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Die Huren des Apothekers

 

Historischer Roman

von Tatjana Stöckler

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-943531-11-4

ISBN 978-3-943531-10-7 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-943531-09-1 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Illustration: Diana Isabel Franze

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

Quelle Zitat Folgeseite: www.dasschwarzenetz.de

 

LASS DIE RUHENDEN TIEFER SCHLAFEN.

LASS DIE WACHENDEN WACH BLEIBEN.

OH, MAIN DE LA GLOIRE,

VERSTRÖME DEIN LICHT.

UND FÜHR´UNS ZU UNSERER

BEUTE HEUT´ NACHT

 

Kapitel 1 - Die Diebeshand

 

Wie Skelettfinger kratzten tief hängende Äste über das Dach der Kutsche. Luzia duckte sich unwillkürlich, als ob sie hier im Inneren Schrammen fürchten müsste. Ein Schlagloch schüttelte das Gefährt so sehr durch, dass sie sich nur mit Mühe auf ihrem Platz halten konnte. Ärgerlich schob sie den Vorhang zur Seite und sah aus der Seitenluke, doch sie erkannte nur vorbeihuschende Baumstämme. Blätter fegten so dicht vorüber, dass sie die Stoffbahn wieder sinken ließ, damit ihr nicht die Äste ins Gesicht schlugen.

»Auf diesem Weg kommen wir doch unmöglich nach Marburg«, murrte Magdalene.

»Das nächste Mal gehe ich wieder zu Fuß.« Luzia keuchte unter der nächsten Erschütterung und klammerte sich an ihrer Sitzbank fest.

»In deinem Zustand solltest du auf dich Acht geben.«

Luzia schnaubte auf. »Jetzt sage mir noch einmal, dass eine Fahrt wie diese meiner Schwangerschaft weniger schadet als ein Fußmarsch!«

Ein Zweig peitschte den Vorhang ins Innere des Einspänners, Luzia schob ihn wütend zurück an seinen Platz. Unter diesen Umständen traute sie sich nicht, noch einmal aus dem Fenster zu schauen, geschweige denn sich hinauszulehnen, um Jerg, den Kutscher, zu maßregeln. Mach dir keine Sorgen, hatte Lukas gesagt, es gibt dort Männer, die dich behüten werden. Zu diesen gehörte Jerg sicherlich nicht. Sowohl sie als auch Magdalene hatten mehrfach versucht, den vierschrötigen Mann auf dem Kutschbock anzurufen, jedoch tat er so, als ob er sie nicht bemerkte. Dabei hörten sie deutlich jeden seiner Flüche, mit denen er das Pferd bedachte. Zumindest fand Luzia diesen Jerg noch erträglicher als Contz, ihren Kutscher vom Vortag, der es nicht fertigbrachte, sein dreckiges Lachen zu verstecken, das er bei jeder sich bietenden Gelegenheit hören ließ. Es wurde Zeit, dass Magdalene einen eigenen Pferdeknecht einstellte und sie nicht mehr angewiesen waren auf die unfreundlichen Bediensteten der Nachbarin.

Das Knallen der Peitsche und ein lauter Ruf des Kutschers gingen einem besonders tiefen Schlagloch voraus. Ein Knacken ließ Luzia zusammenfahren, gleich darauf stand der Wagen in Schieflage und beide Passagiere saßen auf dem Boden.

Magdalene rappelte sich hoch und steckte den Kopf aus dem Fenster. »Jerg! Was gibt es denn nun schon wieder?«

Das ganze Gefährt schwankte bedenklich, als der massige Mann vom Kutschbock herunterstieg. »Keine Sorge, Jungfer«, brummte er. »Gleich geht’s weiter. Nur ein Riss in der Speiche.«

Beruhigend klang das nicht. War etwa ein Rad gebrochen? Bei der Fahrweise dieses Mannes würde das Luzia nicht wundern. Sie schob sich an Magdalene vorbei und öffnete den Schlag, aber schon nach einem kurzen Stück berührte die Unterkante der Tür den Waldboden und Luzia musste sich herausschlängeln. Hinter ihr zeterte Magdalene: »Luzia, Liebes, so warte doch auf mich!«

Zum Glück hatte es seit gestern nicht geregnet, sodass Luzia kaum in die weiche Erde einsank. Nur wenige Schritte weiter sah es ungemütlicher aus und das Schlagloch hinter ihnen füllten Matsch und eine noch immer Wellen schlagende Pfütze. Luzia streckte Magdalene hilfreich eine Hand entgegen und fing sie auf, als sie sich ungeschickt aus der Kabine fallen ließ.

Am Rücken des Kutschers vorbei spähte Luzia auf das linke Hinterrad, das fast bis zur Hälfte im Schlick steckte. Nicht nur ein Riss durchzog die Speiche, sondern ein kompletter Bruch. Der Mann grinste mit einer Zahnlücke zwischen braunen Stummeln. »Dauert net lang, Frau.«

»Möge der Herr deinen Worten Wahrheit verleihen«, murmelte Magdalene und streckte ihr Kreuz.

Auch Luzia hatte das Bedürfnis, ihre Knochen zu bewegen. Die Waldluft roch frisch und sie sog tief den Atem ein. Mit geschürzten Röcken wand sie sich an der Kutsche und dem unruhig stampfenden Pferd vorbei und schaute sich um. Gehörte dieser Wald noch Lukas oder schon dem Landgrafen? So oft ihr Gemahl ihr auch die Grenzsteine gezeigt hatte, sie konnte sich nie merken, wie viel Land ihm tatsächlich gehörte, genauso wie sie bei seinen vier Häusern in der Stadt durcheinanderkam, wer welches bewohnte und welches renoviert wurde, ob es von der Seite seines Vaters kam oder zur Aussteuer der Mutter gehörte. Wahrscheinlich lag es daran, dass sie so viel mit dem Einrichten des Hauses im Wald zu tun hatte, dass der weitere Besitz ihres Gatten sie nicht kümmerte.

Der Weg durch die Bäume lag vor ihnen wie ein Tunnel, aber die tief ausgefahrenen Geleise zeigten, dass es sich um eine oft befahrene Straße handelte. Nur schienen sich mehr niedrige Karren darauf zu bewegen als hohe Kutschen, denn das Geäst hing tief.

»Wir gehen ein paar Schritte voraus«, rief sie dem Kutscher zu, der nur mit einem Knurren antwortete.

Widerspruch lag in Magdalenes Miene, die furchtsam Abstand zum Pferd suchte und dabei mit ihren Röcken im Unterholz hängenblieb. Lächelnd löste Luzia die Ranken aus dem feinen Stoff und führte ihre Schwägerin an der Hand auf den gebahnten Weg, wo es sich einfacher gehen ließ. »Es duftet nach Pilzen«, stellte Luzia fest.

»Ich frage die Nachbarin, ob eines der Mädchen welche suchen kann.«

Das hatte Luzia nicht damit gemeint. Zuerst einmal traute sie weder der Nachbarin noch ihren Schützlingen, und dann liebte Luzia den Duft frischer Pilze, aber der Geschmack lag ihr nicht so sehr. Sicher, im Falle einer Hungersnot kannte sie keinerlei Bedenken, doch gerade jetzt genoss sie es, sich die Leckerbissen heraussuchen zu können. Magdalene gab jedem von Luzias Gelüsten bereitwillig nach und lobte sie sogar dafür, als ob das Kind besser geriete, je mehr Begierden die werdende Mutter äußerte. Dabei sah man Luzia bisher kaum etwas an. Sie schnürte das Mieder nicht mehr so fest und trug weitere Röcke, aber bisher hatte nicht einmal die Nachbarin etwas bemerkt, die doch ständig mit Schwangeren zu tun hatte. Allerdings wandten sich die armen Dinger erst an sie, wenn der geschwollene Leib alle Blicke auf sich zog.

»Luzia, muss es sein, dass wir uns auf dem Weg abmühen?«

Mühe bedeutete es überhaupt nicht, den Geleisen zu folgen. Zu Fuß vom Herrenhaus auf dem Lahnberg über den Knüppeldamm den steilen Hang in die Stadt hinab zu wandern, das nannte Luzia Mühe. Teilweise gelang es selbst ihr nur, mit Halt an Büschen rückwärts laufend und auf jeden Schritt achtend das Gelände zu bewältigen. Magdalene war ihr nur ein einziges Mal gefolgt und beanspruchte seitdem jedes Mal einen der unfreundlichen Kutscher der Nachbarin, wenn sie etwas besorgen wollte oder die Kirche besuchte.

Ohne auf Magdalenes Unkenrufe zu achten, marschierte Luzia geradeaus. Die ersten Blätter färbten sich gelb, aber das Moos und die Kräuter am Wegesrand zeigten üppiges Grün. Nur wenige Sonnenstrahlen durchbrachen das dichte Blättergewölbe über ihnen, doch die hinterließen Wärme auf Luzias Gesicht. Unzählige Düfte durchzogen den Wald, nach nur wenigen Schritten jeweils ein anderer: Waldmeister, Tannengrün und Blumenduft. Auf einmal stach anderes in Luzias Nase.

»Puh, hier ist etwas gestorben!« Auch Magdalene bemerkte es.

Nun, das geschah oft im Wald. Einen Augenblick dachte Luzia an Wölfe oder Bären, ein Schauer zog über ihren Rücken. Nein, so dicht an der Stadt, auf einem oft befahrenen Weg würde keine Gefahr drohen. Es sei denn, einer der berüchtigten Räuber lauerte ihnen auf. Luzia zögerte. Man hörte wahre Schauergeschichten. Vielleicht sollten sie sich besser nicht so weit von der Kutsche entfernen?

Sei’s drum, der Geruch wurde unangenehm. Luzia schritt kräftiger aus, um dem Einfluss zu entrinnen, doch anscheinend lag die Quelle der Ausdünstung direkt vor ihnen. Ein sanfter Luftzug hielt ihnen entgegen und brachte den Odem des Todes mit sich. Magdalene hielt den Ärmel vor die Nase und senkte das Gesicht. Wenige Schritte vor ihnen krümmte sich der Weg; dort würden sie aus dem Gestank herauskommen. Schon erkannte Luzia, dass sich der Tunnel aus Laub zu einer Lichtung weitete. Das Sonnenlicht stach ungefiltert schmerzhaft in ihre Augen. Blinzelnd schritt sie ins Freie.

Ein Stoß von der Seite ließ sie mit den Armen rudern, sie verlor fast ihr Gleichgewicht und stützte sich zuletzt an Magdalene ab. Die Schwägerin kreischte auf. Mit einer Hand beschattete Luzia ihre Augen und schaute sich erschrocken um. Rechts verschwand ein lebendes Lumpenbündel im Gebüsch. Eine Bewegung vor ihnen zog ihren Blick auf sich. Auch dort huschten Gestalten auseinander wie Ratten im Fackelschein. Nur ein Schatten verschwand nicht. Von einem Galgen baumelte in weiten Schwüngen ein Gehenkter.

Nach einer Schrecksekunde überzeugte Luzia sich, dass keine Gefahr drohte, sie überwand sich und fasste Magdalene am Arm. Mulmig strich sie ihrer Schwägerin über die Schulter. »Keine Angst, niemand tut uns etwas.«

Magdalene schluckte, dann heftete sich ihr Blick auf den Hingerichteten. Noch immer bewegte sich die Gestalt heftig, drehte sich um sich selbst und schlenkerte die Glieder. Luzia konnte ihren Blick nicht von dem geschwollenen Gesicht reißen. Blau verquollen drängte sich die Zunge zwischen die wulstigen Lippen, die Augen starrten trübe. Der Knoten des Seils lag nicht, wie es sich gehörte, hinter dem Ohr, sondern im Nacken, das Genick wies auch nicht den üblichen Knick auf. Das bedeutete, dass der Tote vor seiner Erlösung hatte leiden müssen – Absicht oder ein Stümper als Henker?

Die Schlinge hatte sich tief in den Hals eingefressen, dessen Farbe oberhalb der Einschnürung tief violett, darunter fahl weiß leuchtete. Ein Hemd trug der Tote nicht mehr. Seine Brust wies Brandmale auf, Spuren der Folter. Schaudernd wollte Luzia die Augen abwenden, aber es gelang ihr nicht. Sie brachte es lediglich fertig, dass ihr Blick langsam tiefer wanderte. Ihre mühsam aufrecht erhaltene Fassung bröckelte. Auf einmal überfiel sie Übelkeit. Die rechte Hand fehlte.

Magdalene packte Luzia am Arm und zog sie vorwärts, an der Leiche vorbei. »Komm weiter, Liebes, dieser Anblick ist nichts für dich in deinem Zustand.«

Ihr Zustand hatte gar nichts damit zu tun, dass sie am liebsten schreien wollte. Diese barbarische Strafe des Handabhackens für Diebstahl hatte sich als Stachel in ihrem Hinterkopf festgesetzt. Wie ein Damoklesschwert schwebte die Furcht über ihr, eines Tages so zu enden. Frauen hängte man nicht so schnell, wenn man sie beim Diebstahl erwischte, doch das andere wünschte sich Luzia keinesfalls.

Als sie an dem Hingerichteten vorbeitrat, enthüllten ihre aufgerissenen Augen weitere Schrecknisse: Der Gehenkte war nicht der einzige, wenn wohl auch der frischeste. Hinter ihm baumelten am gleichen Balken mindestens fünf oder sechs, der letzte nur noch ein mit schwarzen Fetzen behängtes Skelett. Ein Stück weiter erhoben sich Räder in den Himmel, auf denen menschliche Überreste verrotteten. Vom Fleisch entblößte Sehnen hielten zerschmetterte Knochen um die Speichen geschlungen, während schwarze Vögel beim Streit um die letzten Brocken grinsende Schädel hin und her schwingen ließen.

Dunkelheit schob sich von den Seiten in Luzias Blickfeld, wollte das Grauen hinter einem Schleier der Ohnmacht verhüllen. Ihre Knie begannen zu zittern, sich in Hirsebrei zu verwandeln.

»Lumpenpack! Diebsgesindel, Abschaum, Geschmeiß, Hundsfott!«

So laut dröhnte die Stimme mit seltsamem Akzent über den Richtplatz, dass Luzias Schultern sich verkrampften und sie wieder Gefühl in ihren Beinen spürte. Energisch drückte sie das Kreuz durch und trat einen Schritt rückwärts, um nicht umzufallen. Magdalene hängte sich mit einem Stöhnen an Luzias Arm. Vom anderen Ende der Lichtung rannte ihnen ein breitschultriger Mann entgegen, der einen dicken Knüppel schwang.

»Wenn ich die erwische, denen steche ich die Augen heraus!«

Wutschäumend stürmte der Riese dicht an ihnen vorbei, wobei er mit seiner Waffe in den Wald drohte. Keuchend hielt er an und sah sich um, blieb beim Galgen stehen und schüttelte den Kopf. »Dem armen Teufel auch noch die Hände abschneiden, wo kommen wir da hin?« Entschuldigend wandte er sich zu den beiden Frauen herum. »Gekennt habt Ihr die nit?«

Eifrig schüttelte Luzia den Kopf und vermied es, auf die rechts grün und links rot gefärbte Kleidung des Mannes zu starren. Er glättete sein wirr hochstehendes Haar und auf einmal trat ein Lächeln in sein Gesicht, eine Metamorphose, die ihn zu einem anderen, freundlichen Menschen machte – wenn auch zu einem sehr großen. »Vergebt mir, Ihr Frauen. Tat ich Euch bös erschrecke‘?«

Magdalene wich zurück und Luzia musste ihr folgen, wenn sie nicht umfallen wollte. Sie schüttelte den Kopf und deutete in die Richtung, wohin derjenige verschwunden war, der sie fast umgerannt hatte. »Nein, das haben andere besorgt. Dies ist doch nicht der Weg nach Marburg?«

Der Henker zupfte an seinem zweifarbigen Wams und wies mit dem Kopf an dem Gehenkten vorbei in die Richtung, aus der sie kamen. »Eine halbe Meile zurück teilt sich der Weg. Nach Westen hättet Ihr Euch wenden müssen, nicht nach Süden. Doch von hier aus könnt Ihr Euch nach den Augen richten.«

Seine Hand deutete voraus und tatsächlich konnte Luzia im Morgendunst die charakteristische Silhouette des Marburger Schlosses erkennen, das über den Kirchtürmen thronte.

»Sagte ich nicht, dass der Weg nicht stimmt?«, meldete Magdalene. Furchtsam duckte sie sich. »Das waren doch keine … Räuber?«

»Galgenvögel, Leichenschänder«, schimpfte der Henker. »Die Stadtväter weigern sich, genug Geld für die Bewachung der Richtstätte rauszurücken. Zweimal am Tag nur schlendert die Stadtwache vorbei, das sieht das Lumpenpack von Weitem und gibt Fersengeld! Gleich drauf lungert’s wieder herum.«

»Aber was gibt es hier zu stehlen?«, entfuhr es Luzia.

Mit einem Grinsen trat der Große zurück, hob seinen Knüppel und schlug ihn leicht gegen den Arm des Gehenkten, der dadurch wieder ins Trudeln kam. »Die Hände schneiden sie ihnen ab, den armen Sündern.«

Luzias Blick verfing sich wieder am nackten Armstumpf. Tatsächlich, bei genauerem Hinsehen sah die Wunde aus, als sei sie erst nach dem Tode zugefügt worden. Fransig hingen Hautfetzen herab, die Knochen schimmerten bläulich. Ein Henkersbeil hinterließ nicht diese Verwüstung. Ein Scharfrichter brannte die durch eine scharfe Klinge verursachte Wunde sorgfältig aus, denn der Delinquent sollte doch nicht an seiner Strafe zu Tode kommen. Oft genug hatte Luzia solche Stümpfe sehen müssen.

Bevor sie einen klaren Gedanken fassen konnte, rumpelte es hinter dem Henker und er trat aus dem Weg. Das Pferd mühte sich ab, unter den Peitschenhieben des Kutschers den Wagen das letzte Stück den Hügel hinaufzuziehen. Der Grobian auf dem Kutschbock zeigte in einem breiten Grinsen seine zerfressenen Zähne. »Frische Luft genug für die Damen?«, gackerte er. Sein einladend ausgestreckter Arm wies auf die Kabine. »Hüpft rein, Ihr Hochwohlgeborenen, dass ich die Verrichtungen meiner Herrin erledigen kann!«

Magdalene stemmte die Hände in die Hüften. »Derzeit bin ich deine Herrin, du grober Klotz! Den Weg verfehlen und es dann mir anlasten? Wer glaubst du, wer du bist?«

Immer wieder fand Luzia es erstaunlich, wie die bescheidene Magdalene so primitive Kerle überraschte, wenn sie energisch wurde. Aus verächtlichem Grinsen wurde eine dümmliche Miene mit weit aufgerissenen Augen, bis der Flegel seinen Kopf einzog und das Spiel seiner Zehen beobachtete, die aus den Schuhen schauten. Nach kurzer Bedenkzeit sprang der Spießgeselle vom Bock, wobei er ein Päckchen herunterriss, und beeilte sich, den Frauen den Schlag zu öffnen. Hoheitsvoll stolzierte Magdalene an ihm vorbei und stieg wie eine Königin ein. Der Anblick des devoten Knechtes belustigte Luzia sosehr, dass sie ihr nicht gleich folgen konnte, ohne in lautes Lachen auszubrechen, also zwinkerte sie stattdessen dem Henker zu, bevor sie ihrer Schwägerin hinterherhuschte. Aus dem Wagen streckte sie den Kopf heraus und rief den Kutscher an. »Fahr diesmal langsamer! Wir tragen keine Milch bei uns, die gebuttert werden soll!«

Der Rüpel brachte sogar eine halbwegs ausreichende Verbeugung fertig. Bevor sich der Vorhang schloss, bemerkte Luzia, wie er das in schmuddeliges Tuch verpackte Bündel aufhob, das bei seinem Sprung vom Bock gefallen war. Die Schnur löste sich, als er es einsteckte. Luzia erkannte im Inneren schwarz umrandete Fingernägel. Gerade hatte Luzia sich gefreut, aus dem Todesgestank herauszukommen, da spürte sie schon wieder Galle ihre Kehle emporsteigen. Krampfhaft schluckte sie und lehnte sich zurück. Sogleich setzte sich die Kutsche wieder in Bewegung.

»Was ist dir, Luzia? Du bist weiß wie eine Wand.«

Zaghaft wehrte Luzia die ihre Wange streichelnde Hand Magdalenes ab. »Nichts, es geht schon. Der Kutscher nahm dem Gehenkten die Hand«, flüsterte sie.

Magdalene runzelte die Stirn. »Nein, unmöglich. Er hätte uns auf dem Weg überholen müssen. Dabei hat er doch das Rad gewechselt.«

Das sah Luzia ein. »Dann hat er sie gekauft von den Spitzbuben, die der Henker verjagt hat.«

»Aber was will er mit einer abgeschnittenen Hand anfangen?«

Luzia zuckte die Schultern. Warum sollte sie die Jungfer ängstigen mit dem Aberglauben der Diebesgilde?

Bitte, Magdalene, sagte sie still vor sich hin, finde einen Kutscher, der dir gefällt, damit wir nicht weiter diesen Jerg ertragen müssen. Erleichtert stellte sie fest, dass nach dem Wenden auf dem Richtsberg nur noch frische Luft in die Kutsche drang. Luzia sollte sich bemühen, dieses Erlebnis zu vergessen, denn es brachte kein Glück, wenn man auf dem Markt Stoffe für das Neugeborene mit Übelkeit im Bauch aussuchte.

***

 

Mit einem Grinsen sah Frank der Kutsche hinterher. Die alte Jungfer hatte ja ganz schön Haare auf den Zähnen! Nicht jeder wagte solche Widerworte einem missgelaunten Bären wie dem Kutscher gegenüber. Nun, es würde seinen Grund haben, warum sie noch nicht unter der Haube war – ganz im Gegensatz zu ihrer blonden Begleiterin. Luzia hatte die Jungfer sie genannt, eine Augenweide und mit einer Portion Koketterie ausgestattet, die wohl jedem Mann gefiel. Franks Miene verdüsterte sich. Ob die beiden bei dem Kutscher gut aufgehoben waren? Dessen Gesicht kannte Frank. So kurz er auch erst in der Gegend arbeitete, den Kerl hatte er an jedem Richttag in der ersten Reihe der Zuschauer gesehen. Und auch diesmal … war es Zufall, dass er ausgerechnet auftauchte, wenn Leichenschänder sich an dem Gehenkten zu schaffen machten?

Hätte Frank doch nur schneller reagiert! Das Päckchen enthielt mit Sicherheit die abgeschnittene Hand und der Kutscher gehörte zu der Art von Schelmen, die dergleichen kauften. Nur brauchte es ein wenig mehr als Frechheit, die dunkle Magie eines solchen Artefakts zu wecken. Ob dieser brummige Geselle dazu fähig war?

Frank zuckte die Schultern und wandte sich zurück zu seiner Hütte am anderen Ende des Richtplatzes. Er beabsichtigte nicht, so lange am Ort zu bleiben, bis der Sündenpfuhl hier ausgehoben war. Wenn er sich ein paar Goldstücke für seine leere Reisekasse verdient hatte, würde er sofort seine Suche nach Bärbel fortsetzen. Da lohnte es nicht, seine Nase zu tief in gewisse Angelegenheiten zu stecken oder gar den Scharfrichter zu maßregeln.

Mit schweren Schritten stapfte er über die festgetretene Erde. Eine Krähe flatterte vor ihm vom aufgestellten Rad herunter und schubste dabei den Schädel des Hingerichteten auf den Boden. Mit einem dumpfen Laut landete er vor Frank und rollte noch ein Stück auf ihn zu.

»Du hast es überstanden«, murmelte Frank und zermalmte unter seinem Stiefel die Kalotte, die knirschend zersprang. Mehrere Tritte vergruben die Knochenstücke im Erdreich und er half herausrollenden Zähnen mit der Stiefelspitze nach. Wenn nachher einer der anderen Knechte ihn ablösen kam, würde Frank mit ihm zusammen das Rad herunterholen und die restlichen Knochen dieses Sünders zerschlagen, damit Platz für den nächsten Verbrecher geschaffen wurde. Das Rad konnte nochmals verwendet werden, was einen zusätzlichen Gewinn bedeutete, da er kein neues vom Wagner bestellen musste. Zehn Gulden sah sein Vertrag mit dem Scharfrichter für das Rädern vor – weit weniger als der Preis, den er in Haigerloch bekommen hatte. Hier, obwohl Residenz des Landgrafen, floss das Geld spärlich für ihn. Wie gesagt: Frank wollte nicht lange bleiben.

Hinter der Wächterhütte regte sich etwas. Frank tat, als ob er es nicht bemerkte, schob sich seinen Schemel zurecht und setzte sich darauf. Behaglich streckte er die Beine von sich und lehnte sich gegen die Bretterwand, behielt seinen Knüppel allerdings in Griffweite. Kaum hatte er sich die Mütze tiefer in die Stirn geschoben, trat verstohlen eine junge Frau um die Ecke der Hütte.

»Heda, Henker«, sprach sie ihn frech an.

Zur Antwort knurrte er nur unwillig.

»Sag, Henker, willst du was verdienen?«

Noch immer den Unbeteiligten mimend, gönnte er ihr einen Blick. Sie hielt ihr Brusttuch über den Kopf und vor ihrer Nase zusammengezogen, wohl weniger wegen des üblen Geruchs der Richtstätte, eher, damit sie niemand erkannte. Sie streckte einen Holzkrug vor.

»Gib mir vom Blut eines Schelmes, dann werde ich dich bezahlen.«

Unwillig verschränkte er die Arme vor der Brust. »Nix da«, brummte er.

Enttäuscht ließ sie den Krug und den Kopf hängen, aber bevor sie sich zum Gehen wandte, beugte sie sich noch einmal näher. »Und … warum nicht?«, flüsterte sie.

Frank warf ihr einen langen Blick zu. »Richttag hatten wir vorgestern. Da stellte ich drei in den Stock, stäupte acht durch, branntmarkte zwei, schnitt ein Ohr und eine Zunge ab und hängte Einen. Von allen diesen leistet uns nur noch der Eine Gesellschaft, und der gibt sein Blut nicht mehr her. Bring mir am Abend vor dem nächsten Richttag dein Krüglein und die Bezahlung, so will ich es dir bei Gelegenheit füllen.«

Das Mädchen griff unter seine Schürze und präsentierte eine Goldmünze auf seiner flachen Hand. »Wird das reichen?«

Mürrisch wiegte Frank den Kopf. »Wofür soll’s denn sein?«

Sie schwieg eine Weile, tat sich schwer zu antworten. »Meine Mutter«, brachte sie schließlich heraus. »Sie leidet am Veitstanz. Manchmal hält sie inne in der Arbeit, ihre Augen starren wie tot, dann fällt sie um und tanzt auf dem Boden herum, beißt sich die Zunge blutig und schlägt um sich. Mir wird immer angst und bange, weil es mir nicht gelingt, sie zu beruhigen. Einmal wäre sie fast in ihrer Raserei in die Kalkgrube gefallen.« Das Mädchen schluckte und polierte das Geldstück mit ihren Fingern. »Dann wäre sie jetzt blind«, flüsterte sie.

Das arme Ding machte dabei einen so elenden Eindruck, dass es Frank in der Seele leidtat. »Gerberin ist sie?«, fragte er.

»Der Gerber ist der Einzige, der sie noch arbeiten lässt, seit der Priester gesagt hat, sie sei vom Teufel besessen.«

Wie oft hatte Frank schon an Verhören teilgenommen, bei denen jemand, den der Veitstanz befiel, der Hexerei angeklagt wurde! Und jedes Mal, ob der gestand oder nicht, blieb bei ihm ein schaler Geschmack zurück, dass hier einem Irren etwas untergeschoben wurde, denn niemals war der Verkehr mit dem Teufel glaubwürdig für ihn. Und Irre durften nicht gerichtet werden, man musste sie in Obhut geben. Doch das war nicht Sache des Henkers, das musste der Richter entscheiden. Und was Frank von Richtern hielt, war wieder eine ganz andere Sache.

»Was tat er denn dagegen?«, fragte er und versuchte, das Mitleid aus seiner Stimme zu bannen.

»Messen lesen, Segen sprechen, mit ihr beten, eine Austreibung. Nichts hat geholfen.«

Sie sah wehmütig auf ihr Goldstück, Frank vermutete, was diese Prozeduren sie gekostet hatten. »Und jetzt hoffst du auf das Dunkel.«

Sie schauderte.

»Du kannst dein Goldstück behalten, wenn du mir einen Gefallen tust.«

Hoffnungsvoll sah sie auf und schloss die Finger fest um das Geld, gleichzeitig blitzte Misstrauen in ihrem Blick auf.

»Stell dir vor, ein Mädchen kommt in Schwierigkeiten – an wen wendet sie sich?«

Entsetzt starrte sie ihn an. »Keine Hebamme würde ihr das wegmachen! Dies ist ein gottesfürchtiger Landstrich!« Kurz musste er überlegen, weshalb sie so auffuhr, dann spürte er Hitze in seine Wangen fluten. »Nein, natürlich nicht. Das hätte ich auch nie vermutet. Glaub mir, Mädle, ich habe genügend Weiber verbrannt, die selbiges vollbrachten. Kindsmord ist das größte Verbrechen. Nein, wenn die Zeit kommt, wer nimmt sie auf? Ein Kloster? Das Armenhaus?«

»Frau Mechthild«, antwortete sie spontan, »die Gattin des Apothekers.« Auf Franks fragenden Blick sprach sie weiter. »Der Apotheker Henslin Nungässer von Gryeßheim. Er hat seine Apotheke in der Krebsgasse, wo er auch lebt. Seine Frau Mechthild, der gute Engel, betreibt eine Zuflucht für gefallene Mädchen auf dem Lahnberg, möge der Heiland sie segnen.«

Frank deutete vage in die Richtung, aus der vorhin die Kutsche gekommen war. »Dort oben? So weit außerhalb der Stadt?« Er dachte an die Räubergeschichten, wohl genau wie das Mädchen.

Sie zuckte die Achseln. »Diesen Weibern ist nicht viel mehr Leid zuzufügen.« Frank fuhr zusammen, worauf sie einen Schritt zurückwich. »Die gute Frau Mechthild verdingt sechs kräftige Knechte, die für ihren Schutz sorgen«, beeilte sie sich zu beschwichtigen. »Mehrere Dutzend Mädchen leben dort, aber kein Strauchdieb würde das gottesfürchtige Werk stören! Die honorigsten Bürger der Stadt besuchen Frau Mechthild regelmäßig für die Wohlfahrt.«

Nachdenklich biss Frank auf seine Lippe. Dort hineinmarschieren würde er schwerlich können. Er zog eine Münze aus seiner Börse und reichte sie ihr.

»Du sollst einen Gang für mich tun. Gehe zu dieser Zuflucht und finde für mich heraus, ob eine Rothaarige dort Unterschlupf fand. Sie trägt ein Amulett um den Hals, einen Bernstein. Nimm das Silber und bringe mir deinen Krug, den will ich dir umsonst füllen, wenn du mir berichtest, was das Besondere an diesem Bernstein ist.«

Zögerlich griff das Mädchen nach dem Geldstück, wobei sie tunlichst nicht seine Finger berührte, dann fuhr sie auf dem Hacken herum und rannte in den Wald.

Frank seufzte. Ob er diesmal Glück hatte?

***

 

Mit einem leisen Schmerzlaut sank Luzia auf die Bettkante. Nur gut, dass Lukas sie so nicht sah, sondern oben auf seinem Turm die Sterne beobachtete. Das Ziehen im Kreuz nahm zu, als sie sich legte, und ließ nur allmählich nach. Am liebsten hätte sie noch einmal gestöhnt, aber die Wand zwischen ihrem und dem Schlafzimmer von Magdalene bestand nur aus provisorisch eingezogenen Brettern, bis die bestellten Handwerker endlich kamen und sie aufmauerten. Die Schwägerin würde sofort auf der Schwelle stehen, wenn Luzia Hilfe benötigen könnte. Nein, Mitleid wollte sie nicht. Die Hebamme in Amorbach hatte ihr prophezeit, dass die Schmerzen bis zur Niederkunft noch zunehmen und danach verschwinden würden. Da lohnte kein Aufwand und keine Kur, die Magdalene ihr wieder verordnen würde: eine Packung aus Kuhfladen, am liebsten in einem Stück, auf den schmerzenden Rücken gelegt, die Nacht auf dem Bauch liegend verbracht und am nächsten Morgen auf gar keinen Fall die Reste abwaschen. Luzia musste zugeben, dass die Wärme angenehm war und es eine kurze Zeit geholfen hatte, aber wenn Lukas sich wieder fünf Tage von ihr fernhielt, länger als die Linderung dauerte … das wollte sie nicht noch einmal riskieren.

Während ihr gemarterter Rücken sich entspannte, zogen die Bilder des Tages an ihr vorüber, die schönen Häuser der Oberstadt, die engen Gassen, in denen gut gekleidete Damen flanierten, hagere Gelehrte an den Straßenecken gestikulierten, vertieft in Diskussionen über Gott und die Welt. Zum Glück hatte Magdalene diesmal zugestimmt, als ein Bursche sich als Kutscher empfahl. Ewalt habe schon aushilfsweise im Stall des Landgrafen gearbeitet, würde auch jederzeit wieder genommen, wenn die Reittiere der Gäste zu zahlreich für die regulären Bediensteten wurden. Außerdem könne er, da zwei Pferde seine Zeit nicht völlig in Anspruch nähmen, auch im Haus helfen, Stiefel putzen und Holz hacken. Kräftig genug sah er aus, wenn seine schiefen Zähne und die klobige Nase ihn auch nicht zu einem Schönling machten. Es beruhigte Luzia, einen starken Mann im Haus zu wissen, der mit einem Knüppel umzugehen wusste. Selbst wenn noch nie jemand gewagt hatte, sich unberufen dem Haus zu nähern, war so weit außerhalb der Stadtmauern Vorsicht geboten.

Eigentlich genoss Luzia die Ruhe hier draußen im Wald, nur der weite Weg für jegliche Besorgungen ärgerte sie. Mit einem eigenen Kutscher allerdings würde es nicht mehr bei seltenen Besuchen bleiben. Dann könnte sie öfter mit Magdalene einkaufen.

Wunderbare Stoffe hatten sie beide ausgesucht, die den Säugling warm und geborgen halten würden, wobei die Schwägerin freigiebig ihre handhabte, genauso wie bei allem, was das Kind betraf. Immer wieder spürte Luzia, wie gerne Magdalene an ihrer Stelle wäre, wie sehr sie sich danach sehnte, auch Mutter zu werden. Nun, dazu fehlte Magdalene ein entscheidender Punkt: ein Mann. Jedes Mal, wenn ein solcher das Haus betrat, ein Kollege Lukas‘, ein Handwerker, ein Händler oder nur ein Bettler, verkrampfte sie die Schultern und hielt sich so fern wie möglich. Nicht einmal die Ehrenbezeugung der Gäste hielt sie aus, ohne vor Angst zu zittern. Wahrscheinlich hatte sie deshalb so lange gezögert, einen Burschen einzustellen.

Die Glocke der Turmuhr schlug, ein Geräusch, das Luzia anfangs jedes Mal hatte zusammenzucken lassen. Mittlerweile hörte sie nicht einmal mehr das leise Ticken des Uhrwerks im Turm und das Schlagen nur, wenn sie nicht schlafen konnte.

Magdalene würde niemals die Frau eines Mannes werden. Dabei erkundigten sich durchaus respektable Herren über sie. Gerade an der Universität fanden sich etliche, die sich für kein junges Ding begeistern konnten, die eine sittsame Dame in Magdalenes Alter bevorzugten. Allerdings – nicht jeder Mann konnte so stattlich sein wie Lukas. Luzia lächelte selig. Welches Glück sie hatte, ihn ihr Eigen nennen zu dürfen! Beim Gedanken an ihn ließ auch der letzte Schmerz in ihrem Kreuz nach, sie genoss die wohlige Wärme der Bettfedern. Zu ihrem Glück fehlte nur noch, dass er seine Studien sein ließ, zu ihr unter die Decke schlüpfte und sie in den Arm nahm. Seine Zärtlichkeit hatte in dem Jahr ihrer Ehe nicht nachgelassen, noch immer erglühte die Lust, wenn sie sich nur berührten. Auch die Schwangerschaft tat dem keinen Abbruch. Er verehrte ihren schwellenden Leib wie eine Reliquie, tat alles, Luzia zu gefallen, worauf sie mit ungewöhnlich starkem Begehren reagierte.

Aber auch andere Männer besaßen eine anziehende Erscheinung. Sie ließ die Gesichter seines Kollegiums an sich vorbeiwandern, wobei sie Heiterkeit unterdrücken musste. Warum sah sie ausgerechnet diese Trauerklöße vor sich, wenn sie nach Wohlgestalt forschte? Vielleicht sogar den verknöcherten Griesgram, dem sie morgen vorzügliche Gastfreundschaft angedeihen lassen würde, der sich nur um die Bücher ihres Gemahls bekümmerte? Die älteren Studenten trafen da so manches Mal eher ihren Geschmack. Das Bild des riesigen Henkers flackerte unerwartet vor Luzias Augen. Sie schmunzelte über ihre Gedanken. Sicher, der Mann wies den Körper einer griechischen Statue auf, wie sie oben im Schloss standen, auch sein Gesicht wirkte männlich. Als er seinen Zorn über die Leichenschänder beiseitegeschoben hatte, war sogar etwas wie Freundlichkeit hervorgetreten, aber damit waren seine Vorzüge auch schon geschildert. Ein Henker! Sicher brauchte sie jetzt, als Eheweib eines respektierten Gelehrten, keine Angst mehr vor seiner Zunft zu haben, dennoch schauerte sie vor diesem düsteren Gewerbe. Es konnte kein Mensch sein, der seinen Lebensunterhalt damit erwarb, anderen die Haut vom Leibe zu ziehen, Muskeln zu zerfetzen, Knochen zu brechen und Glieder abzuschlagen! Einzige Musik in seinen Ohren das Brüllen der Gemarterten, Stöhnen und Jammern.

Ein Schrei ertönte. Luzia schreckte aus ihrem Halbschlaf, fuhr empor und tastete nach der Kerze. Im ersten Augenblick wähnte sie sich noch im Traum. Nein, das klang wie eine Frau in Not, die draußen im Wald herumirrte. Schon tappten Füße im Haus, Magdalenes Tür schlug und auch die Treppe zum Turm knarzte, also stieg Lukas herunter. Luzia streckte die Füße aus dem Bett, als ihre Schlafzimmertür sich einen Spalt öffnete und Lichtschein hereindrang.

»Herrin, der Schrei kam doch nicht von dir?« Das besorgte Gesicht der Kammerfrau schob sich herein.

»Nein, Trine. Was mag da vor sich gehen?«

Zuerst hatte die nächtliche Totenstille um dieses Haus Luzia erschreckt, aber mittlerweile war sie so daran gewöhnt, dass jeder Laut von draußen sie jetzt aufwachen ließ. Doch dieser Schrei hätte sie auch mitten in der Stadt hochgescheucht.

Trine lief in den Flur zu dem Fenster, von dem aus man vor die Eingangstür sehen konnte, und öffnete die Läden. Schwerfällig folgte Luzia und spürte ihre Schwägerin hinter sich. Lukas trat aus der Tür zum Turm, sein Rapier in der Hand. Eine Sekunde gönnte Luzia sich, seine muskulöse Brust zu bewundern, die fast die Nähte des teuren Seidenstoffes sprengen wollte – so gar nicht das Bild des approbierten Gelehrten.

»Trine«, rief er, »was gibt es?«

Luzia erkannte Fackelschein im Wald und hell erleuchtete Fenster im Nachbarhaus. Äste knackten, Schritte hallten.

»Herr, ich sehe zwei Knechte der Apothekerin im Wald. Sie streben wieder dem Haus zu. Es scheint keine besondere Eile zu geben.«

Mit einem Nicken wandte Lukas sich zur Diele und federte die Treppen hinunter. Die Muskeln seiner Arme schwollen an, als er die schweren Riegel hob und die Eingangstür öffnete. Ein kalter Windstoß zerrte an Luzias Nachthemd und blies fast Trines Kerze aus. Bang fasste Magdalene Luzias Hand, als Lukas hinausging. Kurz darauf sahen sie ihn auf die Männer draußen zutreten, sein weißes Hemd leuchtete durch die Bäume. Die Sätze, die er mit ihnen wechselte, konnte Luzia nicht verstehen, aber ihr Mann wandte sich schon bald wieder seinem Haus zu und kam herein.

»Eine der Frauen«, berichtete er. »Manche von ihnen fliehen wie die Tiere in den Wald, wenn ihre Zeit kommt. Die Knechte sind es gewöhnt, sie wieder einzufangen, damit sie ihre Bälger nicht zwischen den Bäumen werfen.«

Luzia fühlte Unwohlsein bei seinen Worten. Die Verachtung tat ihr weh, denn es würde nicht mehr lange dauern, bis auch sie in ähnlicher Lage wie diese armen Weiber um Erlösung schreien würde. Gott gab die Schmerzen der Geburt als Strafe für die Wollust und als Sühne für die Sünden Evas, darum wurde die Entbindung zur Qual. Selbst die schrecklichste Folter eines Henkers konnte die ewige Schuld nicht vom Körper einer Frau tilgen, weshalb die Geburt noch schlimmeres brachte. Das zumindest sagte man, und das Brüllen einer Gebärenden bewies diese Tatsache.

Glaube den Pfaffen nicht, flüsterte die Stimme ihrer Großmutter in ihrem Hinterkopf. Ein Kind als Strafe für die Sünde? – Das wäre ja noch schöner. Die Pfaffen beteten den Tod an und neideten deshalb den Frauen ihre Gabe, neues Leben zu erschaffen, etwas, das sie sich selbst streng verbaten und zu dem sie auch gar nicht fähig waren. Wenn man von Sünde reden wollte, dann benannte es das Keuschheitsversprechen, welches sie ihrem gestrengen Gott gaben und dann brachen, um die Schuld daran denen zu geben, die sie missbrauchten.

Sollte es irgendwann ans Licht des Tages dringen, welche Lehren Luzia von den weisen Frauen ihrer Familie übernommen hatte, würde sie unweigerlich als Hexe auf dem Scheiterhaufen landen, das wusste sie. Nicht einmal Lukas hatte sie alles erzählt, was sie an Überlieferungen des fahrenden Volkes kannte.

»Wir sollten Mitleid mit ihnen haben«, sagte sie leise.

Lukas‘ Blick streifte ihren Leib, der sich unter dem dünnen Nachthemd vorwölbte. Die Härte verschwand aus seinem Gesicht, nach kurzer Verwirrung lächelte er sie an. »Sicher, Liebes. Verzeih mir, dass ich gedankenlos das Geschwätz der groben Kerle nachplappere. Ich bewundere Frau Mechthild, die sich eine solche Last aufbürdet. Wir alle müssen ihr dankbar sein für die Opfer, die sie bringt.«

»Wohltätigkeit ist Tradition in Marburg«, pflichtete Magdalene ihm bei und schob Luzia in seine Arme. »Viele Damen der Gesellschaft ahmen das Beispiel der Heiligen Elisabeth nach, die sich damals um die Aussätzigen kümmerte.«

»Heute kümmern sich die Henker darum«, ergänzte Trine spitz. Luzia erschrak.

»Gibt es denn ein Leprosorium in Marburg?«

Mit einem rauen Lachen fasste Lukas seine Frau am Arm und führte sie zurück ins Schlafzimmer. »Du solltest dich nicht sorgen. Im Elisabeth-Hospital werden keine Ansteckenden aufgenommen. Deshalb erwähnt Trine den Henker, der weist solche aus der Stadt. Und morgen früh werde ich persönlich der Apothekerin meine Aufwartung machen und mich erkundigen, ob wir mit dergleichen Störungen öfter zu rechnen haben.«

»Früh?«, spöttelte Luzia, obgleich ihr gar nicht nach Lachen zumute war. Hier, auf den Ländereien seiner Vorfahren, kehrte Lukas für ihren Geschmack zu oft den Gutsherren heraus. Manchmal suchte sie vergebens den Freidenker in ihm, der furchtlos gegen die Obrigkeit eintrat.

Er lächelte fast wieder sein Jungenlächeln. »Früh für mich. Liebes, ich muss in drei Tagen das Horoskop für den Landgraf fertiggestellt haben und das Wetter schiebt mir Wolken vor die Planeten. Verzeih mir, dass ich dich allein im Kalten liegen lasse. Wie gerne würde ich …«

Ja, sicher, Luzia auch. Sie sehnte sich nach seinen kundigen Händen auf ihrem Leib, seine Lippen an ihren Brüsten und der Erfüllung, die er ihr zu bringen vermochte. Schon sein Anblick ließ ihren Schoß prickeln. »Kümmere dich nicht um mich. Es geht mir gut und Trine bringt mir jeden Abend eine Wärmflasche.«

»Und das bedeutet genügend Ersatz?« Seine Lippen hauchten einen Kuss auf ihren Mund, dann drehte er sich herum und schloss leise die Tür hinter sich. Luzia seufzte. In den Sommernächten hatte sie gerne bei ihm auf dem Turm gesessen, das Ticken des mächtigen Uhrwerks unter ihrem Sitzplatz gefühlt, sich die Sterne zeigen lassen, den Lauf der Planeten bestimmt und die Konstellationen gesucht, aber der Winter nahte und sie schlotterte dort oben vor Kälte, die ihr in den Rücken kroch und das Kreuz zerriss. Lukas tat recht daran, ihr diese nächtlichen Eskapaden zu verbieten.

***

 

Eine winzige Hand kitzelte die Innenseite von Elßes Bauch, ein Fuß trat kräftig aus. Mit einem Lächeln strich sie über ihre Schürze. Ein Sohn, mit Sicherheit. Wenn er jetzt schon so kräftig boxte, würde er ihr später die größte Freude bereiten.

»Arbeite, du Hure!«, schreckte sie die barsche Stimme der Apothekerin aus ihren Gedanken. Eilends beugte Elße sich wieder über die Stufen und schrubbte den Steinboden, bis die Seife schäumte. Die Herrin schürzte die Röcke und stolzierte an ihr vorbei, während sie rechts und links Beleidigungen austeilte. Lieber das als wieder Schläge, durchzuckte der Gedanke Elßes Kopf. Woher nur nahm diese Hexe das Recht, Elße eine Hure zu schimpfen? Sie rief sich zum Trost die Worte ihrer Mutter ins Gedächtnis: Er hat dir Gewalt angetan, aber Gott gab dir dafür das Geschenk eines neuen Lebens.

Doch der Marodeur war nicht die einzige Heimsuchung für Elße geblieben. Der plötzliche Tod ihrer Mutter hatte sie zum Spielball des Vetters gemacht, der sie aus dem Haus trieb. Die ersten Wochen konnte sie sich wenigstens noch als Schankmagd verdingen, doch nun, kurz vor der Niederkunft, blieb ihr nur Frau Mechthilds Zuflucht, in der sie ständig als Hure bezeichnet wurde. Nirgendwo sonst hatte sie so hart für so schlechtes Essen arbeiten müssen.