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Gesänge aus dunklen Zeiten
Phantastische Geschichten des Mittelalters

Herausgegeben von Isabella Benz, Michèle-Christin Jehs und Jana Hoffhenke 

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

ISBN 978-3-946531-07-7 (Print Ausgabe)

ISBN 978-3-946531-20-6 (Epub)

 

© Burgenwelt Verlag | Jana Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat | Korrektorat: Tatjana Stöckler | Isabella Benz | Michèle-Christin Jehs | Jana Hoffhenke

Satz | Gestaltung: Jana Hoffhenke

Umschlaggestaltung | Coverillustration: Simon Stadler

Ebook-Realisierung: Eridanus IT-Dienstleistungen

 

Vorwort

 

Als wir etwa ein Jahr vor Erscheinen des Buches mit der Planung einer neuen Ausschreibung begannen, schien uns das Ziel – ein fertiges Buch in den Händen zu halten – noch unglaublich weit entfernt. Vom ersten Feilen am Ausschreibungstext bis zum endgültigen Setzen des allerletzten Kommas sind nun über zwölf Monate vergangen, die für uns Herausgebende in jeglicher Hinsicht spannend und bewegend waren.

Für die Anthologie »Gesänge aus Dunklen Zeiten« hatten wir nach Geschichten gefragt, die in eine von drei Kategorien passen sollten. Im ersten Themenbereich konnte eine mittelalterliche Geschichte geschrieben werden, in der ein phantastisches Element vorkommen musste. Die zweite Kategorie warf die Frage auf, was passiert wäre, wenn ein Ereignis in der europäischen Historie einen anderen Verlauf genommen hätte. Die Geschichten sollten dann in einer dadurch veränderten Alternativhistorie spielen. Die dritte Variante eröffnete den Schreibenden die Möglichkeit, auf den Pfaden mittelalterlicher Autoren zu wandeln und Geschichten und Geheimnisse des Mittelalters zu verfassen als wären es bislang im Verborgenen tradierte Schriften.

Die Kurzgeschichten sollten die Brücke zwischen historischer Realität einerseits und phantastischer Erzählung andererseits schlagen. Ohne im Mindesten zu übertreiben, können wir sagen, dass die eingereichten Werke unsere Erwartungen in vielerlei Hinsicht übertrafen. 170 Autorinnen und Autoren beteiligten sich an der Ausschreibung, so viele wie noch nie zuvor bei einer Anthologie des recht jungen Burgenwelt Verlages. Die Vielfalt der erdachten Geschichten und die hohe handwerkliche Qualität machten das Lesen und Bewerten für uns zu einem unvergleichlichen Vergnügen. Umso schwerer fiel die Auswahl und in einigen Fällen tat es weh, sich von guten und überzeugenden Werken nach der kurzen Bekanntschaft wieder trennen zu müssen.

Wir wollten jedoch eine breite Vielfalt zusammenführen und alle drei Themenbereiche, die wir in der Ausschreibung vorgegeben hatten, berücksichtigen.

Insgesamt fanden deshalb nach konstruktiven, aber harten Verhandlungen der Jury 15 in unseren Augen besonders gelungene Geschichten den Weg in die vorliegende Sammlung der »Gesänge aus Dunklen Zeiten«.

Wir möchten an dieser Stelle allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern danken – jenen, die in diesem Buch versammelt sind, aber auch jenen, die es leider nicht geschafft haben. Sie alle haben dafür gesorgt, dass wir eine wundervolle und kreative Zeit während des Entstehungsprozesses der Anthologie hatten.

Den Leserinnen und Lesern wünschen wir nun ein paar gemütliche Stunden und wir hoffen, dass dieses Buch Ihnen so viel Freude bereitet, wie es bei uns der Fall war!

 

Isabella Benz, Michèle-Christin Jehs & Jana Hoffhenke

Basilissa - Alexander Schmidt

 

Gesponnen von der Moire Hand.

Des Menschen Schicksal unabwendbar.

Befreit vom Los erst wird, wessen Faden reißt.

Davor nur sein Schwingen freier Wille heißt.

 

Teil I – Klotho, 12. Juni 816, Studiu-Kloster (Konstantinopel)

 

Bedächtigen Schrittes ging der Greis durch die Gänge einer der ehrwürdigsten Abteien der Kapitale. Der vom steten Schleifen über den Boden ausgefranste Saum kündete vom jahrelangen Gebrauch seiner Kutte. Doch weder an der Schönheit der Fresken an den Wänden noch an den Statuen oder Altären konnte der Mann sich erfreuen. Schließlich erreichte er das Ziel seiner täglichen Wanderungen, ertastete die steinerne Bank in der Apsis und ließ sich schwer darauf fallen. Um ihn herum herrschte die Stille der Toten. Im Zentrum des Chors standen die Sarkophage, stumme Gefährten seiner letzten Jahre. Seiner war noch leer, aber er würde nicht mehr lange warten müssen. Der Mann richtete seinen Habit und wappnete sich, wohl wissend, dass seine Widersacherin kommen würde. Heute waren die vier Jahre, die sie ihm gegeben hatte, um. Aber auch dieses letzte Mal würde der Besuch vergeblich sein.

Bald hörte er raschelnde Gewänder, die ihre nahe Ankunft verhießen. Er straffte sich, legte seine Hände in den Schoß und rief sich ihre Erscheinung an jenem schicksalhaften Tag in Erinnerung: Das Charisma dieser zierlichen Person hatte die jahrhundertealte Macht von Purpur, Gold und Perlen ins Diesseits gerückt. Widerwillig musste er sich damals niederknien, um ihre roten Stiefel zu küssen. Seine Erinnerung überhöhte sie sicherlich, doch nun war sie in all ihrer Pracht bei ihm und setzte sich, umhüllt von einem leichten Weihrauchduft, neben ihn. Wahrscheinlich war sie zum Gottesdienst in der Hagia Sophia gewesen. Von der gegenüberliegenden Seite verriet ihm ein Geräusch die Anwesenheit ihres Leibwächters, der mit seiner Rüstung an der Wand entlanggeschabt sein musste.

»Ihr hattet um eine Unterredung gebeten, Domina Irene?«, eröffnete er den Tanz der Rhetorik, der in den nächsten Stunden die Apsis zu einem Ballsaal der gelehrten Rede werden lassen würde, einem Schach im Kopf, und er durfte sich keinesfalls in Widersprüche verstricken oder ihr unterliegen.

»Kyrios Leo, meine Frage hat sich in all den Jahren nicht geändert: Werdet Ihr mich anerkennen?«

»Nein.«

»Dann werden wir ein letztes Mal zusammen in die Vergangenheit reisen und ich zeige Euch die Schwächen Eurer Argumentation und wo Ihr gescheitert seid. Beginnt bei dem Attentat auf Euch!«

»Wie Ihr befehlt, Irene. Ich werde Euch erneut berichten, wie es sich zugetragen hat: Es war am 25. April 799. Die Prozession zu Ehren des Heiligen Markus hatte gerade das Griechenkloster San Silvestro erreicht, als urplötzlich Attentäter aus der Menge auf mich zustürmten, Schläger, wie sie in den Straßen Roms schon immer zu Hause gewesen sind. Erst trugen sie ihre Waffen unter den Gewändern, aber als sie sich auf mich stürzten, zogen sie Dolche und Knüppel und rangen mich nieder. Pater Salvatore entglitt vor Schreck das schwere Vortragekreuz und es fiel dumpf auf die Erde. Ich sah nur noch, wie das Antlitz des Herrn mit Schmutz besudelt wurde. Als ich getreten und geschlagen wurde, übermannte mich der Schmerz, bis mich endlich Dunkelheit umfing.

Später erwachte ich liegend vor dem Altar von San Silvestro und um mich herum standen meine Peiniger. Ich will nicht verhehlen, dass Angst mich packte, aber mein Vertrauen in Christus, unseren Herrn, blieb ungebrochen. So stand ich auf und versprach ihnen, mich für sie einzusetzen, sollten sie mich freilassen. Doch zu meinem Unglück drang ich nicht zu ihnen durch. Sie rissen mir die heiligen Gewänder vom Leib und stülpten mir einen Sack über den Kopf. So, meiner Amtstracht beraubt, führten sie mich durch die Sakristei und wohl hinten aus der Kirche heraus, um mich durch unbelebte Gassen zu schleppen.

Nach einiger Zeit quietschte eine Tür in den Angeln und wir erreichten, dem Geruch nach Weihrauch zu urteilen, wieder eine Kirche. Sowie sie den Sack entfernten, erkannte ich das Erasmuskloster am Monte Celio. Noch immer wusste ich nichts über meine Angreifer, als ein besser gekleideter Mann auf mich zutrat. Es war einer meiner Gegner aus dem römischen Stadtpatriziat, augenscheinlich der Auftraggeber dieser Schlägerbande!

›Leo‹, sprach er mich an, ›gesteht Ihr, dass Ihr Ämter an Eure Parteigänger verkauft habt, gesteht Ihr Ehebruch und Meineid?‹

Ich wusste nicht, wie mir geschah, und konnte auf solche Verleumdungen nur mit einem deutlichen ›Nein‹ antworten. Da trat schon einer der Schergen hinter mich, bog meinen Kopf zurück, und ein anderer packte mit der Zange zu und riss mir die Zunge heraus. Welche furchtbaren Schmerzen mir das verursachte, muss ich nicht weiter berichten, genauso wenig, welch namenlose Furcht mich in ihren Fängen gepackt hielt, bis der Glaube an den Herrn mich wieder aufrichtete.

Just in diesem Moment kam ein weiterer der Folterknechte mit einem glühenden Eisen und brannte mir das Licht aus den Augen. Zum zweiten Male an diesem Tag wurde ich ob dieses Martyriums ohnmächtig, doch wieder verließ mich mein Glaube nicht. Der Herr war bei mir, denn ich überlebte nicht nur diese grausigen Qualen, sondern wurde durch Seine Gnade gerettet. Eingesperrt im Erasmusklosters wuchs meine Zunge auf wundersame Weise nach, genauso wie meine Augen binnen kürzester Zeit Gottes herrliche Schöpfung wieder erblicken konnten. Derart durch Seinen göttlichen Willen gestärkt, konnte ich wenige Tage später vollständig genesen aus meiner Zelle entkommen.«

»Kyrios Leo«, brauste Irene auf, »so kann ich Euch nicht glauben. Wollt Ihr Euch tatsächlich Eure letzte Chance mit der Erzählung dieses erfundenen Mirakels und Eurem Starrsinn verbauen?«

»Ihr wolltet meine Geschichte hören, Irene, dies ist sie.«

»Ihr seid nicht der Löwe, der sich in Eurem Namen versteckt, alter Mann, viel eher seid Ihr ein Fuchs, der die Zeichen der Zeit zu deuten wusste. Ich werde Euch erzählen, wie es wirklich war! Ihr habt Zeit Eures Lebens die guten Dinge zu schätzen gewusst, habt Ehebruch begangen, Meineide geleistet und Ämter aller Art für blankes Gold verkauft. Euer Unrecht schrie zum Himmel, sodass sich ein paar aufrechte Diener des Herrn fanden, die Euch entmachten wollten. Sie entführten Euch bei der Prozession und brachten Euch an die besagten Orte, aber von Folter kann keine Rede gewesen sein, nicht wahr? Ihr wart gut untergebracht und nur halbherzig bewacht. Eure Entführer schrieben einen Brief an … wie hieß er nochmal, Leo? Sein Name ist mir entfallen.«

»Karl, dies war sein Name, wie Ihr sehr wohl wisst.«

»Richtig, diesem Karl schrieben sie einen Brief, weil sie in ihm den Schutzherrn der Kirche sahen. In dem Schreiben klagten sie Euch all dieser Verbrechen an und baten um einen neuen Amtsträger, da sie Euch für unfähig hielten. Wie recht sie doch hatten! Aber Euch gelang die Flucht in die Kirche des Heiligen Petri, wo Winigis Herzog von Spoleto und Abt Wirund, beides Gesandte dieses Karls, zufällig anwesend waren. Ihr tischtet ihnen diesen erdichteten Wunderbericht auf, wie Euch Zunge und Augenlicht unter Folter und furchtbaren Leiden genommen wurden, aber durch göttliches Wirken wieder geheilt seien. Ergebene Christen, die sie waren, glaubten sie Euch und nicht den Anklagen Eurer Entführer. Sie brachten Euch zu Eurer Sicherheit über Spoleto nach Franken, ins Reich ihres Königs.

Wisst Ihr, Leo, was mich wirklich interessiert? Habt Ihr Eure Entführer selbst angeheuert oder war es vielleicht sogar dieser Karl?«

»Nichts von beidem stimmt, Irene!«

»Interessant, doch warum hat der Herr Euch das Augenlicht nicht noch einmal wiedergegeben, als ich Euch blenden ließ? Vielleicht solltet Ihr darauf eine Antwort finden. Ich warte immer noch, dass dieses Wunder geschieht.«

»Der Herr wird es wissen, Irene, und er wird sich meiner annehmen. Vielleicht bedurfte ich meines Augenlichtes nur bis zu dem Tag, als Ihr es mir nahmt.«

»Wie dem auch sei. Kommt jetzt zu dem Teil, als Ihr diese lächerliche Anmaßung plantet, in diesem barbarischen Ort an der Quelle der Pader, wo sie nicht einmal die Gabel kannten.«

»Es stimmt, Domina Irene, dass ich von Wirund und Winigis nach Spoleto begleitet wurde und mich in den Schutz König Karls begeben habe. Ich will weiter berichten:

Im Spätsommer 799 erreichte unser kleiner Zug endlich Paderborn und auch König Karl, der damals Vater Europas genannt wurde. Dieser ruhmreiche Mann begrüßte mich voller Demut und zeigte sich bestürzt, als er von meiner Gefangennahme und den Misshandlungen erfuhr. Gleichzeitig aber war er voll des Staunens und erfüllt vom Glauben, als er meine genesene Zunge und meine wiederhergestellten Augen sah. Wir verstanden uns prächtig und unternahmen ausgedehnte Spaziergänge um seine Pfalz herum. Der König wollte meine Entführer zum Tode verurteilen, aber als wahrer Christenmensch bewegte ich ihn dazu, meine Peiniger zur Verbannung zu begnadigen. Im Herbst wurde ich dann von den Erzbischöfen Hildebald von Köln und Arn von Salzburg nach Rom zurückgeleitet. Die Macht des Königs der Franken, der die heidnischen Sachsen bekämpfte und das Christentum verbreitete, stand ab jetzt hinter mir, wodurch meine Rechtmäßigkeit als Papst auch von der Opposition anerkannt wurde!«

»Ach Kyrios Leo«, seufzte Irene, »Ihr bestreitet immer noch, dass Ihr schon damals mit diesem Karl über die Usurpation des Kaisertitels gesprochen habt? Das Kaisertum hat seinen Sitz in Konstantinopel! Habt Ihr nicht schon im Sommer 799 bei Eurem Besuch in Paderborn darüber geredet, wie Ihr es anstellen wolltet? Ihr als Bischof von Rom würdet Eure Macht behalten, die durch Eure innerrömischen Gegner in Gefahr war, und dieser Karl würde seinen etlichen Triumphen noch einen weiteren hinzufügen. Aus dem König der Franken sollte durch die von Euch vollzogene Krönung der Römische Kaiser werden! Von dieser Allianz wolltet ihr beide profitieren. So war die Abmachung, oder? Gebt es endlich zu!«

»Mitnichten, Domina Irene«, verteidigte sich Leo, »ich werde Euch erzählen, wie es sich verhielt: Zurück in Rom untersuchten ab dem Herbst 799 die Gesandten Karls den Fall meiner Entführung, den sie dem König dann vortragen wollten. Nachdem er mehr als ein Jahr durch sein Reich gereist war, wurde Karl am 23. November 800 kurz vor Rom feierlich empfangen. Und bevor Ihr fragt, Domina Irene, sein Anliegen in Rom war mitnichten eine Kaiserkrönung, sondern der Besuch der Apostelgräber, natürlich der Schutz meiner Person, des Papsttums und damit einhergehend die Wiederherstellung der Ordnung.«

»Wisst Ihr, Leo, wenn die Usurpation des Kaisertitels nicht Euer Ziel gewesen ist, warum wurden dann in Rom keine kaiserlichen Münzen mehr geschlagen und Urkunden nicht mehr mit der Kaisertitulatur versehen? Ich befand mich später selbst im Lateranpalast und habe Euer Mosaik gesehen: Der Heilige Petrus überreicht Euch das Pallium und Karl eine Standarte. Darunter steht: ›Heiliger Petrus, gib Papst Leo das Leben und König Karl den Sieg.‹ Dies ist eine eindeutige Abwendung vom rechtmäßigen Kaisertum. Ihr wolltet Euch einem neuen Herrn zuwenden, wie Ihr es schon in Paderborn besprochen hattet. Karls Zug nach Rom hatte nur ein Ziel: Die Kaiserkrönung!«

»Nein, Irene, Karl … Karl hatte keine Ahnung. Er war von vielen in dem kleinen Örtchen Mentana empfangen und jubelnd in die Kapitale geleitet worden, wo ich ihn vor St. Peter begrüßte. Dann begann der Prozess zur Aufklärung meiner Entführung, der einen Monat dauerte und einen Tag vor dem Heiligen Abend endete, als ich den Reinigungseid leistete. Damit unterwarf ich mich Gottes Urteil und mir sollte, falls ich etwas Unwahres sagten würde, als Strafe für Meineid die Schwurhand abfallen! Was«, ruhig lächelnd hielt er ihr sein Brustreliquiar mit dem Splitter vom Wahren Kreuz Christi entgegen, »nicht passiert ist.«

»Wohl wahr«, lachte Irene verächtlich, »Ihr listiger Fuchs! Jedoch ist mir zu Ohren gekommen, was Ihr geschworen habt: ›Die Verschwörer haben mich verstümmeln wollen!‹ Das sind Eure Worte gewesen, Leo. Kein Wort davon, dass sie es wirklich getan haben, wie Ihr noch heute behauptet! Immerhin hattet Ihr damals noch so viel Respekt vor einem Eid und vor Gott, dass Ihr dort nicht lügen wolltet. Aber weiter, schließlich kommen wir nun zum Teil, der das Antlitz der Welt verändert hat.

Wie durch göttliche Vorsehung erschienen am 23. Dezember Gesandte aus Jerusalem, die diesem Karl die Schlüssel zum Heiligen Grab und die Fahne Jerusalems überreichten und sich so seiner Herrschaft unterwarfen. Jerusalem, das geistige Zentrum der Welt, huldigte diesem Karl zwei Tage, bevor Ihr ihn, überraschend für alle, zum Kaiser gekrönt habt! Seht Ihr nicht selbst, wie abgesprochen das aussieht? Und dann, am 25. Dezember, habt Ihr bei der Weihnachtsmesse eine Krone hervorgezaubert, an der die Goldschmiede doch monatelang gearbeitet hatten. Ihr batet Karl, kurz niederzuknien, damit Ihr ihn zum Kaiser krönen könntet, weil er so ein guter Christ sei. Er sollte sich jetzt nicht zieren, schließlich sei es göttliche Fügung! König Karl ging also unwissend in die Kirche und kam als Karl, Kaiser der Römer, wieder heraus! So soll es gewesen sein, Leo?«

»Es gab damals, am Weihnachtstag 800, und es gibt auch heute, fast 16 Jahre später, keinen legitimen Kaiser mehr in Konstantinopel. Niemals kann eine Frau rechtmäßig das Imperium innehaben und mit dieser Befehlsgewalt Reich und Truppen führen! Irene, seht das doch endlich ein! Karl war damals der einzige Herrscher, der die Würde tragen konnte, und deswegen krönte und salbte ich ihn zum Kaiser. Er selbst wollte die Zeremonie nicht auf diese Weise, da ihn somit eine andere Macht, nämlich das Papsttum, legitimiert hatte und er sich von mir abhängig fühlte.«

»Ich bin mir sicher, dass Karl Bescheid wusste. Aber, Leo, ihr hättet ahnen können, was diese Nachricht in Konstantinopel auslösen würde.«

 

Teil II – Lachesis, 11. Januar 801, Hippodrom in Konstantinopel

 

Ein neuer sonniger Tag begann in der erstaunlichsten Stadt des Erdenkreises, in Konstantinopel1. Der Sand der Arena war noch eingefärbt von den letzten Pferderennen. Die Blauen, Haralds bevorzugte Zirkuspartei, hatten keine Kosten und Mühen gescheut, damit der Sand in ihrer Farbe erstrahlte. Harald scharrte mit dem Fuß darin, bis er die farbige Schicht durchstieß und darunter auf den gelben Sand des Hippodroms traf. Er hob den Blick und wurde sich einmal mehr der Wucht und Lautstärke bewusst, die annähernd 100.000 Menschen in der vollen Arena erzeugten. Mit allen anderen Soldaten, die auf der Rennbahn angetreten waren, wartete er auf das Erscheinen eines Strategos oder Domestikos, um eine Erklärung für den Ruf zu den Waffen zu bekommen. Die kaiserliche Garde der Herkulianer war genauso angetreten wie die eilends zusammengerufenen Tagmata: die besten Elite-Regimenter der Welt. Die Soldaten aus den Ländern des Reiches würden sicherlich erst außerhalb Konstantinopels zu ihnen stoßen, die Angetretenen dagegen füllten das ganze Hippodrom, und soweit er wusste, war dies zu ihren Lebzeiten noch nicht vorgekommen. Weit im Hintergrund stand er bei den ersten Söldnern, auf die bei Kriegszügen immer zurückgegriffen wurde. Am Vortag hatte er, genauso wie hunderte anderer, sein Kreuz auf das Papier der Rekrutierungsoffiziere gesetzt und die Nacht im Hippodrom verbracht. Sie waren, an der Sollstärke der Reichstruppen bemessen, noch nicht viele, und er hatte sich selbst ausrüsten müssen, aber er würde seinen Schnitt bei den Plünderungen schon machen – zumindest solange ihn nicht irgendein Feind zuerst erledigte.

Heute würde verkündet werden, was geschehen war. Ganz Konstantinopel hielt den Atem an, ob die Araber wieder die Grenze überschritten hatten und es in den Kampf Richtung Osten ging, oder ob sich Khan Kardam und seine Bulgaren wieder erhoben hatten.

»Solange Sold und Beute stimmen, soll es mir egal sein, wie der Gegner heißt«, sinnierte Harald in der Kühle des Januartages. Die Unruhe auf den Rängen der riesigen Arena war mittlerweile mit Händen zu greifen, da das Volk wissen wollte, was passiert war. Es wurde Zeit für eine Proklamation aus der kaiserlichen Loge!

»Woher kommst du?«, schrie sein Nebenmann, den er ob der Kakophonie kaum verstehen konnte. Die ganze Arena glich einem Bienenkorb.

»Aus dem Norden, wo die härtesten Krieger der Welt geboren werden«, gab er selbstbewusst zurück. »Und du?«

»Aus dem Osten, aus Armenien.«

Harald schaute sich den Burschen genauer an und sah einen Jüngling vor sich, dem noch nicht einmal ein Flaum wuchs. Sein eigener, honigblonder Bart konnte mittlerweile sogar geflochten werden.

»Junge, bist du dir sicher, dass du schon einmal Schwert und Schild geführt hast? Meine kleine Schwester könnte dich besiegen!«, raunzte er den Jungen an.

»Du wärst überrascht«, schmunzelte dieser zurück. »Ich bin Michael. So Gott will, decke ich deine Seite und du die meine!«

»Harald«, stellte er sich vor und reichte dem Armenier seine riesige Pranke, »und ich glaube nicht, dass …«

Weiter kam er nicht, da sich Stille ausbreitete und Bewegung in die Kaiserloge kam. Aller Augen richteten sich nach oben und die Soldaten nahmen Haltung an, als ein Heerführer an die Brüstung trat und seine Stimme durch die Arena hallte.

»Römer, Soldaten, Nachfahren Konstantins, in dessen Stadt ihr wohnt: Unerhörtes hat sich im Westen zugetragen! Ein bedeutungsloser Barbarenkönig wagt es, sich in Rom zum Kaiser ausrufen zu lassen. Er wurde ermahnt und will nicht abdanken. Wir alle, die wir in Treue dienen, wir wurden auf schändlichste, ungebührlichste Weise herausgefordert, aber wir nehmen an. Beim allmächtigen Gott, jener hat zu viel gewagt! Wir werden seine kümmerliche Horde durch unsere Übermacht vernichten, seine Männer zur Flucht zwingen und sein Land mit Salz bestreuen, wie es einst Scipio Aemilianus mit Karthago gemacht hat. Wir werden diesem Primitiven mit Hilfe des gerechten Gottes entgegentreten! Noch heute geht es westwärts auf der Via Egnatia gen Dyrrachion. Werden wir uns alleine stellen müssen? Nein, es werden weitere Verbündete zu uns stoßen. Männer, Bürger Konstantinopels, ich will, dass ihr euer Bestes gebt und noch darüber hinausgeht! Ihr seid die Elite des Reiches! Seit Konstantin ist dies das Zentrum des Römischen Imperiums. Nieder mit dem Usurpator!«

Harald schüttelte im aufbrandenden Jubel verwirrt den Kopf. »Michael, hast du schon mal von diesem König gehört? Er muss entweder sehr dumm oder sehr mutig sein, um sich mit denen«, unbestimmt deutete er auf die Elite-Regimenter, »anlegen zu wollen.«

»Wie recht du hast«, gab sein Nebenmann ebenso kopfschüttelnd zurück.

 

28. März 801, Adriatisches Meer

 

Harald stand mit dem Ruder in der Hand am Heck eines von unzähligen Schiffen, die die Meerenge bevölkerten wie die Sterne am Himmel. Er schaute voraus auf das Ufer von Brundisium, wo das Heer zu landen gedachte. Mehr als zwei Monate hatten sie bis Dyrrachion gebraucht und mittlerweile war auch der Name ihres Gegners bekannt geworden: Karl, wie er sich nannte, war der König der Franken, und er dachte immer noch nicht daran, die Kaiserwürde niederzulegen. Doch nun sah er sich der geballten Macht des größten Imperiums des Erdenkreises gegenüber. Soweit Harald gehört hatte, war durch Tributzahlungen ein Waffenstillstand mit Bulgaren und Arabern ausgehandelt worden, wodurch große Teile des Reiches als befriedet galten. Fast alle Soldaten in dieser Armee waren geschulte Veteranen von vielen Fronten, aber das wurde auch von den Kriegern dieses Karls gesagt, der mittlerweile überall im Lager »Karl der Leichtfertige« genannt wurde.

Harald besann sich wieder auf die anstehende Aufgabe, schüttelte sich die Gischt aus dem Bart und schrie seinen Männern Mut zu: »Hört auf zu kotzen, ihr armseligen Landratten, ich werde euch schon heil an Land bringen! Kämpft tapfer, und wir teilen die Beute gerecht. Macht mir ja keine Schande!«

»Ja, Pentarch«, kam es kläglich zurück.

Diese Römer waren einfach keine Seefahrer, wie schon seit jeher. Warum sie ausgerechnet ihn zum Anführer einer fünf Mann starken Vorhut gemacht hatten, war ihm schleierhaft, aber zumindest hatte er dadurch Michael zu seiner »Hand«, wie er sich und seine vier Haudegen nannte, dazu holen können. Lachend gab er Amir, dem Syrer, ein Zeichen, sich mit dem Schild voraus im Bug zu positionieren. Der kürzlich erst zum Christentum missionierte Nubier Tano sowie der Thraker Burgras ruderten sie über das adriatische Meer und rundeten seinen Söldnertrupp ab. Mit kräftigen Ruderschlägen kamen sie dem Land näher und heute würde sich zum ersten Mal zeigen, aus welchem Holz diese Franken Karls des Leichtfertigen wirklich geschnitzt waren.

»Schild höher, Amir, der Beschuss beginnt!«, schrie er dem Syrer zu und kurz danach bohrten sich schon die ersten Pfeile in die Planken seiner Nussschale.

»Rudert schneller, schneller! An Land geben wir ihnen alles zurück!«, feuerte er sie weiter an.

»Setz dich wenigstens hin, Pentarch!«, gab Amir von vorne zurück. »Stehend hilft dir mein Schild wenig.«

Widerwillig kniete sich Harald ins Heck, sah aber, dass die vordersten Schiffe schon das Ufer erreichten. Die Landung hatte begonnen. Wenig später fuhr auch der Bug seines Bootes knirschend in den Sand des Strandes und sie zückten ihre Waffen, um den Franken entgegenzutreten. Ein Blick zurück zeigte Harald, dass die großen Dromonen mit den regulären Truppen nahten. Selbst das kaiserliche Kommandoschiff kam bereits in Sicht. Voraus dagegen waren kaum Verteidiger anzutreffen. Dies schien ein guter Tag zu werden. Er packte Michael beim Arm und raunte:

»Halte dich hinter mir, dann überlebst du!« Zielstrebig setzte er sich an die Spitze seiner Männer und führte sie in die Schlacht.

 

17. Juli 801, Rom

 

Als die Befehlshaber in Sicht kamen, nahm Harald in der ersten Reihe Haltung an. Stolz betrachtete er seine Rangabzeichen, die ihn als Dekarch auszeichneten, Führer von einem Contubernium aus zehn Männern. Nach den Scharmützeln in Rom war er für besondere Tapferkeit ausgezeichnet worden, außerdem hatte er bisher keinen Mann aus seiner Hand verloren. Michael war zwar kein herausragender Kämpfer, hatte aber taktisches Geschick bewiesen, sodass Harald ihn zu seinem Nachfolger, zum Pentarchen ernannt hatte.

Heute war das Heer an einer traditionsreichen Stelle aufmarschiert: An der Milvischen Brücke vor den Toren Roms, wo vor fast 500 Jahren Konstantin seinen Konkurrenten Maxentius besiegt und den Grundstein für ein neues Imperium gelegt hatte. Bis hierhin war ihnen wenig Widerstand entgegengetreten, fast ganz Rom war ihnen wie ein reifer Apfel in die Hände gefallen. Einzig im Vatikan und der Engelsburg, dem befestigten Grabmal Hadrians, regte sich letzter Widerstand von papsttreuen Franken und Bürgern Roms, sodass die Stadt noch nicht ganz als erobert galt. Plünderungen waren nicht erlaubt, was Harald, wie alle anderen Söldner auch, den Tag hatte verfluchen lassen, an dem er sein Kreuz gemacht hatte. Karl der Leichtfertige seinerseits hatte bisher jede Schlacht vermieden und sich noch nicht gezeigt, sodass auch hier die Beute mager ausgefallen war.

Harald spürte allerdings, dass heute etwas anders war als sonst, wenn die Soldaten für Befehle antraten. Keiner der Befehlshaber ergriff als erster das Wort und so warteten sie, bis sich von der rechten Flanke ein Raunen breit machte, das wie eine Welle auch bis zu ihm und seinen Männern vordrang. Dann sah auch er es: Die kaiserliche Entourage marschierte in Prunkrüstungen aus Purpur und Gold auf einen Hügel. In der Mitte nahm eine Gestalt den Helm ab und wandte sich mit heller Stimme an die Soldaten:

»Römer! Hier, an dieser Stelle, hat Konstantin eine entscheidende Schlacht gewonnen. Er griff Rom an und siegte, so wie auch wir Rom angriffen und siegten. Doch wie bei Konstantin ist der Krieg noch nicht vorbei. Karl flieht zusammen mit dem Papst und dem Großteil seines Heeres vor uns und versucht, sich in seine Heimat zu retten. Er nennt sich noch immer Kaiser! Männer, das nehmen wir nicht hin. Wir ziehen hinterher, nach Norden, über die Alpen und stoßen ins Herz Germaniens!«

Die Soldaten schlugen mit ihren Schwertern auf ihre Schilde und ein Ruf erhob sich, der bis weit über den Tiber schallte: »Basilissa, Basilissa, Basilissa!«

Die Kaiserin hatte gesprochen und selbst Harald war mit eingefallen, hatte sich dem Charisma der mächtigsten Frau der Welt nicht entziehen können.

Nun ging es mit der Basilissa, der ersten Kaiserin, seit Caesar die Republik zerschmettert hatte und Augustus Kaiser geworden war, nach Germanien, wo noch kein römisches Heer dauerhaften Erfolg gehabt hatte.

 

12. Juni 812, Aachen

 

Haralds gewaltiger Tritt sprengte die Tür und zwölf Mann seiner Truppe drängten ihm nach in das Zwielicht des Oktogons. Einzelne Sonnenstrahlen durchschnitten das unfertige Dach des Kirchenbaus. Geblendet dachte Harald, dass Karl zuletzt wohl doch das Geld ausgegangen sein musste. Dann hörte er nur noch das Zischen einer herabsausenden Waffe und das Kreischen von Metall auf Metall. Michael hatte den Hieb für ihn pariert. Als Haralds Sicht sich wieder klärte, war sein Kampfgefährte schon heran, um dem hünenhaften Franken sein Schwert in die Brust zu treiben. Stolz blickte Harald sich um. Nach mehr als zehn Jahren war aus dem Jüngling ein Krieger geworden und aus Harald ein Comes, dessen 200 Mann in der Schlacht um Aachen einen hohen Blutzoll bezahlt hatten. Michael und er waren im Laufe des Krieges zu einer eingespielten Einheit geworden und hatten sich gegenseitig unzählige Male den Rücken gedeckt. In Mainz hätte Harald ohne ihn das Zeitliche gesegnet, von Trier ganz zu Schweigen, wo sie Burgras verloren hatten. Köln hatte fast fünf Jahre standgehalten und den Tod von Amir und Tano gesehen, aber auch dort war ihnen Karl der Leichtfertige entkommen. Doch jetzt war die Jagd vorbei. Die restlichen Leibwächter legten ihre Waffen nieder, als sie die Unausweichlichkeit ihrer Lage erkannten. Zusammen mit seinen Männern suchte Harald Karl und fand ihn im Obergeschoss auf einer Art erhöhtem Thron sitzend, der genauso lächerlich aussah wie der selbsternannte Kaiser. Zu seinen Füßen standen der Papst sowie ein paar weitere Würdenträger. Harald, genau wie alle anderen Anwesenden auch, wusste, dass es vorbei war. Er gab den Befehl, auf den alle so lange gewartet hatten: »Ruft die Basilissa, wir haben ihn!«

Keine Stunde später erschien die Herrscherin im kaiserlichen Purpur mit wenigen ihrer Leibwächter. Ihr Ornat war prunkvoll mit Gold und Perlen ausgestattet.

»Karl, König der Franken«, hob sie an, »steigt von diesem Stuhl herab und ergebt Euch. Die Milde Caesars wurde oft als sein bester Charakterzug gepriesen. Wenn Ihr Euch also mitsamt den Euren unterwerft, will auch ich Milde zeigen.«

Harald sah es in den Augen des alternden Mannes, er würde sich niemals ergeben, er hatte das Herz eines Kriegers. Als der König aufstand, stürmte Harald schon vor. Tatsächlich zog Karl der Leichtfertige seinen Dolch, um sich vom Thron herab auf die Kaiserin zu stürzen. Harald riss die Basilissa zur Seite – der Dolch traf und es wurde schwarz um ihn.

 

12. Juni 816, Studiu-Kloster (Konstantinopel)

 

Harald veränderte seine Position an der Klosterwand und stellte fest, dass er mal wieder in seinen Erinnerungen versunken war, während die beiden Kontrahenten sich ihre Versionen entgegenhielten. Er gönnte sich einen Blick auf seine Kaiserin, die majestätisch neben dem alten Papst saß. Von dem Ausgang des Kampfes im Aachener Oktogon wusste Harald kaum noch etwas. Im Lazarett hatte Michael ihm erzählt, dass die Leibwächter mit dem Usurpator kurzen Prozess gemacht hatten. Sein Gefolge war gefangen genommen worden. Karl der Leichtfertige hatte die Milde der Basilissa verspielt und war zu Füßen seines Thrones verblutet. Papst Leo sowie die weiteren Würdenträger waren geblendet und zusammen mit der Leiche Karls nach Konstantinopel gesandt worden, um ihr Lebensende unter Aufsicht im Studiu-Kloster zu verbringen. Alles Zureden ihrer Berater hatte nichts genützt, Aachen war auf Befehl der Kaiserin geschleift und von der Landkarte getilgt worden. Symbolisch hatte die Kaiserin selbst Salz auf das Land gestreut, die heißen Quellen verschütten lassen und verkündet, dass nie wieder an dieser Stelle eine Stadt gebaut werden dürfe. Im selben Jahr noch hatte das Frankenreich im Frieden von Laurensberg kapituliert und Irene anerkannt, die danach die Eingliederung ins Römische Reich befohlen hatte.

Harald hatte seine Rettungstat mit einem Auge bezahlt, das selbst der kaiserliche Medicus nicht hatte retten können. Eine eindrucksvolle Narbe zierte nun sein Gesicht und es war ein Wunder, dass er überhaupt noch lebte. Er war wegen dieser Tat in die Leibgarde der Herkulianer aufgenommen worden, die das Leben der Basilissa auf Schritt und Tritt beschützten. Zu diesem Zweck war er immer bei den Treffen zwischen Irene und Papst Leo zugegen. Im Grunde wussten alle Anwesenden, dass die Kaiserin, wie stets zuvor, bei dem alten Mann nichts würde erreichen können. Der Widerstand in Rom war nie gebrochen worden und sie hatte Papst Leo nicht zu einem Märtyrer machen wollen, der die Rebellion nur noch weiter beflügelt hätte. Eine Ironie des Schicksals, dass gerade dieser in Rom so unbeliebte Papst jetzt für die Römer zum Aushängeschild ihres Kampfes geworden war.

»Das Papsttum ist am Ende, Leo«, beschloss die Kaiserin ihren Disput. »Ihr, genauso wie Eure Anhänger in Rom, seid nur ein Relikt vergangener Tage. Unser Kaiserreich erstreckt sich mittlerweile wieder bis zum Hadrianswall im Norden und überall werde ich, wie es seit Konstantin üblich ist, durch den Kaisertitel als höchste Autorität in christlichen Glaubensfragen akzeptiert. Wenn Ihr so wollt, mein alter Weggefährte, bin ich der Papst, und ein besserer, als Ihr es je wart! Auch Rom wird das eines Tages akzeptieren müssen! Mit Euch oder, wie ich eher vermute, ohne Euch. Also Leo, zum letzten Mal, akzeptiert Ihr mich als höchste Autorität des Christentums?«

»Niemals, Irene! Eine Frau kann weder Kaiser noch Gottes Stellvertreter auf Erden sein!«

Die Basilissa erhob sich und trat auf Harald zu.

»Kommt, Waräger. Auch im Angesicht des Todes bleibt der letzte Papst, den die Welt gesehen hat, unbelehrbar. Er wird heute sein Grab neben diesem Karl finden. Verbreitet, dass er an Altersschwäche gestorben ist.«

 

Teil III – Atropos

 

Als er [Karl der Große] aber dort [in Rom] einige Tage blieb, um sein Heer wieder in Ordnung zu bringen, berief der apostolische Bischof aus der Nachbarschaft zusammen, so viele er konnte, und vor ihnen und vor den unbesiegbaren Begleitern des ruhmreichen Karl rief er diesen, der nichts weniger vermutete, zum Kaiser und Beschützer der römischen Kirche aus. Ablehnen konnte es dieser nicht, da er es für eine göttliche Fügung hielt, doch nahm er es nicht gerne an, weil er dachte: die Griechen würden, von noch heftigerem Neid entflammt, etwas zum Schaden des Frankenreiches ins Werk setzen […].

Notker der Stammler (883 n. Chr.)2 

 

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Über den Autor

Die Erforschung des Vergangenen von Antike zu Mittelalter und Früher Neuzeit ist für Alexander Schmidt sowohl tägliche Arbeit als auch Vergnügen. In seinen belletristischen Erzählungen versucht er den kulturellen Hintergrund der Zeit einzufangen, damit der Leser die kleinen Geschichten innerhalb der großen Geschichte entdeckt und zum Weiterlesen angeregt wird. Geboren 1977 in Rheinberg, liegt sein Lebensmittelpunkt mittlerweile im westfälischen Münster, wo er mit seiner Lebensgefährtin wohnt.


1) Reminiszenz an den Asterix-Band „Die Lorbeeren des Caesar“.

2) Notker, Taten Karls hg. von Reinhold Rau, Quellen zur karolingischen Reichsgeschichte, Bd. 3, Darmstadt 1992. (Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe, 7), S. 363.

Der Denkzettel - Barbara Siwik

 

Man schrieb das Jahr des Herrn 1022. Es war Winter, kalt und dunkel. Die es einrichten konnten, blieben hinter dem Ofen hocken, es sei denn, sie froren aus Mangel an Feuerholz oder zur Ehre des Himmels, weil sie Armut gelobt hatten. Coelestina, die Pförtnerin des Benediktinerinnenklosters zu Kaufungen, gehörte zu Letzteren. Soeben stolperte sie bibbernd über den verschneiten Klosterhof, vorbei an den Mauern der fast vollendeten neuen Kirche, die finster in den Himmel ragte. Sie war wegen eines unverhofft eingetroffenen Gastes wieder mal viel zu spät dran.

Aus der Kapelle wehte ihr der Singsang der Nonnen entgegen, die längst mit der Komplet – dem Abendgebet – begonnen hatten.

Es ließ sich nicht verhindern, dass die Kapellentür bei Coelestinas Eintritt misstönend quietschte. Für Bruchteile eines Augenblicks stockte der Gesang, aber nur die Äbtissin hob missbilligend den Kopf.

»Wenn sie doch mit sich selbst so streng umginge«, dachte die Pförtnerin unwillig und huschte zum letzten Platz rechts im Gestühl.

Wer sich verspätete, musste zur Buße während der Gebete stehen. Das war zwar ermüdend, aber im Winter durchaus auch ein Vorteil: Man vermied die Berührung mit dem von Raureif überzogenen Holz. Zudem konnte man den Blick unter der Kapuze hervor unauffällig schweifen lassen. Während Coelestina also fromm die in jahrelanger Übung auswendig gelernten Texte mitbetete und -sang, spähte sie in die Dunkelheit der Kapelle hinein. Dort zeichnete sich, außerhalb des Lichtkreises der Kerzen kaum wahrnehmbar, ein Schatten ab. Das konnte nur der Benediktiner sein, den sie vor einer knappen Stunde durch die Klosterpforte eingelassen hatte. Merkwürdig, dass er noch vor ihr hier war, obgleich sie ihn doch gerade erst im Dormitorium für Gäste verlassen hatte.

Der Böse reitet, schnell hörte sie die Großmutter daheim in der Kate krächzen, und vermutlich ritt der Satan auch wirklich gelegentlich in Gestalt mancher Edlen aufgeputzt über den Klosterhof, aber gewiss scheute er Weihwasser und betrat keine Kirche.

Vielleicht hätte sie trotzdem darauf bestehen sollen, dass der Mönch ihr Name und Herkunft nannte. Stattdessen hatte sie nur gefragt, ob er in Ordensangelegenheiten unterwegs sei und sich mit einem Nicken von seiner Seite zufriedengegeben. Sei’s drum! Hier im Kloster galt das Gesetz: Verwehre keinem Zuflucht, der zu später Stunde anklopft! Also hatte sie den Mönch hereingeführt, ihm ein Lager für die Nacht bereitet und weil Solongia, die Kellermeisterin, inzwischen bereits zum Gebet gegangen war, sich auch noch um eine Mahlzeit für ihn gekümmert – Wasser, Brot und Zwiebeln.

Während dieser Zeit war kein einziges Wort zwischen ihnen gefallen.

Coelestinas Blick glitt zur Äbtissin hinüber. Von deren Gesicht war wegen der Kapuze nicht viel zu erkennen, soviel jedoch schien sicher: Frau Udas Gedanken waren nicht beim Gebet, denn sie bewegte die Lippen nicht. Der Gast konnte daran nicht Schuld haben, denn sie wusste noch gar nichts von ihm. Erst morgen würde sie von seiner Anwesenheit erfahren, weil zwischen dem Abend- und Morgengebet im Kloster das Große Schweigen herrschte. In dieser Hinsicht führte Äbtissin Uda ein strenges Regiment nach benediktinischer Regel. Für sich selbst legte sie die regula weniger wortgetreu aus.