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Autoreninfo

Alexa Thiesmeyer, Jahrgang 1949, Jura-Studium in Bonn, seitdem freie Journalistin und Schriftstellerin. Verfasserin von zahlreichen Theatertexten (Komödien, Sketche und Satiren), Kriminalromanen und Kurzkrimis. Mitglied der »Mörderischen Schwestern« und im »Syndikat«.

Haupttitel

Alexa Thiesmeyer

Sonnenblumen
zum Selberschneiden

Rheinland-Krimi

Vollständig überarbeitete Neuausgabe

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2016 by CMZ-Verlag
An der Glasfachschule 48, 53359 Rheinbach
Tel. 02226-9126-26, Fax 02226-9126-27, info@cmz.de

Alle Rechte vorbehalten.

Umschlagfoto:
Gartenseite des Poppelsdorfer Schlosses

Trotz intensiver Nachforschungen konnte der Rechteinhaber dieses Fotos nicht ausfindig gemacht werden; er wird eine Vergütung im üblichen Rahmen erhalten, wenn er sich mit dem Verlag in Verbindung setzt.

Umschlaggestaltung:
Lina C. Schwerin, Hamburg

eBook-Erstellung:
rübiarts, Reiskirchen

ISBN 978-3-87062-179-7 (Paperback)
ISBN 978-3-87062-189-6 (eBook epub)
ISBN 978-3-87062-194-0 (eBook kindle)

20161105

www.cmz.de

www.alexa-thiesmeyer.com

Inhalt

Erster Teil: Eine nicht erwerbstätige Witwe

1. Königshof, Donnerstagabend

2. Die Bitte

3. Private Post

4. Schweißtropfen

5. Im Garagenhof

6. Das gefürchtete Wort

7. Wenn sie ihm glaubten …

8. Die Ledertasche

9. Der Onkel

10. Schlagzeilen

11. Die drei vom städtischen Beet

12. Schaf oder Wölfin?

13. Die Flamme

14. Der Entschluss

15. Die Beichte

16. Der Brief

17. Der Weg zur Mordkaule

18. Dumpfe Stimme

19. Noch ein Tag

20. Das Zeichen

Zweiter Teil: Patience

1. Der Fächer

2. Der kleine Napoleon

3. Die launischen Damen

4. Die Gefangene

5. Die Harfe

6. Der Teppich

7. Das Versteckspiel

8. Die Vermählung

9. Der Zopf

10. Der Eisbrecher

11. Das Matriarchat

12. Der Abendstern

13. Der große Napoleon

14. Die Schlange

15. Der Rangierbahnhof

16. Das Spielkasino

17. Die Räuber kommen

18. Die Schikanös

19. Das Windrad

20. Die Surprise

21. Die letzte Patience

Dritter Teil: Das Schweigen

1. Dringende Familienangelegenheit

2. Schritte auf dem Plattenweg

3. Asche zu Asche

Nachwort

Erster Teil:
Eine nicht erwerbstätige Witwe

1. Königshof, Donnerstagabend

Der Heulton einer Sirene fuhr in die Versammlung. Alle blickten ihn an. Hitze schoss ihm ins Gesicht.

»Nichts für ungut, Herr Kröger«, sagte jemand, »aber …« Der Rest ging in dem Alarm unter, der nichts Gutes verhieß.

Unter seinen Händen fühlte Björn glattes Leder. War das nicht … Natürlich, sein Sofa. Von seinen Knien rutschte die Zeitung zu Boden. Der Wirtschaftsteil, darüber war er eingenickt. Er stand nicht im Gobelinsaal des Alten Rathauses; er saß zu Hause und hatte geträumt. Was da sirenengleich heulte, war das Telefon.

»Gehst du dran, Björn?«, hörte er Elena neben sich.

Die Gestalten seines Traumes wollten nicht weichen. Der Oberbürgermeister, der Landgerichtspräsident und die Kollegen blieben hartnäckig vor dem Wandteppich stehen, auf dem Hunde über einen Hirsch herfielen. Auch das Gefühl von Peinlichkeit war noch da.

Menschen, die sagen können, ihr Traum verrate ihnen dieses oder jenes, sind zu beneiden, dachte Björn. Seine eigenen Träume offenbarten ihm nur das Chaos in seinem übervollen Kopf. In letzter Zeit hatte er zu viel gearbeitet und zu wenig geschlafen, er war alles andere als fit.

Die Sirene gab keine Ruhe. Der alte Apparat nervte. Björn hatte Elena versprochen, sich um melodischere Töne zu kümmern, sie wünschte sich Vogelstimmen. Das fiel ihm aber immer erst ein, wenn der Alarm wieder losging.

»Björn, ich muss weitermachen, solange die Farbe nass ist.«

Er schlug die Augen auf. Seine Frau saß über ein Aquarell gebeugt, das auf dem Couchtisch lag. In der einen Hand hielt sie einen Pinsel, mit der anderen schob sie eine Strähne ihres glatten braunen Haars hinters Ohr.

»Ist sicher deine Mutter«, murmelte er.

Ihn traf ein frostiger Blick. »Meine Mutter hatte eine Kieferoperation und kann nicht sprechen.«

Björn streckte den Arm nach dem Telefon aus, die Augen wieder halb geschlossen, er fühlte sich so kaputt.

»Vorsicht!«, rief Elena.

Ihr Wasserglas kippte. Sie bremste es mit der Hand, ein paar Spritzer landeten auf dem Bild. Björn setzte zu einer Entschuldigung an, hatte aber schon den Hörer am Ohr und vernahm eine vertraute Stimme, die immer so klang, als ob was im Mundwinkel klemmte, Zigarre oder Kugelschreiber.

»’n Abend, mein lieber Kröger.«

Schlagartig war Björn hellwach. »Guten Abend, Chef.«

»Prima, dass ich Sie erreiche«, quetschte der Chef heraus. »Wir sind ja ein tolles Team, muss ich sagen. Kranksein kennen wir kaum. Wenn es uns erwischt, arbeiten wir trotzdem.«

»Hm, ja«, sagte Björn leicht verwundert.

Immerhin klangen die Worte nach Anerkennung, und das tat gut. Die halbe Nacht hatte ihn der Hustenreiz gepiesackt und am Schlafen gehindert. Dennoch war er pünktlich in der Redaktion erschienen, ohne sich was anmerken zu lassen. Und jetzt, wo er demonstrieren wollte, wie furchtbar erkältet er war, kam kaum mehr als ein dünnes Hüsteln aus seiner Kehle.

»Bei Fieber gehört man selbstredend ins Bett. Können sich sonst Komplikationen ergeben.«

»Ja, wirklich.« Auf die Idee, mal Fieber zu messen, war Björn noch nicht gekommen. So heiß, wie sein Kopf sich anfühlte, konnten neununddreißig Grad erreicht sein.

»Und deshalb muss einer für die Kollegin Brause einspringen«, fuhr der Chef fort.

»Ach so …« Aber nicht ich, dachte Björn, nicht ich!

»Hat schlapp gemacht, was soll man machen«, nuschelte der Chef. »Ist ja nicht mehr die Jüngste.«

Es entstand eine Pause. Sie wurde länger und länger. Björn musste etwas sagen. Völlig klar, was der Chef erwartete.

»Ist es – heute Abend?«, presste Björn rau aus dem Rachen, damit man sein Halsweh auch hören konnte. Einen halbkranken Mitarbeiter jagte man doch an einem nassen Winterabend nicht hinaus. Nicht mal in der Redaktion der Bonner Nachrichten mit dem tollen Teamgeist.

»Prima, dass Sie übernehmen«, sagte der Chef.

Es war das erste Mal in dieser Woche, dass Björn am frühen Abend zu Hause war. Er war arg angeschlagen und hatte sich darauf gefreut, mit Elena in Ruhe zu Abend zu essen. Und nun das.

»Wäre Müller nicht dran?«, fragte Björn vorsichtig.

»Hat sich den Fuß verknackst. Sitzt beim Röntgen im Malteser-Krankenhaus, fünf Leute vor ihm.«

»Und die freien Mitarbeiter, was ist mit denen?«

»Kröger! Das ist kein Taubenzüchtertreffen! Da kommen Koryphäen aus ganz Deutschland.«

Björn biss sich auf die Lippe. Nicht sehr schlau, den Chef zu verärgern. Und schließlich – die Koryphäen machten die Sache interessant. Auf so einen Termin konnte der Chef nicht jeden schicken.

»Wann ist das?«

»In einer Dreiviertelstunde. Zwanzig Uhr.«

»Wo?«

»Hotel ›Königshof‹.«

»Gut«, sagte Björn und nieste.

»Was ist gut daran?«, zischte Elena. Ihr Pinsel plätscherte heftig im rosa gefärbten Wasser.

»Gesundheit«, sagte der Chef.

»Kein Drama«, schniefte Björn.

»Warum wieder du?«, fauchte Elena, als er aufgelegt hatte. »Es gibt noch andere Leute, die hingehen können!« Die Spritzer auf ihrem Bild hatten sich zu Flecken vergrößert. Sie riss das Blatt vom Block, zerknüllte es und warf es in die Sofaecke. »Lass dich nicht immer breit schlagen! Sag endlich mal Nein!«

»Nein«, sagte Björn zwanzig Minuten später.

Elena hatte einen bunten Salat aus Tomaten, Oliven, Paprika und allerlei Grünem zubereitet. Sie saß am Tisch und deutete auf seinen Platz.

»Unmöglich, keine Zeit.« Er schnitt sich im Stehen eine Scheibe Brot und ein Stück Käse ab; das musste reichen. »Hoffentlich gibt es eine Pause«, erklärte er zwischen zwei Bissen. »Dann könnte ich Tante Marie anrufen.«

»Ist die so wichtig?«, fragte Elena in gereiztem Ton. Sie klatschte die Butter auf ihr Vollkornbrötchen, als wollte sie es verhauen.

Die Tante hätte er jetzt besser nicht erwähnt, das war ungeschickt und lag nur daran, dass der Chef von Frau Brause gesprochen hatte, die gestern noch munter auf dem Weg zu ihrer Nichte gewesen war und ihn gefragt hatte: Wie geht es denn Ihrer Tante? Worauf er geantwortet hatte: Ausgezeichnet. Obwohl er keine Ahnung hatte. Seit Wochen – oder Monaten? – hatte er Marie völlig vergessen, er musste sich endlich bei ihr melden. Morgen rufe ich sie wieder an, versicherte er Frau Brause, die ihm daraufhin ein herzliches Lächeln schenkte, das ihn innerlich erwärmte. Er mochte ältere Damen wie Frau Brause und schätzte ihre Liebenswürdigkeit und Anteilnahme, obgleich sie damit manchmal übertrieb.

»Mach’s gut, Schatz.« Björn setzte Elena einen Kuss auf die gerunzelte Stirn unter den Ponyfransen.

»Das Brot lässt du angebissen auf dem Teller liegen? Den Salat hast du nicht einmal probiert!«

Langwieriges Kauen, grüne Fasern zwischen seinen eng stehenden Zähnen, Zahnpasta und Mundspülung, weiße Spritzer auf der Krawatte – das ging jetzt wirklich nicht. Beinahe hätte er den esse ich später gesagt, schluckte den Satz aber hinunter, damit Elena nicht über Frische und Vitamine dozierte, was immer etwas länger dauerte. Deshalb meinte er nur: »Hübsch siehst du aus.«

Das sprach er schon halb zur Haustür, während er die Hand nach der Klinke ausstreckte. Draußen in der Dunkelheit, wo es in Strömen regnete, flogen verärgerte Ausrufe hinter ihm her. Hatte er versehentlich die Tür offen gelassen? Elenas Stimme ging im Rauschen des Sauwetters unter. Mit gesenktem Kopf rannte er den Fußweg entlang zum Wagen, der am Straßenrand stand. Dicke Tropfen trafen sein Gesicht, Wasser spritzte von allen Seiten. Er übersah eine Pfütze, als er den Schlüssel aus der Tasche zog. Die rechte Socke wurde nass und eisig kalt.

Mal wieder zu hektisch, dachte er, als er am Lenkrad saß. Aus seinem Haar tropfte Wasser, im Nacken lief es in den Kragen. Die Anzughose war voller Flecken. Sein Schirm stand drinnen im Flur, der Regenmantel hing am Kleiderständer. Es hätte keine fünf Sekunden gekostet, um beides mitzunehmen. Und kaum mehr als zwei Minuten, um Elena zu besänftigen. Heute machte er alles falsch.

Björn drehte den Zündschlüssel. Die Frontscheibe bedeckte ein Vorhang aus Wasser, das unablässig vom Dach strömte, als säße er im Innern eines Wasserfalls. Hätte er denn Nein sagen können zum Chef? Nicht in Zeiten, wo auf eine solche Stelle hundert andere scharf waren und man überall Leute entließ! Leider häuften sich die Termine in letzter Zeit. Die Arbeit schien immer mehr zu werden. Oder lag es an ihm selbst? War er langsamer geworden? Umständlicher?

Er drehte den Schlüssel zum dritten Mal. Und wieder stotterte der Motor und verstummte. Elena fehlten natürlich die abendlichen Kino- und Theaterbesuche, das gemeinsame Kochen, Stadtbummel und Ausflüge zu zweit. All das war selten geworden. Er wollte nicht ständig erklären, wie wichtig der Job für ihn war. Die Zeit, als er ohne feste Stelle für magere Honorare gearbeitet und jeden Tag befürchtet hatte, die Quellen seiner Aufträge könnten versiegen, war noch nicht lange her. Der Posten bei den Bonner Nachrichten war ein guter Fang, und um ihn festzuhalten, bedurfte es mehr als einer flotten Schreibe. Man erwartete Engagement und Belastbarkeit, besonders wenn Not am Mann war. Das musste Elena doch verstehen! Endlich sah es auch der alte Motor ein. Die Scheibenwischer nahmen quengelnd ihre Arbeit auf.

Vor ihm lag die Fahrbahn, glänzend vor Nässe wie die Haut eines Wals. Björn lenkte den Wagen aus der Wohnstraße im Stadtteil Endenich und fuhr in Richtung Zentrum. Die Tiefgarage des »Königshof« war möglicherweise voll, aber am Rheinufer fand sich meistens eine Parklücke. Die paar Schritte musste er dann eben zu Fuß gehen. Der Regen würde sicher bald nachlassen. Und Elena würde sich beruhigen, wie immer. Natürlich würde sie das.

»Hallo, Marie.«

»Björn!« Am Telefon wirkte ihre Stimme immer überraschend jugendlich, obwohl sie bestimmt im Rentenalter war.

»Wie geht es meiner Lieblingstante?«

»Mach keine Witze, Junge, ich bin deine einzige Tante. Aber wo bist du? Es ist so laut im Hintergrund.«

»Ich bin auf einer Veranstaltung im ›Königshof‹. Wir haben gerade Pause.«

»Das ist das Hotel in der Adenauerallee mit der schönen Terrasse und dem herrlichen Blick auf den Rhein, nicht wahr?«

»Im Moment sieht man nur Dunkelheit und Sauwetter. Und jede Menge Menschen. Der Goldene Saal ist rappelvoll, und jeder will was trinken.«

»Und du stehst mittendrin und telefonierst zwischen all den Leuten?«

»Ich steh mit einem Bier in der Nähe des Eingangs. Hier geht es.«

»Was für eine Veranstaltung ist das?«

»Vorträge und Podiumsdiskussion mit bekannten Rheumatologen.«

»Bist du von Anfang bis Ende dort?«

»Sonst könnte ich keinen ausführlichen Bericht schreiben.«

»Sind da auch normale Leute oder nur solche vom Fach, Ärzte und so?«

»Die meisten dürften Patienten und ihre Angehörigen sein.«

»Sind es viele?«

»Hier stehen rund dreihundert Stühle, und alle sind besetzt.«

Dass sie das alles interessierte! So viele Fragen hatte seine Tante ihm noch nie gestellt. Das war wunderbar und zeigte sie von einer ganz neuen Seite.

»Kannst du mich am Sonntag besuchen, Björn? Ich habe eine Bitte.«

Bisher hatte er für Marie kaum mehr getan, als eine Glühbirne auf dem Dachboden auszuwechseln. Es war nicht so, dass er nichts für sie tun wollte, aber er vergaß immer, seine Hilfe anzubieten. Genauso wie er ständig vergaß, sie anzurufen. Und Marie war so zurückhaltend! Ihre Bitte war ihm hoch willkommen. Er stimmte zu, am Sonntag um vier zu kommen.

Ein Gong teilte das Ende der Pause mit. Björn tippte rasch noch eine Nummer an.

»Elena«, sprach er ins Handy. »Ich habe mich mit Marie für Sonntagnachmittag verabredet. Kommst du mit?«

Sie schien zu überlegen. Das war ein gutes Zeichen. Björn stellte sein leeres Glas auf einen Stehtisch und nickte jemandem zu, den er flüchtig kannte. Ob Elena diesmal …

»Nein.«

Natürlich, das hätte er sich ja denken können.

»Besuch sie bitte allein.«

»Kein Drama«, behauptete Björn und schloss sich den Menschen an, die wieder in den Saal strömten.

Es war ärgerlich, dass Elena die Tante mied. Vor Jahren hatte er mal gehofft, die beiden würden sich anfreunden. Aber Elena behauptete, Marie sei seltsam, sie wirke wie eine Laienschauspielerin in einer ungeliebten Rolle, also nicht ganz echt. Björn hatte eingewandt, Marie lebe schon seit Jahrzehnten allein und hadere vielleicht mit ihrem Status als Witwe ohne Beruf. Alles vergebens. Elena lehnte Marie ab.

Vorne im Saal begannen die Mediziner sich um den Rednertisch zu versammeln. An der Tür stand breitbeinig ein Mann wie ein Turm mit gelbgoldener Kuppel. Das ist ein Elend in meiner Zunft, dachte Björn, wo man hingeht, trifft man auf Kollegen. Er hatte bereits Mitarbeiter von Radio Bonn/Rhein-Sieg, vom WDR, der Deutschen Welle, den Blättern der Bonner Umgebung und von überregionalen Zeitungen begrüßt, und die Begegnung mit dem da, Klaus Wilhelm vom Rheinblick, hätte er sich gern erspart. Dieser Mensch pflegte alle anzugrinsen, als ob er sich über sie lustig machte. Ist eben seine Macke, hieß es allgemein, und niemanden schien es ernstlich zu stören. Doch Björn befiel jedes Mal ein Unbehagen, als hätte Wilhelm bei ihm Tomatenflecken auf dem Hemd oder Rasiercreme auf der Nase entdeckt.

Wilhelms Grinsen kam Björn heute besonders breit vor. Die Kiefer bewegten sich mahlend unter der gelben Pilzfrisur, die vermutlich gefärbt war, schließlich war er Ende Fünfzig. Als sich ihre Blicke kreuzten, blitzten die blauen Augen diabolisch auf – falls es nicht nur Lichtreflexe der Lampen waren, die von den Wänden und der Decke herabstrahlten.

»Sie hat es also auch getroffen«, schmatzte Wilhelm ihm entgegen. Pfefferminzaroma umgab ihn wie Parfum. »Bei uns hat fast jeder die Grippe oder tut zumindest so. Der standhafte Rest darf alle Abendtermine wahrnehmen.«

Er hielt Björn einen silbrig verpackten Streifen entgegen. »Möchten Sie auch? Sie können das gebrauchen, so schlaff, wie Sie aussehen.«

»Nein, danke«, sagte Björn, bemüht, nicht beleidigt zu wirken.

»Los, probieren Sie! Fabelhafte Sorte. Energie pur.«

Björn wollte nicht unfreundlich sein und nahm den angebotenen Streifen. Sogleich bereute er es. Er hätte beim Nein bleiben sollen. Die Bemerkung über sein Aussehen war auch nicht die pure Höflichkeit.

»Das Papier können Sie mir geben.«

Björn wickelte den Kaugummi aus und schob ihn in den Mund. Wilhelm beobachtete ihn. Ich kann den Kerl nicht leiden und lasse mir von ihm so ein Zeug aufschwatzen, ärgerte sich Björn. Im Moment konnte er sich selbst nicht leiden.

»Na?«

»Fabelhaft. Wie Sie sagten.«

Als Björn auf seinem Platz saß, schaute er sich um und sah den gelben Schopf weit entfernt in einer der hinteren Reihen leuchten. Das Gesicht war von anderen Leuten verdeckt. Björns Hand fuhr zum Mund und zog das Kaugummiknäuel von seinen Backenzähnen. Widerlich, dachte er, ich hätte es ihm an die Nase kleben sollen. Er ließ die Hand unter den Sitz gleiten und drückte die weißgraue Masse an die Innenseite des Stuhlbeins. Ein Kaugummi wird man ja leicht wieder los.

2. Die Bitte

Kaum zu glauben, dass diese Woche wie alle anderen aus sieben Tagen bestand! Sie kam Björn vor wie ein einziger vollgepackter Arbeitstag. Er war nicht in Form, der andauernde Schnupfen machte ihn fertig, der zunehmende Husten unterbrach jeden Gedankengang und jedes Gespräch.

Bis Montag musste seine Reportage über die Schrebergärten fertig werden. Immerhin: Seinen Informationen zufolge gab es im Stadtgebiet zwanzig Kleingartenvereine und 885 Kleingärten. Umfangreiche Themen wie dieses brachte die Lokalredaktion neuerdings jede Woche, die kamen gut an, bedeuteten aber einiges an Mehrarbeit. Björn hatte das Thema unterschätzt und geglaubt, bis zum Wochenende damit durch zu sein. Jede Menge aktuelle Berichte und Meldungen waren dazwischen gekommen, die Recherchen hatten sich verzögert, und eine Gesprächspartnerin hatte kurzfristig abgesagt. Das Fax mit den Lageplänen hatte er erst am Freitagabend erhalten, es war versehentlich in der Sportredaktion gelandet. Und nun war der Sonntag da, und die Verabredung mit seiner Tante passte ihm nicht mehr. Für den Besuch in ihrem Haus würden zwei bis drei Stunden drauf gehen.

Björn wollte schnell noch ein paar Absätze korrigieren und holte sich eine Tasse Kaffee aus der Küche. Im Flur stieß er auf Elena. Sie öffnete die Haustür und erklärte, sie gehe mit Gaby und deren Mops auf den Kreuzberg. Helles Sonnenlicht ließ ihr braunes Haar rötlich aufleuchten. Ein frischer Lufthauch, der an Sekt erinnerte, zog über die Schwelle. Irgendwo hoch oben meinte Björn die Rufe der ersten Kraniche zu hören. Er schnupperte durch die verstopfte Nase. Roch es schon nach Blüten? Ein Spaziergang mit Elena täte ihm gut und gäbe ihm Schwung für die restliche Arbeit. Dafür würde er sogar diese Gaby und ihren Mops in Kauf nehmen. Er müsste nur schnell Marie anrufen und ihr absagen. Seine Erkältung und die Ansteckungsgefahr wären Grund genug. Worauf sie ihm bestimmt versichern würde, das mache ihr nichts aus, zurzeit sei sowieso jeder erkältet. Oder er könnte seine Arbeitsbelastung anführen. Dann hätte er zwar ein schlechtes Gewissen, könnte ihr aber ersatzweise den Sonntag in drei Wochen anbieten.

Wenig später fuhr Björn mit dem Wagen los. Auf ihn war Verlass, darauf war er auch ein bisschen stolz. Er konnte Marie nicht enttäuschen – nicht wegen eines Berichts über Kleingärten, erst recht nicht wegen eines Spaziergangs. Sie hatten sich so lange nicht gesehen! Wie hatte er es fertig gebracht, ein ganzes Jahr verstreichen zu lassen, ohne eine einzige Stunde für sie zu erübrigen? Und das, obwohl es bis zu ihrem Haus am Poppelsdorfer Weiher per Auto oder Fahrrad nur ein paar Minuten waren.

Er erreichte die Meckenheimer Allee, fuhr am Schloss Clemensruhe vorbei und gelangte zum Kopf der Poppelsdorfer Allee, die den früheren kurfürstlichen Landsitz mit dem Stadtschloss, dem heutigen Hauptgebäude der Universität, verband. Wie gewohnt warf er einen kurzen Blick auf das andere Ende der Sichtachse mit der Grünfläche in der Mitte, die von zwei Doppelreihen Kastanien mit noch winterkahlen Kronen gesäumt wurde. Die dortigen Sandwege waren Fußgängern und Radfahrern vorbehalten, während der Autoverkehr einspurig an den äußeren Rändern floss. Björn bog in die bescheidenere Königstraße ein und fand rechts im Venusbergweg eine Parklücke am Zaun des botanischen Gartens, dem ehemaligen Schlosspark.

Wie schäbig das kleine Auto wirkt, dachte Björn, als er ausstieg und die Fahrertür abschloss. Vor zehn oder elf Jahren war er so stolz darauf gewesen: Sein erstes Auto! Endlich genug Geld! Doch in letzter Zeit schien es zu schrumpfen wie ein alter Apfel. Was in der begehrten Wohnlage zwischen dem Barockschloss und den Bürgerhäusern aus der Gründerzeit besonders auffiel.

Als er den Fußweg am Weiher betrat, stand seine Tante bereits vor dem Tor ihres Vorgartens und winkte ihm zu. Vielleicht hatte seine alte Mühle so laut geknattert, dass Marie ihn trotz geschlossener Fenster und kochenden Teewassers schon von weitem gehört hatte. Beim Anblick ihrer rundlichen Gestalt wurde ihm ganz warm vor – ja, vor Freude. Diese liebe Cousine seiner Mutter wiederzusehen, war gut und richtig. Er war froh, es nicht aufgeschoben zu haben.

Marie begrüßte ihn herzlich und hakte sich bei ihm ein. Unter ihren eulenartigen Brillengläsern saß ein schiefes Lächeln, das er an ihr nicht kannte. Vielleicht trug sie jetzt eine Zahnprothese, die irgendwo drückte.

Über die Stufen zur Haustür und den braun-weiß gefliesten Flur gingen sie in das mit antiken Möbeln bestückte Wohnzimmer. Der Duft von Bohnerwachs und Möbelpolitur sowie das Ticken der hohen Standuhr begleiteten sie über das Eichenparkett und die Orientbrücken, während die dunklen Augen einer hageren Urahne im vergoldeten Rahmen ihnen von der Wand aus Schritt für Schritt zu folgen schienen. Durch die Tüllgardine an den Fenstern, die auf den Garten blickten, schimmerten rosa Alpenveilchen. Auf dem ovalen Tisch stand das silberne Stövchen mit der bauchigen Kanne, beides so makellos blank geputzt wie das Milchkännchen, die Zuckerdose und die Plätzchenschale daneben. Kein Buch, keine Zeitung, kein einziges Papier, nichts lag auf den polierten alten Möbeln herum. Eine Welt von Ordnung und Unschuld und – Spießigkeit, hätte seine Mutter gesagt. Björn selbst benutzte den Begriff nicht, weil er unsicher war, was genau darunter fiel und was nicht.

Bald dampfte der Tee in den Tassen. Marie, die Björn gegenüber saß, betrachtete ihn liebevoll.

»Wie geht es dir, Björn?«

Er nickte vage. »Du hast eine Bitte.«

»Hm … Es fällt mir schwer«, sagte sie und zupfte an der Rüsche ihres Blusenärmels.

»Nur zu!«, ermunterte Björn sie und dachte: Zögere es nicht hinaus, liebe Tante, mach bitte flott. Bei der Aktion mit der Glühbirne war sie erst nach anderthalb Stunden damit herausgerückt, was sie von ihm wollte.

Die kleinen Augen hinter den großen Gläsern richteten sich auf das Bild der Urahne an der Wand. Sie schienen dort den Falten des weinroten Kleides vom Hals bis zum Schoß zu folgen und wanderten zurück zum Tisch. Die mollige Hand nahm ein Plätzchen, der kleine Mund knabberte daran, als dächte Marie längst an etwas anderes und hätte ihren Wunsch vergessen. Björn klopfte sachte mit den Fingern aufs Tischtuch.

»Sag, Björn – wie geht es Lars?«

Björns Ellenbogen zuckte zur Seite, sein Ring stieß gegen ein Glas, das einen hellen Glockenton von sich gab. Was sollte die Frage?

»Deinem Bruder Lars.«

Björn langte nach der weißen Papierserviette vor ihm und faltete sie kleiner. Warum fragte Marie nach Lars? Das passte ihm nicht, er wollte nicht an ihn erinnert werden. Lars und er … Die Band, die Handball-Mannschaft, ach, was nicht alles! Björn drückte die Serviette zu einem Päckchen zusammen. Irgendwann hatte nichts mehr geklappt. Konnte er was dafür? Wäre sonst nichts passiert? Lars mit seinen neuen Freunden, diesen Dummköpfen. Hätte nicht jeder sich abgewandt? Nach vorn schauen, hatte Vater gesagt, hatte seinen Laden verkauft und war nach Island abgehauen. Mutter wollte im Nachhinein alles anders gemacht haben, telefonisch von New York aus.

»Ich habe nichts mehr von ihm gehört«, sagte Marie.

Niemand hatte von Lars gehört. Seine Abneigung gegen Menschen aus seinem alten Leben war allzu deutlich. Trotzdem hätte man mehr tun müssen. Björn presste das Serviettenpäckchen zusammen, bis die Finger schmerzten.

»Björn?«

Marie schaute ihn an. Wie eine Forscherin, die ein Experiment macht. Quatsch, seine Nerven foppten ihn, er musste endlich mit der Sache klarkommen, es war lang genug her. Warum sollte Marie nicht nach Lars fragen? Sie hatten ewig nicht mehr über ihn gesprochen.

»Keine Ahnung, was er so macht«, erwiderte Björn in leichtem Ton, als wäre von einem langweiligen Vetter dritten Grades die Rede. Er glättete die verknitterte Serviette, legte sie unter die Keksschale und schaute zur Standuhr, was weniger auffällig war als der Blick zum Handgelenk. Um sechs Uhr wollte er zu Hause sein. Er war unruhig, weil er den Bericht noch mal kritisch durchsehen und hier und da straffen musste. Der Chef hatte Müller am Freitag zum Vertreter der stellvertretenden Chefredakteurin bestimmt. Müller, nicht Björn, ein klarer Hinweis darauf, dass er sich mehr anstrengen musste.

»Die Bitte, Marie«, sagte Björn, ohne seine Gereiztheit verbergen zu können. »Von der du am Telefon gesprochen hast. Um was geht es?«

»Die Sache ist … delikat.«

»Wie spannend! Schieß los!«

Keine Spur war er gespannt, sie sollte sich nur beeilen, seine Zeit war kostbar.

Die Standuhr aus dunkel gebeizter Eiche gab einen tiefen Ton von sich, als ob hundert Jahre Vergangenheit sich zu Wort meldeten. Björn nahm einen großen Schluck aus der Tasse. Er betrachtete die Kekse in der Schale und nahm einen dreieckigen heraus. Er sog den zarten Zimtduft ein, während er innerlich vibrierte. In dem Bewusstsein, sich entspannen zu müssen, streckte er die Beine unter dem Tisch aus. Die Hacken seiner Schuhe schlugen auf den Boden.

»Jemand aus der Gemeinde«, erklärte Marie schließlich und sah auf seine Beine. »Ein Freund. Er ist in Schwierigkeiten.«

»Geld?«

»Geld doch nicht.«

»Eheprobleme?«

»Du bist seine einzige Hoffnung.«

»Wieso?«

»Der Gute hat dich neulich im ›Königshof‹ gesehen.«

»Ja, und?«

»Du sollst nur sagen, dass du ihn auch gesehen hast, weiter nichts.«

»Wann soll ich das sagen?«

»Wenn es so weit ist.«

»Und wo?«

»Vor Gericht.«

Björns angebissener Keks fiel auf den Teppich. Seit der Sache mit Lars hatte er das Gebäude des Amts- und Landgerichts nicht mehr betreten.

»Der Arme hat so ein Pech!«, sagte Marie. »Niemand will ihn bemerkt haben.«

»In dem Hotel waren doch genug Leute.«

»Björn, er steht mir so nahe. Es geht um unser Glück.«

Wie eine Taube kam das Wort geflogen. Glück. Aus dem Mund der Tante war es ungewohnt und fremd. Es machte Björn verlegen.

»Du hast einen festen Freund?«

Sie blickte wieder zu Boden. Er zog die Füße unter den Stuhl und traf mit der Schuhspitze den Keks, der knirschend zerbrach. Marie und ein Liebhaber, das war ja eine Neuigkeit!

»Stell ihn mir bald mal vor.«

»Gerne!« Sie legte den Kopf in den Nacken und drehte das Gesicht der Zimmerdecke zu. »Alfred?«

Björn erschrak. »Ist er da?«

Das ging ihm ein bisschen zu schnell. Ihr Freund hatte oben im Schlafzimmer darauf gewartet, dass sie ihn rief! Schon waren Schritte auf der Holztreppe zur hören, dann auf den Steinfliesen. Ein Fingerknöchel berührte die andere Seite der Wohnzimmertür. Sie öffnete sich mit langgezogenem Knarren. Wie im Film, wenn der unheimliche Teil begann.

Björn wischte die Kekskrümel von seiner Hose und erhob sich. Herein trat ein Mann im braunen Sakko, das an den Schultern spannte. Alles an ihm wirkte stumpf und braun – das breite Gesicht, das bürstenartige Haar, die kurzen Finger und sogar die Zähne, die zwischen den Lippen auftauchten. In einem Haufen alter Blätter wäre er kaum aufgefallen.

»Wir haben uns am Donnerstagabend gesehen, Herr Kröger«, sagte der Mann in leicht rheinischem Tonfall. »Die Rheumatologen. Wissen Sie noch?«

Björn erinnerte der Mann an den unbeholfenen Verkäufer von Grußkarten für irgendeinen guten Zweck, dem er vor Weihnachten widerwillig ein Päckchen abgekauft hatte, ein wenig auch an den Fürsprecher eines kleinen Zirkus, der mit der Sammelbüchse vor der Tür stand und ihn überredete, für Tierfutter zu spenden. Aber »Königshof«? Hatte er ihn dort gesehen? Irgendwo im Gedränge? Er überlegte.

Sein Blick begegnete Maries Eulenaugen, die um eine zustimmende Antwort flehten.

»Du erinnerst dich, Björn?«

»So ungefähr«, sagte er.

Ein klares Nein erschien ihm zu unhöflich. Es war ja möglich, dass er den Mann gesehen, aber sein Äußeres sogleich wieder vergessen hatte. Solche Gesichtszüge sah man allzu oft. Als hätte es sie irgendwo als preiswerte Mängelware gegeben.

»Aber nicht genau«, beeilte er sich hinzuzufügen.

Wie an vielen Orten, die Björn für die Zeitung aufsuchte, hatte er auch am Donnerstagabend in Hunderte von Gesichtern geschaut, von denen ihn die wenigsten interessierten.

»Ich war dort für meine Mutter. Ihr selbst war die Veranstaltung zu anstrengend«, sagte der Mann und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. »Während der Vorträge und der Diskussion saß ich schräg hinter Ihnen, Herr Kröger. Sie drehten sich mehrmals um, als hielten Sie nach Bekannten Ausschau. In der Pause stand ich in Ihrer Nähe an der Eingangstür. Deshalb bemerkte ich, dass Sie mit jemandem namens Marie telefonierten. Meiner Marie, wie sich später herausgestellt hat. Gibt es nicht glückliche Zufälle?«

Björn beugte sich zum Teppich hinunter und hob die zerbrochenen Keksstücke auf. Bildete er sich das ein oder klangen die Sätze tatsächlich auswendig gelernt? Vielleicht war der Mann nur bemüht, einwandfrei zu sprechen und ihm den rheinischen Dialekt zu ersparen.

»Du hilfst meinem Alfred, Björn?«

»Ihre Tante wird Sie großzügig belohnen, Herr Kröger.«

»Du kannst es gebrauchen, nicht wahr?«, flüsterte sie.

»Es geht um unser Glück«, sagte der Mann steif.

Arm in Arm standen die beiden da und schauten ihn hoffnungsvoll lächelnd an. Das ist ja unglaublich peinlich, dachte Björn. Er bemerkte den sozialen Unterschied zwischen ihnen, obwohl er nicht hätte sagen können, woran. Lag es am Sakko? Den Fingernägeln? Den Zähnen? Der Art zu sprechen? Seine Mutter hätte ihm zugeflüstert: Das ist ein ganz einfacher Mann. Was will sie mit dem? Björn verabscheute solche Vorurteile. Das Einzige, was zählte, war, dass Marie einen Menschen gefunden hatte, der sie mochte. Er war mindestens zehn Jahre jünger als sie – warum auch nicht?

Aber vor Gericht aussagen … Björn spürte, wie die Sache mit Lars ihm wie ein spitzer Keil zwischen Kopf und Bauch steckte. Wegen Totschlags zu sechseinhalb Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Verurteilt! Gab es etwas, das demütigender war? Nicht nur für den Bruder, sondern auch für ihn selbst war es ein Schlag ins Gesicht gewesen. Nie wieder hatte Björn ein Gericht betreten wollen. Warum mutete Marie ihm das zu? Ihre Liebe zu diesem Alfred musste stärker sein als ihr Feingefühl.

Es könnte allerdings, ging ihm plötzlich durch den Kopf, auch seinen Reiz haben, den Richtern mal nicht als Bruder des Angeklagten gegenüberzustehen, sondern als unbeteiligter Zeuge, der oft die wichtigste Figur ist. So ein Zeuge war aufgetaucht, als Lars schon anderthalb Jahre im Gefängnis saß, und hatte dem ahnungslosen Gericht erklärt, was auf der Kirmes am Beueler Rheinufer wirklich geschehen war: Das Messer hatte natürlich ein anderer geführt.

»Woher wussten Sie, wie ich heiße?«, fragte Björn den Mann, der gerade die rundliche Hand der Tante tätschelte.

»Ich stand am Getränkeausschank hinter Ihnen. Sie drehten sich um und reichten mir mein Kölsch. Ich stellte mich vor. Daraufhin sagten Sie Ihren Namen. Leider waren Sie nicht an einem Gespräch interessiert.«

Björn versuchte, sich an das Gewühl vor dem Saal zu erinnern. Laut war es gewesen. Viele bekannte Gesichter, häufiges Grüßen, Satzfetzen hier und da, immer wieder Namen, die meisten verstand man nicht oder vergaß sie auf der Stelle. Ein paar Biere wurden nach hinten durchgereicht.

»Möglich«, sagte Björn. »Ich kann mich nicht daran erinnern.«

Dieser Mensch ahnte natürlich nicht, wie oft Björn jeden Tag angesprochen wurde und was es hieß, in dieser Stadt Lokalredakteur zu sein; noch weniger konnte er sich vermutlich vorstellen, dass ein Journalist, der sich Notizen machte, nicht auf die Reihe hinter ihm achtete. Zu Beginn der Pause hatte Björn einige Worte mit dem beeindruckenden Professor K. gewechselt und sich mit Leuten vom WDR und der Deutschen Welle unterhalten. Wie sollte er sich an einen unbedeutenden Mann und sein Kölsch erinnern?

»Du hast mir erzählt, jemand hat Björn mit Namen angeredet«, wandte sich Marie an ihren Freund.

»Ach ja. So ein Großer.« Alfred schaute Björn erwartungsvoll an.

»Blond?«

»Ja, blond.«

»Meinen Sie Wilhelm vom Rheinblick

»Genau der. Sie haben ein paar Worte mit ihm gewechselt.«

»Ja, stimmt.«

»Wirst du es tun, Björn?« Maries Stimme zitterte leicht.

Kann ich ihr das abschlagen?, dachte Björn. Er ist ihr Ein und Alles. Ihr Glück. Außerdem war Alfred tatsächlich im »Königshof« gewesen, er hatte Wilhelm gesehen. Dass er selbst sich nicht genau an Alfred erinnerte, war nur ein erneuter Beweis dafür, dass er die Menschen nicht richtig wahrnahm. Björn schaut an allen vorbei – hatte Elena das nicht kürzlich beklagt? Björn sieht nur die Berühmten und die Wichtigen. Machten sich nicht unzählige Leute darüber lustig?

»Was hast du gesagt?« Die Frage ähnelte einem Wimmern. Marie hielt den Kopf vorgestreckt wie eine Schildkröte. Die Szene hatte etwas Unwürdiges an sich.

»Es ist doch ganz einfach«, sagte Björn zu ihrem Freund. »Wenn Wilhelm Sie gesehen hat, kann er für Sie aussagen.«

Der Mann blicke Marie an.

»Es war anders, Björn«, sagte sie. »Alfred hat ihn gesehen, aber nicht umgekehrt.«

Maries Freund nickte. »Der Blonde hat zu Ihnen geschaut, als ich vorbeigegangen bin.«

Björn entfuhr ein Seufzer. »Was für ein Gerichtsverfahren ist es?«

»Ein Strafprozess«, erwiderte Marie. »Aber das tut nichts zur Sache. Du hast ihn also gesehen, Björn.«

»Eine Strafsache!«, rief Björn. Ohne sich genaue Vorstellungen gemacht zu haben, hatte er auf etwas Harmloseres gehofft. »Trunkenheit am Steuer? Fahrerflucht?«

»Dass Sie gerade das erwähnen!«, stöhnte Alfred und ließ Maries Hand fallen. Er schluchzte auf, stürzte hinaus und schlug die Tür hinter sich zu. Die weiteren Geräusche seiner Flucht verschluckten die Schläge der Standuhr.

»Seine Mutter«, flüsterte Marie. »Seine geliebte alte Mutter. Ausgerechnet an dem Rheumatologenabend. Jemand ist mit Al­freds Auto gefahren, und die Mutter saß mit drin, im Dunkeln, bei strömendem Regen auf der Landstraße, irgendwo in der Nord­eifel. Der Wagen kam von der Fahrbahn ab, stürzte eine steile Böschung hinunter und prallte gegen eine Eiche. Die arme Frau war sofort tot. Man hat sie erst am nächsten Morgen gefunden. Der Fahrer ist getürmt, und niemand weiß, wer es war. Ist das nicht furchtbar für den Sohn?«

»Alfred muss doch wissen, wer den Autoschlüssel hatte.«

»Es gab bei ihm zu Hause einen Zweitschlüssel. Der hing dort am Schlüsselbrett. Jeder konnte ihn wegnehmen.«

»Wie – jeder?«

»Alfreds Schwester, ihr Lebensgefährte und ihr Sohn, Alfreds Frau und ihr Liebhaber, sein Stiefbruder und dessen Freundin sowie die Schwiegermutter und ihr Freund.«

»So viele?«

»Sie wohnen alle zusammen, eigentlich ganz liebe Leute, aber sie decken sich gegenseitig, sie gönnen ihm die Erbschaft nicht. Einer von ihnen behauptet, die Mutter habe sich um halb acht mit Alfred in der Stadt getroffen. Weil die anderen angeblich in der Wohnung waren, verdächtigt die Polizei natürlich ihn, der Unglücksfahrer zu sein. Aber Alfred war im ›Königshof‹. Er hatte den Bus genommen. Das Parken in der Stadt wird ja immer schwieriger.«

»Hat er den Fahrschein noch?«

»Ich glaube nicht. Woher sollte er wissen, dass er ihn noch brauchen würde?«

»Irgendwer muss sich doch an ihn erinnern! Der Busfahrer? Das Hotelpersonal? Jemand, der neben ihm saß?«

Marie schüttelte den Kopf.

»Die Polizei glaubt ihm nicht, weil er keine Zeugen hat. Es ist tragisch. Alfred ist ein so lieber Kerl. Und nun fehlt ihm ein Alibi. So nennt man das wohl?«

»Mir scheint, du bist dir keineswegs sicher, dass du ihn gesehen hast«, sagte Elena, als Björn beim Abendessen von dem Gespräch berichtete.

»Nicht ganz sicher, aber ziemlich sicher.«

»Was sind das für Abstufungen? Dreiviertelwahrheit? Vierfünftel? Neunzehntel? Vor Gericht musst du die volle Wahrheit sagen. Alles andere wird bestraft. Und wenn du auch noch einen Eid darauf…«

»Was kann Maries Freund dafür, dass ich so ein schlechtes Gedächtnis habe?«, unterbrach er sie. Wie bei den Vitaminen, immer wollte sie ihn belehren! »In letzter Zeit geht es mir oft so – ich sehe jemanden und achte nicht drauf. Das weißt du doch.«

»Dann sag es so. Die volle Wahrheit ist, dass du dir nicht sicher bist.«

»Elena! Wenn ich als unzuverlässige Persönlichkeit dastehe, wenn ich ein wackeliger Zeuge bin, nützt das Alfred überhaupt nichts.«

»Du musst es ablehnen, Björn. So eine Gefälligkeit kann dir alles kaputt machen. Und das für einen völlig Fremden!«

»Elena, begreifst du nicht, um was es hier geht?«

»Um lebenslange Freiheitsstrafe vermutlich.«

»Doch nicht bei Anklage wegen Fahrerflucht.«

»Es gibt eine Tote!«

»Ist dir klar, was du da sagst? Du bezichtigst Maries Freund der Lüge!«

»Bekommst du eine Belohnung dafür?«

»Es geht hier um das Glück meiner Tante! Ich bin froh, dass ich etwas für sie tun kann.«

»Kann sie sich nicht selbst um ihr Glück kümmern und dich in Ruhe lassen? Wie kommt sie an diesen Alfred?«

»Sie kennen sich aus der Kirche.«

»Kirchlich geprüft – ist das ein Gütesiegel?«

»Warum bist du immer so pedantisch?«

»In diesen Dingen muss man genau sein. Du kannst dich nicht wegen irgendeiner dösigen Tante …«

»Das ist es – du magst sie nicht!«, fuhr er sie an. »Dabei kennst du Marie kaum!«

»Und wie gut kennst du sie?«

Er biss in sein Käsebrot und antwortete nicht, erschrocken, weil sein Ton so scharf ausgefallen war. Aber dösig hätte sie nicht sagen dürfen!

Elena schaute ihn nicht an, sondern blickte auf ihre Tomatenscheiben, die sie sorgfältig mit Mayonnaise bestrich. Sein Bergkäse schmeckte wie Pappe, er schob den Teller weg und schielte zur ihr hinüber. Sie knabberte an dem Tomatenbrot herum wie eine Maus.

Er fühlte sich unwohl in dem kalten Schweigen. Ihm fiel ein, dass sie sich beim Frühstück vorgenommen hatten, abends über die gemietete Garage zu reden, weil sie teuer war und nicht unbedingt notwendig. So kam es, dass sie nach einigen Minuten wieder miteinander sprachen – über die Garage.