Nerven verloren, würde er es zuerst spüren.

»Ich möchte noch einmal mit Ihnen über den jungen Mann reden«, sagte der Kriminalrat mit gedämpfter Stimme. »Können wir sicherstellen, dass er uns nicht hört?«

Sofia und Friedrich wechselten einen Blick. »Ja, natürlich«, sagte der Baron. Er rief nach Jannik Weber, der umgehend erschien. »Bitte schließen Sie die Tür, Jannik, wir möchten in der nächsten Viertelstunde nicht gestört werden.«

»Sehr wohl, Herr Baron.«

Der Blick des erst neunzehnjährigen jungen Mannes streifte den Kriminalrat, doch er ließ nicht erkennen, was er dachte. Wie man ein ausdrucksloses Gesicht machte, hatte er sich bei Eberhard Hagedorn abgeschaut.

Nachdem er die Tür des Salons geschlossen hatte, sagte der Kriminalrat: »Wir haben ihn gründlich überprüft, und ich muss gestehen, dass wir nichts gefunden haben. Trotzdem bin ich noch immer misstrauisch, was ihn betrifft.«

»Aber Sie sagen doch selbst, dass Sie nichts gefunden haben«, entgegnete die Baronin. »Wir sind sehr froh, ihn hier zu haben, er ist diskret und gibt sich die größte Mühe, Herrn Hagedorn zu ersetzen.«

»Ich weiß, Frau von Kant. Aber er ist zwei Tage vor der Entführung hier aufgetaucht, um sich von Herrn Hagedorn ausbilden zu lassen. Finden Sie das nicht merkwürdig?«

»Er hat sich lange vorher an Herrn Hagedorn gewandt mit der Bitte, bei ihm lernen zu dürfen, und es war ziemlich unwahrscheinlich, dass etwas daraus werden würde«, erklärte die Baronin. »Wir hatten Herrn Hagedorn schon oft vorgeschlagen, jemanden einzustellen, der ihm ein wenig Arbeit abnehmen könnte, er hat nie etwas davon wissen wollen. Jannik konnte unmöglich ahnen, dass er dieses Mal anders reagieren und zu welchem Zeitpunkt das geschehen würde. Eigentlich sprach überhaupt nichts dafür, dass wir uns alle gemeinsam entschließen würden, einen jungen Mann von Herrn Hagedorn zum Butler ausbilden zu lassen.«

»Außerdem, aber das haben wir Ihnen ja schon mehrmals gesagt, lag doch ursprünglich eine Verwechslung vor. Eigentlich sollte Herr von Roggen entführt werden, dem Herr Hagedorn sehr ähnlich sieht.«

Alexander von Roggen war ein sehr vermögender Unternehmer, bei dessen Sohn sich die Entführer zunächst gemeldet hatten.

»Es ist aber auch möglich, dass die Entführer nur wollten, dass es so aussieht, als hätten sie es auf Herrn von Roggen abgesehen, damit erst gar kein Verdacht auf Jannik Weber fällt«, gab der Kriminalrat zu bedenken.

»Ich kann mir nicht helfen, Herr Overbeck, aber Ihre Theorie kommt mir sehr weit hergeholt vor«, sagte Baron Friedrich. »Jannik ist neunzehn Jahre alt, seine Eltern führen die Apotheke unten im Ort, er hat gerade ein sehr gutes Abitur gemacht, ist bestens integriert, jeder, den man fragt, äußert sich positiv über ihn. Wie kommen Sie darauf, dass er sich an einer Entführung beteiligen würde?«

»Ich weiß, wie unwahrscheinlich das alles in diesem besonderen Fall klingt«, sagte Volkmar Overbeck. »Aber der Zeitpunkt, zu dem er hier aufgetaucht ist, ist merkwürdig, und über diesen Punkt stolpere ich: Er war genau einen Tag hier mit Herrn Hagedorn zusammen, danach ist der Mann entführt worden. Das macht mich einfach stutzig. Und es gibt noch etwas, das mir nicht in den Kopf will: Wie man hört, hat er ein ausgezeichnetes Abitur gemacht, er hätte sich sein Studienfach und seinen Studienort aussuchen können, jede Universität hätte ihn mit Kusshand genommen, auch ins Ausland hätte er gehen können. Die ganze Welt stand ihm offen. Und er entscheidet sich dafür, Butler zu werden? Für mich ist das absolut unglaubwürdig.«

»Über diesen Punkt sind wir auch gestolpert, und natürlich haben wir ihn danach befragt, als er sich vorgestellt hat. Er hat uns seinen Wunsch sehr glaubwürdig erklären können. Für ihn ist es ein Herzenswunsch, Butler zu werden. Er interessiert sich nicht dafür, die Welt zu sehen, er findet es schöner, wenn die Welt, gewissermaßen, zu ihm kommt«, sagte Baronin Sofia.

»Und welchen Nutzen sollten seine Komplizen überhaupt daraus ziehen, dass er hier ist?«, fragte der Baron.

»Nun, sie wüssten dann zum Beispiel, dass unsere Leute sich hier mit ihren Abhöreinrichtungen eingerichtet haben«, erwiderte der Kriminalrat. »Sie wüssten auch ziemlich gut über das Bescheid, was wir reden, denn ich wette mit Ihnen, dass hier die Wände Ohren haben. Ganz abgesehen davon, dass er in aller Ruhe die Lage inspizieren und ihnen sagen könnte, dass sie ruhig noch mehr verlangen sollen, Sie würden auch das bezahlen. Ein junger Mann, der nicht unter Verdacht steht, kann im Schloss Gold wert sein.«

»Aber er steht ja jetzt unter Verdacht, zumindest bei Ihnen.«

Kriminalrat Overbeck ließ seinen Blick nachdenklich von der Baronin zum Baron wandern. »Bei Ihnen nicht? Nichts von dem, was ich sage, beunruhigt Sie?«

»Nein«, antwortete die Baronin. »Es beunruhigt mich nicht. Ich vertraue Jannik.«

»Ich auch«, sagte der Baron.

Der Kriminalrat stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich hoffe nur, Sie erleben keine böse Überraschung. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich sage nicht, dass er ein Komplize der Entführer ist, ich sage nur, er könnte es sein, weil es ein paar Merkwürdigkeiten in seiner Geschichte gibt, die mich nachdenklich stimmen. Ich will nur, dass Sie auf der Hut sind. Sie haben im letzten Jahr so viel durchmachen müssen, dass ich Ihnen keine weiteren schlimmen Erfahrungen oder menschliche Enttäuschungen wünsche – und von denen hat es ja, wie ich von Ihnen selbst weiß, auch einige gegeben.«

»Das stimmt«, gab die Baronin zu.

Sie hatten in der Tat ein schlimmes Jahr hinter sich. Begonnen hatte die Unglücksserie mit einem Hubschrauberabsturz, bei dem das Fürstenpaar von Sternberg ums Leben gekommen war, Christians Eltern. Der Junge war also mit fünfzehn Jahren Vollwaise geworden, Sofia hatte mit Fürstin Elisabeth, ihrer Schwester, zugleich ihre engste Freundin verloren. Die Kants hatten Christian sofort als ihr drittes Kind zu sich in den Westflügel von Sternberg geholt, wo sie seit Jahren wohnten. Anna, Konrad und Christian waren ohnehin wie Geschwister aufgewachsen, sie waren in den auf das Unglück folgenden Monaten noch enger zusammengerückt.

Gerade, als wieder so etwas wie Normalität einzukehren begann, war der nächste Schlag gekommen: Eine Frau namens Corinna Roeder hatte behauptet, eine mehrjährige Beziehung mit Christians Vater unterhalten zu haben, als dieser schon verheiratet gewesen war, und aus dieser Beziehung sei ein Sohn hervorgegangen, der heute siebzehnjährige Sebastian.

Da der Junge dem verstorbenen Fürsten sehr ähnlich sah, hatte sich die öffentliche Meinung bald gegen das Haus Sternberg gewandt und sich auf Corinna Roeders Seite geschlagen. Es hatte Monate gedauert, bis sie schließlich, auch auf Druck ihres Sohnes, gestanden hatte, dass Sebastians Vater ein gewisser Sven Helmgart war, ein Berufsverbrecher, der geglaubt hatte, aus seiner Ähnlichkeit mit Fürst Leopold Kapital schlagen zu können. Sven Helmgart war nach wie vor auf der Flucht vor der Polizei.

Diese sogenannte ›Affäre‹ hatte die Familie enorm unter Druck gesetzt, vor allem natürlich Christian, der sich plötzlich genötigt sah, seinen Vater zu verteidigen, der zu Lebzeiten allseits verehrt und bewundert worden war.

Nach alledem war die Baronin zusammengebrochen und hatte sich nur sehr langsam wieder erholen können. Trauer, Stress und beständige Aufregung hatten ihren Tribut gefordert. Unter anderem hatte es sie sehr gekränkt, dass viele ihrer angeblichen Freunde, die Sternberg sonst immer gern einen Besuch abgestattet hatten, sich während der ›Affäre‹ nicht mehr meldeten. Es gab nicht wenige, die sich völlig von der Familie abwandten, weil sie unterstellten, diese habe das Doppelleben des Fürsten stillschweigend gedeckt. Dass dieselben Leute jetzt so taten, als hätte es das Schweigen der vergangenen Monate nicht gegeben, machte die Sache nicht besser. Sofia und Friedrich hatten jedoch aus ihren Erfahrungen Konsequenzen gezogen. Sie sprachen viel weniger Einladungen nach Sternberg aus als zuvor und lehnten nicht selten ab, wenn jemand ›ein paar Tage zu Besuch‹ kommen wollte, der sich in schwierigen Zeiten als unzuverlässig erwiesen hatte.