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Der Tanz der Schäfflerin

 

Historischer Roman

von Yngra Wieland

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

ISBN 978-3-943531-46-6

ISBN 978-3-943531-45-9 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-943531-44-2 (Print Ausgabe)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Jana Hoffhenke

Korrektorat: Ursula Schötzig

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Detlef Klewer

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

Der Aufmarsch

 

München, 12. August, im Jahre des Herrn 1634

Aus der Narrenkeuche erklang der Schrei eines dort Angeketteten, hallte grausig über den Hof und jagte Jakoba trotz der Hitze einen Schauer über den Rücken. Die feinen Härchen in ihrem Nacken stellten sich auf. Sie schauderte, rieb sich fest die Arme, um das Gefühl zu vertreiben. Der Schrei verwehte und endete in lang gezogenem Wimmern, hinterließ eine böse Ahnung in der Sommerluft.

 

Die Augustsonne hatte ihren höchsten Stand erreicht. Erbarmungslos brannte sie vom Himmel herunter in den Innenhof des Heilig-Geist-Spitals und verwandelte ihn in einen Backofen. Der Platz wurde an der einen Seite von der Heilig-Geist-Kirche, an der anderen vom Weiberspital und der vorderen Spitalküche eingefasst, in der für die begüterten Pfründner gekocht wurde. Das Heilig-Geist-Spital war ein riesiger Komplex und Jakoba fühlte sich manchmal, als befände sie sich in einer Stadt in der Stadt. Sie liebte die Lebendigkeit dieses Ortes.

Ihr Blick wanderte zur Heilig-Geist-Kirche, ein Längsbau mit mächtigem Satteldach und glatten Wänden, deren Eingang im Innenhof lag. Das Gotteshaus strahlte in seiner Einfachheit eine ruhige Würde aus, die Jakoba ein Gefühl von Geborgenheit vermittelte. Neben den Benefiziantenhäusern, in denen die Geistlichen lebten, die für die reichen Bürger täglich die Messe lasen, und den Siechenhäusern gab es eine Gebärstube für Frauen ohne Unterkunft, eine Mühle, eine Bäckerei, eine Badestube und sogar eine Brauerei.

Jakoba stemmte die Fäuste ins Kreuz und stöhnte. Ihr Rücken schmerzte höllisch. Die letzten Stunden hatte sie damit verbracht, in dem großen Bottich die Kleidung der Waisenkinder zu waschen und auszuwringen.

Sie beugte sich über die Lauge und betrachtete ihr verzerrtes Spiegelbild. Bernsteinfarbene Augen blickten ihr grimmig entgegen, das Kinn war angestrengt nach vorne geschoben, die glatte Haut von der Hitze gerötet.

Verstimmt über den Anblick schlug sie auf die Wasseroberfläche, sodass ihr Gegenüber sich in kleinen Laugenwellen auflöste. Sie richtete sich auf und streckte sich ächzend. Eine Strähne hatte sich unter ihrer Haube hervorgeschmuggelt und kitzelte sie am Hals. Ungeduldig stopfte sie die Haare unter die Kopfbedeckung zurück, als sie Pater Martin durch das Tor eilen sah. Der sonst besonnen einherschreitende Gottesmann wirkte aufgeregt und voll Sorge.

Zwei Männer, zwischen sich eine Bahre, folgten ihm und verschwanden auf Pater Martins Wink eilig im Spital.

Im nächsten Augenblick kam Mina, eine junge Magd, aus Leibeskräften schreiend über den Hof gerannt. Sie verhedderte sich in ihrem Rock, taumelte und stürzte vor Jakoba zu Boden.

»Wir werden alle sterben! Der Schwarze Tod ist in der Stadt!«

Jakoba starrte sie an. Eiseskälte kroch ihr den Rücken hinauf.

»Die Bäckerswitwe, die Gebhartin Marie aus der Sendlingerstraße, haben sie ins Rauchhaus im Spital gelegt! Es ist die Pest, die Pest ist ausgebrochen!«

Das Grauen stand Mina ins Gesicht geschrieben, die Augen weit aufgerissen, schrie der speichelfeuchte Mund unaufhörlich die entsetzlichen Worte heraus.

Jakoba hätte am liebsten die Hände über die Ohren gelegt, doch sie konnte sich vor Entsetzen nicht rühren.

»Sie sagen, dass der Schwarze Tod von den Soldaten aus Burgund kommt. Man rechnet mit dem Schlimmsten! Die Pest ist wieder in der Stadt!«

Die Magd kam ungeschickt auf die Füße, stolperte weiter, ihre Stimme überschlug sich, keine Worte, nur noch Kreischen.

 

Jakoba stand wie festgewachsen, ihr Atem ging schwer. Während der letzten Jahre war der Schwarze Tod ein häufiger Gast in München gewesen und die Menschen von außerhalb, die in die Stadt reisen mussten, wurden oftmals verspottet, sie hätten mit dieser Reise einen sicheren Gang in den Tod vor sich.

In den vergangenen Monaten hatte die Brechin, wie sie die Pest nannten, Ruhe gegeben, und die Münchner hatten gerade begonnen, sich in Sicherheit zu glauben.

Die Soldaten aus Spanien und Burgund, die vor den Toren Münchens lagerten, überschwemmten die Stadt mit ihrer Anwesenheit. Die Söldner brachten jede Menge Unannehmlichkeiten für die Münchner, vor allem für die Frauen, die sich kaum noch ohne männlichen Begleitschutz auf die Straßen wagen konnten. Nun hatten sie den Tod in die Stadt gebracht.

 

Bevor Jakoba sich weiter mit den schlimmen Neuigkeiten befassen konnte, fegte eine Meute Kinder schreiend auf sie zu, und im nächsten Augenblick klammerte sich ein winziges Mädchen an Jakobas Röcke.

»Koba, hilf mir, hilf mir, die wollen mich hauen!«

Dicke Tränen kullerten ihr über die Backen und hinterließen schmutzige Spuren. Jakoba hob die Kleine schwungvoll hoch und streichelte Annis Köpfchen, das diese schluchzend an ihrer Halskuhle verbarg.

»Was ist denn bloß los mit euch? Findet ihr es richtig, jemanden zu hauen, der viel kleiner und schwächer ist als ihr?«, funkelte sie die Kinder an.

»Was wird der Pater sagen! Macht euch lieber nützlich!«

Kurz und bündig gab sie ihre Anweisungen, ihr Tonfall machte jede Widerrede unmöglich.

»Ihr beiden, ihr nehmt den Bottich und schüttet ihn aus, und du und du«, sie deutete mit dem Kinn auf die zwei größeren Jungen, »ihr nehmt den Korb mit der Wäsche und hängt die Sachen auf.«

Murrend machten sich die Kinder ans Werk. Sie wussten wohl, dass mit Jakoba nicht zu spaßen war, wenn es um Anni ging.

Jakoba stellte das Mädchen behutsam auf den Boden und kniete sich vor sie hin. Ein Bild des Jammers bot sich ihren Augen. Anni war klein für ihr Alter und ihre Haut so fein, dass man die Adern hindurchschimmern sah. Das fadenscheinige Kittelchen hing viel zu groß an ihr herunter und hatte bei der Verfolgungsjagd einen langen Riss davongetragen. Einer der dünnen blonden Zöpfe hatte sich aufgelöst. Jakoba flocht ihn mit flinken Fingern neu und zupfte den Kittel der Kleinen so gut es ging zurecht.

»Du tust mich immer retten, gell, Koba?«

Annis große, hellblaue Augen hingen flehend an Jakobas Gesicht. Die zog die Zopfschleife fest und drückte Anni noch einmal an sich.

»Immer, wenn ich kann, das verspreche ich dir.«

»Ich auch, Koba, ich will auch immer auf dich aufpassen!«

Einen verträumten Moment lang wiegte Jakoba das Kind gerührt hin und her. Sie konnte fühlen, wie Anni die seltene Wärme einer Liebkosung hungrig aufsog. Am liebsten hätte Jakoba ihren Liebling mit nach Hause genommen, das Waisenkind umsorgt und aufgepäppelt, der Kleinen ein richtiges Zuhause geboten. Ihr Vater wollte nichts davon wissen. Und Quirin, ihr Verlobter, erst recht nicht.

»Was willst du denn mit so einem Bastard«, hatte er sich eingemischt, als Jakoba beim Abendbrot wieder einmal angefangen hatte, ihren Vater wegen Anni zu bearbeiten.

Wilhelm Neuburg, der genauso stur sein konnte wie seine Tochter, hatte nur abgewunken.

»Mädchen, lass gut sein. Es gibt genug hier im Haushalt zu tun und mehr Esser brauchen wir nicht!«

Später, als Jakobas Vater außer Hörweite war, hatte Quirin ihr zugeflüstert:

»Wart nur ab, wenn wir erst verheiratet sind, mach ich dir einen ganzen Stall voll davon!«

Jakoba war es furchtbar unangenehm gewesen, wie er sie dabei angegrinst und sich anzüglich mit der Zunge über die Lippen gefahren war. Ihr grauste vor seinen muskulösen Unterarmen und Händen, auf denen schwarze Haare wuchsen, dicht wie ein Tierfell. Manchmal, wenn sie alleine waren, musterte er sie, als könne er durch ihre Kleidung hindurchsehen.

Wenn nur ihre Mutter noch da wäre! Die hätte sie bestimmt unterstützt und Anni wäre in einem liebevollen Heim aufgewachsen.

 

»Ach Mutter!«

Jakoba seufzte aus tiefstem Herzen. Acht Jahre war es her, seit ihre Mutter am Kindbettfieber gestorben war, und nur ein paar Tage später hatte der Herrgott auch ihren kleinen Bruder zu sich geholt. Dabei war ihr Vater so stolz gewesen, dass es endlich einen Nachfolger für die Schäfflerei Neuburg geben sollte. Schon damals, als Jakobas Mutter mit ihr guter Hoffnung war, glaubte der Vater fest an einen Stammhalter. Jakob hätte er heißen sollen. Dann war eine Jakoba daraus geworden. Es brauchte viel Zeit, bis Martha Neuburg wieder ein Kind empfing. Der Traum von einem Nachfolger für die Schäfflerei dauerte nur sieben Tage. Nach dem Tod von Eheweib und Sohn hatte sich Wilhelm Neuburg strikt geweigert, noch einmal zu heiraten. Nun war es an ihr, der einzigen Tochter, dem Vater seine Wünsche nach dem Fortbestand der Schäfflerei Neuburg zu erfüllen.

Die Traurigkeit, die sich manchmal in seine Augen schlich, wenn er sich unbeobachtet glaubte, berührte sie tief. Schweren Herzens hatte sie zugestimmt, den Gesellen Quirin Moosegger zu heiraten, sobald dieser seine Meisterprüfung abgelegt haben würde. Die Schäfflerei würde in der Familie verbleiben und, wie ihr Vater nie müde wurde zu betonen, Quirin war ein stattlicher junger Mann, der anständig zupacken konnte.

Stattlich ja, das mochte wohl sein, aber Jakoba hätte sich Quirin niemals freiwillig ausgesucht, um den Rest ihres Lebens mit ihm zu verbringen. Zu grob war er ihr, zu laut und vor allem viel zu bestimmend. Durch den frühen Tod ihrer Mutter war sie es gewohnt, Tag für Tag eigenständig zu handeln, sie führte schon lange den Haushalt des Vaters und ebenso seine Bücher. Quirin jedoch ließ ihre Meinung nie gelten, er schnitt ihr grundsätzlich das Wort ab oder verspottete sie. Abgesehen davon missfielen Jakoba seine eng zusammenstehenden Augen und die aufgeworfenen Lippen, die seinem Gesicht andauernd einen wollüstigen Zug verliehen.

 

»Koba traurig?«

Zwei kleine Hände patschten ihr ins Gesicht und holten sie zurück aus ihren Gedanken. Anni blickte sie mit schief gelegtem Köpfchen sorgenvoll an.

»Nein, Koba ist schon wieder lustig!«

Jakoba bemühte sich, ein Lächeln aufzusetzen und das Grauen, das die schlimmen Nachrichten der Magd in ihr gesät hatte, zu verdrängen. Sicher war alles nur ein Gerücht, das Hirngespinst eines überspannten Mädchens.

Sie richtete sich auf und nahm Anni an der Hand.

»Komm, wir schauen, ob wir in der Spitalküche einen Apfel für dich finden!«

In der Küche gab es meist einen Überfluss an Obst, denn jedes Mal, wenn ein Händler gegen Verkaufsvorschriften auf dem naheliegenden Markt verstieß, wurde die Ware konfisziert und dem Heilig-Geist-Spital gespendet. Der einzige Hinderungsgrund, die Fülle uneingeschränkt zu genießen, war die grimmige Köchin, die ihre Vorräte besser bewachte als ein Drachen seine Schatzhöhle.

Seit Jakoba jedoch eines Tages ein sehr schmeichelhaftes Bildnis von der Hüterin der Küche gezeichnet hatte, bekam sie fast immer Leckerbissen außer der Reihe zugesteckt, wenn sie sich in der Drachenhöhle blicken ließ.

Jakoba schob entschlossen ihr Kinn nach vorn. Es hatte keinen Sinn, Trübsal zu blasen, das Leben ging weiter, und an diesem Nachmittag warteten noch viele Pflichten auf sie, daran würde auch die Pest nichts ändern. Sie würde alles tun, damit ihr Vater glücklich wäre, das hatte sie sich geschworen! Vielleicht würde Quirin sich ändern, wenn sie erst verheiratet waren.

Es gelang Jakoba, der Köchin einen leicht runzligen, rotbackigen Apfel für ihren Schützling abzuluchsen. Versorgt und getröstet ließ sie Anni in der Obhut ein paar größerer Mädchen zurück und nahm sich den Korb mit zerrissenen Kleidern zum Ausbessern vor. Sie musste weiterarbeiten, etwas tun, damit die Furcht sich nicht in ihr ausbreiten konnte.

Seit drei Jahren half sie nun schon im Waisenkinderhaus mit, und ausgerechnet sie, ein Mädchen, welches selbst viel zu kurz in den Genuss von Mutterliebe gekommen war, kümmerte sich hingebungsvoll um die Kleinsten und Ärmsten dort, scheute sich nicht, auch bei den unangenehmsten Aufgaben zuzupacken.

Pater Martin, der für Jakobas freiwillige Hilfe mehr als dankbar war, hatte ihr auf ihr inständiges Bitten hin als Gegenleistung für ihre Arbeit in mancher stillen Stunde Lesen und Schreiben und sogar ein bisschen Rechnen und Latein beigebracht. Manchmal schenkte der Pater ihr sogar Papier. Das trug sie dann heim, als wäre es der kostbarste Schatz, und im trüben Licht ihrer Talglampe fertigte sie abends in ihrer Kammer aus dem Gedächtnis Zeichnungen von Anni, Pater Martin oder anderen mit dem Kohlestift oder einem Bleigriffel an, die freilich kaum jemand zu sehen bekam.

Seufzend ließ sie ihre Flickarbeit sinken. Es half nichts, die Angst saß ihr bereits fest im Nacken. Dabei war doch gerade der Schock über die Geiselnahme der zweiundvierzig Bürger und Geistlichen durch den protestantischen Besetzer vor zwei Jahren überwunden gewesen. Jakoba erinnerte sich noch gut an die bedrückende Stimmung beim Abzug der Schwedengeiseln. Zwei der Geiseln, einer davon der Lebzelter Michael Reutter, war ihr sogar persönlich bekannt. Sie liebte seine Lebzelten, er hatte die besten in München gemacht. Wehmütig erinnerte sie sich an den Geschmack nach Honig, Zimt und Gewürznelken. Ob er heil und gesund nach München zurückkehren würde?

Eine andere, ihr bekannte Geisel war Hartmann Reischl, der beste Freund ihres Vaters und ihr Taufpate. Von ihrem Vater wusste sie, dass die Stadt für den Unterhalt der Geiseln aufkommen musste, die immer wieder Bittbriefe um eine bessere Versorgung schickten, aber München war nach dem Abzug von König Gustav Adolfs Truppen bitterarm. Dreihunderttausend Reichstaler hatte der Schwedenkönig von München einkassiert. Alles, was an Geld und Gold verfügbar war, schluckte Gustav Adolfs gieriger Rachen. Eine Schneise der Verwüstung zog sich rund um München, denn was die Schweden nicht mitnehmen konnten, zerstörten sie. Der scheinbar immerwährende und allgegenwärtige Krieg forderte seinen Tribut, und das von Bauern, Handwerkern und Herrschern gleichermaßen.

Da, schon wieder waren ihre Gedanken davonspaziert! Stopfen war einfach zu langweilig. Jakoba raffte die geflickten Kleider zusammen und legte sie in den Korb. Sie verstaute ihn an seinem angestammten Platz und verließ das Spital. Es war schon spät und zu Hause musste sie das Abendbrot für ihren Vater, die Gesellen und Lehrlinge der Schäfflerei herrichten. Sie nahm den Umweg über den Schrannenplatz, um zu schauen, ob es am Eier- und Kräutlmarkt noch etwas Gemüse für die Suppe zu kaufen gab. Wie stets, wenn sie auf den Marktplatz ging, lief sie zum Marktbrunnen und berührte sacht den steinernen Rand. Die Furcht vor dem Lindwurm in der Tiefe dort unten musste überwunden werden, dann würde ihr nichts und niemand etwas anhaben können.

 

Als sie am Abend in ihrer Kammer vor dem weit geöffneten Fenster saß, gingen ihr die Entsetzensschreie der Magd nicht aus dem Kopf.

»Wir werden alle sterben!«

Trotz der stickigen Wärme des Sommerabends fröstelte sie. Zwar hatte die hartnäckig wiederkehrende Seuche ihre Familie seit vielen Generationen verschont, aber sie erinnerte sich gut an die bedrückenden Zeiten in ihrer Kindheit, als die Pest München fest in ihrer Gewalt hatte. Damals hatte ihre Mutter noch gelebt. Im Brunnen am Marktplatz sollte die Pest in Gestalt eines garstigen Lindwurms hausen, hatten die Leute gesagt und Gebete murmelnd das Kreuzzeichen geschlagen, wenn sie daran vorbeigingen. Als kleines Mädchen hatte sie sich jedes Mal entsetzlich gefürchtet, wenn sie an den Rockzipfel ihrer Mutter geklammert über den Marktplatz gegangen war, und sie war immer bemüht gewesen, einen großen Bogen um den Brunnen zu machen, damit der Lindwurm sie nicht in seine grausamen Fänge bekam und in die Tiefe zog.

 

Sie ging zu ihrer Truhe, nahm das uralte Buch heraus, auf dessen Vorderseite das Schäfflerwappen prangte. Einer ihrer Vorfahren hatte die Ereignisse im Jahre 1517 aufgeschrieben. Das Buch gehörte ihrem Vater, wurde von Generation zu Generation weitergegeben und Jakoba wurde nicht müde, darin über den Ausbruch der Pest damals zu lesen und über die Rolle, die der Schäfflertanz für das Auferstehen der Stadt München gespielt hatte. Jakoba rückte ihren Schemel nahe ans Fenster, um das letzte Tageslicht zu nutzen. Behutsam strich sie mit der Hand über das alte, fleckige Leder, klappte das Buch auf und las von den mutigen Schäfflern, die mit ihrem Tanz den Menschen wieder Lebensmut gemacht hatten.

 

Jakoba wachte von ihrem eigenen Gemurmel auf.

»Dich, Gott, loben wir, dich, Herr, preisen wir. Dir, dem ewigen Vater, huldigt das Erdenrund …«

Verwirrt setzte sie sich auf, rieb sich die Augen und schaute sich um.

Sie setzte die Füße auf die Dielen, stemmte die Hände in die Hüften und tat einige Tanzschritte, wie sie es in ihrem Traum beim Schäfflertanz getan hatte. Ihr Blick fiel auf das Buch am Boden, sie lief hin und blätterte fieberhaft. Bevor sie den Tag begann, musste sie lesen, wie die Geschichte zu Ende gegangen war.

Von unten erklang Gepolter.

»Jakoba, was ist los? Wieso ist die Morgensuppe noch nicht fertig? Hast du verschlafen?«

»Ich komme schon, Vater, gleich bin ich da«, rief sie, mit einer Hand nach ihrem Rock angelnd, während ihre Augen über die letzten Zeilen des Buches flogen.

»Die Stadt München begann wieder zu blühen und die Schäffler waren hoch angesehen unter den Münchner Bürgern.«

Eilig stülpte sie ihre Haube über den Kopf, band ihre Schürze um und rannte die Treppe hinunter.