Steampunk 1851

Steampunk 1851

Düstere Geschichten zwischen Zahnrand-Mechanik & Gaslicht-Romantik

 

Eine Anthologie mit Kurzgeschichten der folgenden Autoren:

 

 

Denise Mildes

Sabine Frambach

Marco Ansing

Andrea Bienek

Hendrik Lambertus

Markus Cremer

Luzia Pfyl

Fabian Dombrowski

Impressum

 

Alle Rechte an den abgedruckten Geschichten liegen beim

Art Skript Phantastik Verlag und den jeweiligen Autoren.

 

Copyright © 2013 Art Skript Phantastik Verlag

 

 

Lektorat/Korrektorat » Franziska Stockerer

www.fs-textprojekt.de

 

Gestaltung » Grit Richter | Art Skript Phantastik Verlag

Cover-Illustration » Ina Reimer | Character Studio

www.characterstudio.de

 

Der Verlag im Internet

» www.artskriptphantastik.de

» art-skript-phantastik.blogspot.com

 

 

Alle Privatpersonen sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit realen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Das Ende der Fikion

Denise Mildes

 

Der Geruch des Todes, das süßlich-faulige Aroma des Unvermeid-lichen, hing im Schlafzimmer. Ihr Atem ging flach, ihre Augenlider flatterten der ewigen Dunkelheit entgegen. Sein Blick streifte den Nachttisch: Ein Fläschchen, gefüllt mit etwas Gräulichem, beschwerte bekritzelte Seiten, daneben lag ihre gesprungene Brille. Er beugte sich herab und hauchte ihren Namen. Beim Klang seiner Stimme erstarrten ihre bebenden Lider.

»Sieh mich an!«, befahl er. Langsam, wie von schweren Ketten gezogen, öffnete sie die Augen. Ihr Atem beschleunigte sich, ebenso wie das Stottern ihres Herzens. Sie erkannte ihn, zweifellos.

»Wo ist es?«, fragte er, aber statt einer Antwort entfuhr ihrer Kehle nur ein rasselndes Röcheln. Er legte ihr die Hand auf die Stirn. Die Wärme ihres Körpers hatte sich beinah davongestohlen, es würde nicht mehr lange dauern. Ihr Blick deutete nach links. Behutsam öffnete er die Schublade und zog das hölzerne Kästchen heraus. Er hob den Deckel und nahm ein ledernes Buch heraus. Vielleicht enthielt dies die lang ersehnte Antwort. Ein letztes Mal schaute er auf die Sterbende. Ihre trüben Augen trafen auf seine. »Es tut mir leid, Mary«, flüsterte er. Sie streckte die welke Hand nach ihm aus und berührte seinen Unterarm. Tonlos bewegten sich ihre Lippen.

»Sorgt Euch nicht, ich finde es.«

Ihre Augen weiteten sich, ihr Herzschlag machte einen Satz, sprang dem Ende entgegen und verstummte.

 

»Meine Herren, danke für Ihre Aufmerksamkeit!«, schloss Professor Vanderbildt seine Ausführungen und winkte Andreji herbei, der während des Unterrichts in der hintersten Reihe des Vorlesungssaals sein Gesicht hinter einem Buchdeckel vergraben hatte. Jetzt blickte er auf, nickte dem Professor zu und erhob sich. Er schlängelte sich mit angehaltenem Atem durch die Reihen der murmelnden Studenten. Einige von ihnen waren schweißgebadet, andere würgten, grün vor Ekel, mit aufgeblasenen Wangen.

Als der Letzte den Raum verlassen hatte, trat Andreji an den Sezier-tisch und sah gelangweilt auf die Leiche, deren Brustkorb aufgeklappt, wie ein geplatztes Sandwich, vor ihm lag.

»Räum das weg, Andreji«, befahl der Professor, stopfte einen Stapel Papiere in eine abgewetzte Aktentasche und verschwand.

Andreji griff die Lakenenden, bedeckte den aufgeschlitzten Leichnam, der einen modrig, feuchten Geruch ausströmte und schob den Rollentisch aus dem Saal.

Die Gänge im Universitätsgebäude waren menschenleer und so nahm niemand Notiz davon, wie er den Toten zu einem Bündel verschnürte und in den Schlund des Ofens steckte, der das Gebäude beheizte. Andreji überkam der Hunger, und er trat aufatmend in die kühle Luft Londons.

 

»Schon wieder kurz vor Morgengrauen. Andreji, was denkst du dir eigentlich dabei?«, schimpfte der Professor, als Andreji das Haus in der Baker Street betrat. »Verzeihung, Professor«, antwortete er knapp und schlurfte in den Flur. Seit einem Jahrzehnt teilte er nun schon die Bleibe mit Professor Vanderbildt, seit dieser ihn – dem Tode nahe – gefunden hatte. Andreji dachte nur ungern an die ersten Jahre zurück. Das, was mit ihm geschehen war, erfüllte ihn noch heute mit Schrecken. Allerdings war dies unbedeutend im Vergleich zu seiner Furcht vor dem Professor selbst. Er war ein widersprüchlicher Mann, der einerseits der alltäglichen Arbeit an der Universität nachging, und andererseits etwas im Verborgenen tat, das Andreji mehr und mehr beunruhigte, obschon er nicht imstande war, zu benennen, weshalb.

Das geschmackvolle Stadtpalais im gediegenen West End schien diesen Widerspruch zu untermauern. Die Möbel waren von einer leichten Staubschicht bedeckt, schwere Brokatvorhänge, die niemals geöffnet wurden, hüllten die holzvertäfelten Räume in dauerhafte Dunkelheit. Einzig der ovale Salon wurde vom Schein des Kaminfeuers erleuchtet.

»Bist du hungrig?«, fragte Vanderbildt und trat in den Salon. Der Professor trug ein mit Spitze besetztes Hemd, die Ärmel hochgekrempelt. Er war beschäftigt. Wie immer.

»Nein!«, antwortete Andreji, folgte dem Professor in den Salon und sank in den Ohrensessel. Leises Wimmern drang aus dem Keller.

»Warte hier, ich war noch nicht fertig!« Eine Sekunde später war der Professor verschwunden. Das Wimmern schwoll an, wurde zu einem verzweifelten Schrei, gefolgt von Stille. Vanderbildt erschien im Türrahmen und leckte sich über die Lippen. Der Geruch war unverkennbar und Andreji verspürte ein brennendes Kitzeln in seiner Kehle. »Sie sollten auswärts speisen, wie ich, Professor!«, sagte er und blickte ins knisternde Feuer.

»Dazu hatte ich keine Zeit. Es gibt zu viel zu tun. Und statt dich die ganze Nacht herumzutreiben, hättest du lieber hier sein sollen, um mir zu helfen!«

Hätte der Professor gewusst, dass genau dies der Grund für Andrejis nächtliche Abwesenheit war, hätte er ihn gewiss schon hinausgeworfen. In einer Stadt, die von zweieinhalb Millionen Menschen bewohnt war, unbemerkt unterzukommen, war ein schwieriges Unterfangen. Und so schwieg Andreji, obwohl er die Arbeit, die der Professor in seinem sogenannten Labor ausführte, verabscheute. Er hasste den Geruch der Leichen; hasste die wummernde Maschine, die feuchte Hitze und öligen Gestank ausspie; hasste das Zischen; hasste die metallenen Rädchen, die etwas antrieben, das er nicht verstand. Er ekelte sich vor dem schleimigen Schmierfett und dem klebrigen Ruß der Kohlen.

»Es ist beinah geschafft, Andreji«, trällerte Vanderbildt und referierte eine halbe Stunde über die technischen Veränderungen, die er vorgenommen hatte. Andreji lauschte seinen Ausführungen gelangweilt. Er konnte es nicht mehr hören. Schon bald würde der Professor eine Apparatur erschaffen haben, die es ihm und seinesgleichen ermöglichte, auch bei Tag durch die Straßen von London zu wandeln. Vanderbildt nannte sie Shadowbooster. Damit wollte er eine undurchdringliche Schicht düsterer Wolken über ganz London spannen. Aber Andreji hatte nie verstanden, wozu das gut sein sollte. Er liebte die Nacht und ihre klaren Gerüche, genoss das Schattendasein, mochte die Einsamkeit und Stille der Dunkelheit. Wieso sollte sich ein Vampir am Tag bewegen?

»Es bedeutet Freiheit, Andreji! Wir müssten uns nie wieder verstecken.«

Wie oft hatte er diese Leier schon gehört! Andreji schloss die Augen. Nach einer Stunde schlaflosen Dösens öffnete er sie wieder. Aus dem Keller drang das Tuckern der verhassten Maschine. Wie viele Leichen würde er heute wieder beseitigen müssen?

Stöhnend erhob er sich und trottete hinunter. In Vanderbildts Labor bot sich ihm das vertraute Bild. In der Mitte des Raumes thronte die Apparatur. Ein riesiger Kessel, der schnaufte wie eine Lokomotive, rotierende Metallräder, die mittels lederner Riemen die Kraft auf einen stampfenden Kolben übertrugen. Das Quietschen und Zischen wummerte in seinen Ohren. Sein empfindliches Gehör hatte Andreji schon als Mensch zu schaffen gemacht, aber seit er ein Vampir geworden war, hatte sich der Effekt vervielfacht. Er legte die Hände auf die Ohren. Die Kellerluken waren mit Decken verdunkelt. Vanderbildt stand, von Kopf bis Fuß in einen Lederanzug gehüllt, mit dem Rücken zu ihm vor einem Metalltisch. Darauf lag eine mit Riemen festgeschnallte junge Frau.

Der Professor blickte auf. Vor den Augen hatte er eine kreisrunde Brille mit schwarzen Gläsern, in denen sich Andrejis verstörter Gesichtsausdruck widerspiegelte. Wie eine überdimensionale Fliege, dachte Andreji und unterdrückte ein Lächeln.

»Zieh den Anzug über, wenn du schon hier bist, verflucht noch eins!«, rief Vanderbildt ihm zu. Andreji gehorchte wortlos.

Die Frau auf dem Tisch lag reglos da, die Augen geschlossen, am Hals eine kleine Wunde. Andreji wusste, dass sie nicht tot war. Vanderbildt hatte sie verwandelt, um sein Experiment an ihr durchzuführen. Ekel stieg in ihm auf, als er die Fliegenbrille aufsetzte.

»Wir starten!«, schrie der Professor voller Inbrunst und legte einen eisernen Hebel an der Wand um. Kleine Blitze leuchteten auf und Funken stobten, der Kessel fing an zu Hecheln, der Kolben beschleunigte sein Stampfen. Das Rattern der Verbindungen nahm weiter zu, und aus der oberen Öffnung des Kessels wurde eine schwarzgraue Dampfwolke ausgestoßen, in der es blitzte und zuckte. Die Wolke verdichtete sich, wurde tiefschwarz wie der Ruß, der aus den Textilfabriken im Eastend schwoll. In ihr loderte es, sie blähte sich auf, bis Andreji die Bogendecke nicht mehr sehen konnte. Er wich vor der grauschwarzen Masse zurück, die schließlich den Metalltisch gänzlich einhüllte. Der Geruch von Regen stieg Andreji in die Nase. Etwas huschte durch die brodelnde Wolke, dann traf ihn gleißendes Licht. Er legte die Hände vor die Augen. Ein schrilles Pfeifen, wie aus einem Teekessel, traf sein ohnehin schon leidendes Gehör, etwas Hartes traf ihn an der Schulter, prallte ab, aber noch ehe er ausmachen konnte, was ihn getroffen hatte, trommelte eine Armada aus Geschossen auf ihn ein. Eine Kesselniete traf das linke Brillenglas, Andreji schrie auf, presste die Augen zu und legte die Hand vors Gesicht. Das Glühen auf seinen Lidern wurde schwächer. Die Maschine schwieg.

»Verflucht!«, brüllte der Professor und verhüllte die Kellerräume eilig. Andreji nahm die Brille ab und schlug Schneisen in den dichten Qualm, der sich allmählich auflöste und den Geruch von verkohltem Fleisch hinterließ. Auf dem Metalltisch lag ein Aschehaufen. Andreji schüttelte den Kopf und schälte sich aus dem Anzug. Vanderbildt hatte indes einen weiteren Hebel umgelegt. Mit lautem Sirren wurde der Qualm abgezogen. Die Luft wurde wieder klarer. Der Professor hetzte zwischen der Apparatur und den Zeichnungen an der Wand hin und her, verpasste dem geborstenen Kessel einen Tritt, der eine tiefe Delle hinterließ und fluchte. Er riss die Schutzbrille herunter und warf sie in die Ecke. »Ich verstehe das nicht!«, schimpfte er, fegte den Aschehaufen vom Tisch und zog einen Bogen Papier aus dem Anzug. Er faltete ihn auseinander, fuhr sich übers Kinn und starrte gebannt darauf.

»Vielleicht sollten Sie das lassen, Professor!«, sagte Andreji. Vanderbildt fletschte die Zähne: »Sag du mir nicht, was ich tun soll!«

Andreji verließ den Keller. Es hatte keinen Sinn, sich jetzt noch in Vanderbildts Nähe aufzuhalten. Den ganzen Tag würde er im Keller hocken, grübeln und fluchen. Insgeheim hoffte Andreji, dass er dann wieder für ein paar Tage verschwinden würde.

Er schnappte sich ein Buch und sank wieder in den Ohrensessel im Salon.

Gegen Mittag, aus dem Keller drang inzwischen metallisches Hämmern, klopfte es. Andreji hastete zur Tür. Er legte die Hände an die Klinke und zog sie schnell wieder zurück. Noch immer passierte ihm so etwas. Andreji stieß einen leisen Fluch aus und verschränkte die Hände hinter dem Rücken: »Wer ist da?« fragte er.

»Ich habe ein Paket für den Professor!«, ertönte eine Stimme mit irischem Akzent.

»Legen Sie es in die Truhe unter dem Fenster. Der Professor wird es sich dann holen«, gab Andreji zurück.

»Ich habe Anweisung, es dem Professor persönlich zu übergeben, Sir!«

»Das ist jetzt unmöglich. Der Professor darf augenblicklich nicht gestört werden!«, die Autorität in Andrejis Stimme verunsicherte den Boten. Sein Herzschlag wurde schneller.

»Wie Sie wünschen, Sir, aber wohl ist mir nicht dabei!«, entgegnete der Bote und hob den Deckel der Truhe.

Mir auch nicht, dachte Andrej, der hinter der Tür mit dem Brennen in seiner Kehle kämpfte. Der Duft des Blutes und der rhythmische Herzschlag des Boten vernebelten seinen Verstand. Die Sehnsucht, die Tür aufzureißen, war nahezu unerträglich. Vielleicht war die Erfindung des Professors doch keine schlechte Idee.

»Ich danke Ihnen«, gab Andreji mit gequälter Stimme zurück. Der Ire grummelte etwas und entfernte sich schweren Schrittes. Das Brennen in seinem Hals ließ nach.

Bei Einbruch der Dämmerung schob er den Vorhang einen Spalt breit beiseite und öffnete das Fenster. Zu früh! Der letzte Fetzen des Tageslichts traf Andrejis Haut, als er nach dem Paket griff. Wütend über seine Unachtsamkeit schlug er das Fenster zu und betrachtete seinen Arm. Ein schwarzbrauner Fleck überzog seine Haut dort, wo das scheidende Sonnenlicht ihn berührt hatte.

»Professor, ein Paket für Sie!«

Einen Wimpernschlag später tauchte Vanderbildt neben ihm auf.

»Gib schon her!«, sagte er und blickte flüchtig über Andrejis Arm. »Da war wohl jemand ungeduldig, nicht wahr?«

Andreji zog den Ärmel seines Hemdes herunter. Schon jetzt konnte er spüren, wie die Verletzung nach Heilung lechzte und sich das leichte Kitzeln in seinem Hals in einen lästigen Juckreiz verwandelte.

 

Vanderbildt zog ein gefaltetes Stück Papier aus dem Päckchen. Seine Augen flogen über das Geschriebene. Auf einmal erstarrten sie. Der Professor ließ das Päckchen auf den Tisch sinken und schlug die Hand vor den Mund. Das Papier glitt aus seinen Händen und segelte zu Boden. Andreji eilte an seine Seite, aber Vanderbildt stieß ihn weg, schnappte sich das Päckchen und presste es an seine Brust. Sein Mund formte ein stummes O, dann rupfte er den Karton auseinander und beförderte den weiteren Inhalt zu Tage. Seltsame Dinge: zwei Haarlocken, eine Brille mit gesprungenen Gläsern und ein hölzernes Kästchen. Vanderbildt wurde zur Statue.

»Was ist los, Professor?«, fragte Andreji. Vanderbildt hob den Deckel des Kästchens und zog ein ledernes Buch heraus, bei dessen Anblick er aufstöhnte. Keuchend sank er in den Sessel und starrte leblos ins Feuer.

»Sie ist tot!«, murmelte er, seine Stimme kalt wie splitterndes Glas.

»Wer, Professor?«

Vanderbildt hob knurrend die Oberlippe, sprang aus dem Sessel, steckte das Büchlein in die Hosentasche und hastete in den Keller. »Es ist Zeit!«, rief er ihm zu.

Andreji stürmte dem Professor hinterher: »Was ist denn geschehen?«

Der Professor reagierte nicht, sondern stob wie ein Schatten durch sein Labor. Er riss die Zeichnungen von der Wand, zerrte zusammengerollte Bögen aus der Schublade und belud damit seine Aktentasche.

»Professor!« Wieder keine Reaktion.

»Professor Vanderbildt!«, schrie Andreji so laut, dass das Gemäuer erzitterte. Endlich hielt der Professor inne. Eine Mischung aus Zorn und Furcht lag in seinem unruhigen Blick.

»Was ist los?«

»Wir müssen hier weg, Andreji!«

»Weg? Wieso?«

»Er wird herkommen. Er weiß, dass ich es habe.«

»Wer? Was haben Sie?«

Der Professor blickte sich hektisch um: »Pack ein paar Sachen zusammen. Mach schnell. Ich weiß, wo wir hingehen.«

»Aber Professor …«

Vanderbildt unterbrach ihn: »Tu was ich dir sage, wenn du nicht sterben willst.«

Was redete er da nur? Die einzige Bedrohung von der Andreji wusste, war die Sonne, und die war vor wenigen Minuten untergegangen.

»Sterben, Professor?«

»Mach endlich!«, fauchte Vanderbildt und setzte sein Treiben fort. In Andreji breitete sich Unbehagen aus, ihm fielen tausend Fragen ein, aber statt auch nur eine zu stellen, stürmte er nach oben. Als er den Salon durchquerte, fiel sein Blick auf das Papier, das der Professor hatte fallen lassen. Es war ein Zeitungsartikel der gestrigen Ausgabe vom 1. Februar 1851: Mary Shelley in ihrem Haus gestorben, lautete die Schlagzeile. Geistesgegenwärtig hob er den Artikel auf und stopfte ihn in seine Weste. Noch mehr Fragen.

Vanderbildt kam schwer beladen aus dem Keller zurück. Über seinem Arm hingen die Lederanzüge, die ihnen einen gewissen Schutz vor Sonnenlicht boten. Andreji fröstelte als er verstand: Sie würden auch bei Tag reisen. Noch nie hatten sie die Anzüge außerhalb des Kellers benutzt, und Andreji fragte sich, ob sie robust genug waren, das volle Tagelicht abzuhalten. Der Zorn war aus dem Gesicht des Professors gewichen. Nackte Furcht sprühte aus seinen Augen. Sie hatten keine andere Wahl. Nur, warum?

»Verraten Sie mir, was das Ganze soll? Und was hat es mit dem Tod von Mary Shelley zu tun?« Vanderbildts Augen funkelten wie glänzendes Metall: »Ich habe die Pläne von Viktor Frankenstein!« Er hielt die Aktentasche in die Höhe.

»Aber Professor, Frankenstein … ist eine … Romanfigur!«, stotterte Andreji. Der Alte musste den Verstand verloren haben. Vanderbildt schüttelte energisch den Kopf: »Du weißt gar nichts, Kleiner.«

 

Sie verließen London. Bei Morgengrauen erreichten sie eine verlassene Scheune, in der sie sich bis zur Dämmerung verbargen. Offenbar vertraute Vanderbildt den Lederanzügen ebenso wenig wie Andreji. »Wir müssen nach Schottland, zu den Orkneys«, war der einzige Satz, den der Professor pausenlos wiederholte, wie eine Beschwörungsformel. Andreji wusste aus dem Buch, dass Frankenstein dort ein Labor betrieben hatte, aber er weigerte sich zu glauben, dass es tatsächlich existierte.

Am elften Februar erreichten sie die Küste und stahlen ein Boot, dessen einsamer Besitzer ihre einzige Nahrung gewesen war. Während der Überfahrt überkam Andreji eine seltsame Übelkeit. Es war seine erste Seefahrt.

Ein neuer Tag kämpfte sich am Horizont durch die Wolken, als sie endlich das winzige Eiland erreichten. Andreji bot sich ein seltsamer Anblick. Durch einen Hügel vor den Augen Seereisender verborgen, befand sich dort ein solider Backsteinbau. Andreji schluckte schwer. Das konnte nicht sein.

 

»Hier sind wir nicht sicher!«, gab Andreji zu bedenken. Die Fenster des Gebäudes waren geborsten und durch das löchrige Dach fiel das Tageslicht in dicken Säulen. Der Professor wich den Strahlen geschickt aus, Andreji folgte seinen Schritten. Am Ende des langgezogenen Baus kniete Vanderbildt nieder und tastete den Boden ab. Seine Finger fanden einen Metallriegel, er zog eine Klappe hoch. Eine schmale Treppe wand sich in die Tiefe.

Krachend zog Andreji die Luke zu, dann stiegen sie schweigend hinab. Das Unbehagen, das Andreji seit jeher dem Professor gegenüber empfand, nahm zu.

Sie traten in einen kastenförmigen Raum, den Andreji selbst in der Finsternis als Labor erkannte. Es war beinah ein Abbild des Labors aus dem Hause Vanderbildt. Zielsicher steuerte der Professor seine Schritte, entzündete einige Petroleumlampen und hievte seine Tasche auf einen von Rost zerfressenen Metalltisch. Als Andreji die schwarzbraunen Flecke genauer betrachtete, zuckte er zusammen. Was er für Rostflecke gehalten hatte, war getrocknetes Blut.

»Was ist das hier?«

»Meine Lebensversicherung, du Dummkopf!«, raunte der Professor, schleppte ein Bündel Kohlen heran und stopfte es in den Kessel.

»Professor! Würden Sie mir endlich erklären, was hier vor sich geht?«

Vanderbildt entzündete das Feuer, schloss das Maul des Kessels und zog die Papiere aus seiner Tasche. Er breitete sie auf dem blutigen Tisch aus und holte das braune Büchlein hervor. »Dieser Frankenstein war ein solcher Narr«, grummelte er, während er die Seiten durchblätterte.

»Ich wiederhole mich ja nur ungern, Professor, aber Viktor Frankenstein ist eine Romanfigur!«

Der Professor winkte ab.

»Alle, die das glauben, sind ebensolche Narren. Er war sehr real, auch wenn sein Name keineswegs Viktor war. Sein Monster existierte tatsächlich.«

»Sie behaupten, dass es dieses Ding wirklich gibt?«

Vanderbildt legte das Buch hin und stützte sich auf den Tisch. Er schnaufte, hob den Kopf und warf Andreji einen verächtlichen Blick zu: »Gab! Andreji. Ich dachte, du hättest das Buch gelesen.«

»Aber …?«

Vanderbildt hob die Faust und streckte sie ihm entgegen: »Die Geschichte spiegelt – weiß Gott – nicht die ganze Wahrheit wider, nur eines ist gewiss: Sein Monster war keineswegs die Ausgeburt einer fantasievollen Schreibfeder. Mary wusste das. Und was tat er? Schenkte ihr die Pläne! Wie er sagte, als ewige Mahnung, so etwas nie wieder zu tun! Dieser Taugenichts!« Vanderbildt machte eine Pause, klappte das Büchlein zu und warf es in hohem Bogen davon. Eine Zornesfalte bildete sich auf seiner Stirn: »Er hätte wissen müssen, dass es ein Bewusstsein haben würde. Es war viel zu menschlich.«

Der Professor sah Andreji eindringlich an: »Er konnte es nicht steuern, und genau das war der Fehler. Wenn man etwas erschafft, dann muss man auch wissen, wie man es kontrolliert, verstehst du?«

»Ich verstehe kein Wort. Sie sagten, Sie hätten …?«

»Ich stahl die Pläne, Dummkopf.«

»Aber, was haben Sie vor? Wenn das, was Sie sagen, wahr sein sollte, weshalb …?«

»Ich werde die Welt verändern. Menschen sind zu dumm, um etwas Vollkommenes zu erschaffen. Aber ich nicht.«

»Der Shadowbooster?«

»Pah. Das ist nur der erste Schritt.« Vanderbildt erhob sich und formte mit den Händen eine Kugel: »Stell dir eine Welt im Schatten vor. Wir wandeln bei Tag. Keine Sonne mehr, die uns zwingt, uns zu verbergen. Dann übernehmen wir die Herrschaft, bewacht von einer Armee, die niemals widersprechen und niemals fehl handeln oder versagen wird.« Vanderbildt blickte träumerisch, seine Augen glühten.

»Wovon zum Teufel sprechen Sie?«