Cover
Anne Riebel
Silvaner trocken
oder ein tödlicher Tropfen
Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2013 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: © windu - Fotolia.com
eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-066-6
Für Thomas
„Der große Feind der Wahrheit ist sehr oft nicht die Lüge –
vorsätzlich, geplant und unehrlich –, sondern der Mythos –

beharrlich, verführerisch und wirklichkeitsfremd.“
John F. Kennedy
11. März 1982
Prolog
Er hatte sofort bemerkt, dass die Temperatur unter den Gefrierpunkt gesunken war. Die vielen unnötigen Worte und Ermahnungen seiner Mutter, die im Türrahmen stehen bleiben würde, bis er losfuhr, drangen nicht zu ihm durch. Sie perlten ab wie Regentropfen, die auf einen Friesennerz trafen.
Dass mit den Bremsen etwas nicht in Ordnung war, hätte ihm schon auf dem Weg zur B10 auffallen können. Zuerst hatte er das komische Gefühl allerdings auf die neuen, schweren Arbeitsschuhe geschoben, die er zum ersten Mal trug. Dann hatte er sich gefragt, ob etwas mit dem Pedal nicht stimmte. Und schließlich hatte er es durchgetreten. Deshalb war er viel zu schnell in die Kurve gefahren. Deshalb war er ins Schleudern geraten. Und nur deshalb war er auf die Gegenfahrbahn geraten und frontal mit einem dunkelblauen Fiat zusammengestoßen.
Sein letzter Gedanke galt einer Wahrheit, der er nach so vielen Jahren der verzweifelten Suche endlich auf den Grund gekommen war.
Samstag, 3. März
– 1 –
Josefine schaute im Vorbeigehen auf die Küchenuhr und fluchte leise vor sich hin. In dem schmalen Flur, der die Küche mit dem Treppenhaus verband, warf sie einen letzten prüfenden Blick in den Garderobenspiegel. Sie hatte sich für ein tiefblaues Samtkleid entschieden, das ihre schlanke, mädchenhafte Figur betonte und den rötlichen Schimmer in ihrem dunkelblonden Haar zur Geltung brachte. Es fiel ihr in sanften Wellen über die Schultern. Sie hatte Rouge aufgetragen, Lipgloss und Lidschatten in zwei Farben, um das Blau des Kleides mit dem intensiven Grün ihrer Augen zu versöhnen. Nun fragte sie sich, ob das Ganze nicht ein bisschen übertrieben wirkte. Kurz entschlossen stellte sie die Pumps zurück in den Schrank und schlüpfte stattdessen in ein Paar flache, weiche Wildlederschuhe. Sie zog sich ihren Wollmantel über und hatte keine Zeit mehr, eine kleine, schickere Handtasche zu richten, da sie es draußen hupen hörte.
„Pünktlich auf die Minute“, rief sie der Freundin entgegen, die dabei war, sich aus ihrem cremefarbenen New Beetle Cabrio zu falten.
„Pünktlichkeit ist die Höflichkeit der Königinnen“, entgegnete Charlotte, die nicht nur, wie so oft, ein Zitat auf den Lippen, sondern auch ihren sibirischen Mantel trug. Ein heller Traum aus Pelz und Leder, den sie vor Jahren einem russischen Händler abgekauft hatte. Charlotte war groß; sie hatte weißblondes, kinnlanges Haar und strahlte auch dann noch eine gewisse Eleganz aus, wenn sie mit einer Schürze vor dem Bauch in ihrem Garten zugange war, schwere Bücherkisten schleppte oder in Rage geriet. Jetzt nahm sie Josefine bei den Schultern und diese versank für einen Moment in einem frischen und leicht blumigen Duft, spürte den sanften Druck von Charlottes Wange auf ihrer Haut und ahnte die in die Luft gehauchten Küsse. Sie machte sich bereit, um sich von wachen, blassblauen Augen gründlich mustern zu lassen.
„Ich glaube, ich hätte doch die Schuhe mit den Absätzen anziehen sollen“, sagte sie, während sie zu ihrer Freundin aufsah. „Neben dir komme ich mir wie eine Zwergin vor!“
„Ach, dieser ewige Konjunktiv mit seinem hätte und würde. Was der Zeit und Nerven kostet. Es ist doch kein Stehempfang, zu dem wir unterwegs sind.“
Josefine nickte und ließ sich auf den Beifahrersitz sinken.
„Und was macht dein Mann heute Abend?“
„Ralf hat sich mit einem Bier und einer Tüte Chips auf sein Sofa zurückgezogen.“
„Dann ist er nicht traurig, dass wir heute schon wieder einen Frauenabend aufs Programm gesetzt haben?“
„Aber nein. Ganz im Gegenteil. Er wird dir wahrscheinlich demnächst einen Blumenstrauß schicken, vor lauter Dankbarkeit.“ Josefine zuckte die Achseln. „Es ist ja durchaus nachvollziehbar. Ralf ist die ganze Woche über draußen. Abends hat er oft noch Sitzungen. Da ist es für ihn natürlich das höchste der Gefühle, wenn er sich am Wochenende wie ein Maulwurf zu Hause einbuddeln kann.“
„Und bei dir ist es genau umgekehrt!“ Charlotte hatte sich angeschnallt, die Handbremse gelöst und den Gang eingelegt. Nun fuhren sie auf dem Feldweg, der parallel zur Landstraße verlief auf das beschauliche, südpfälzische Dörfchen Rittersheim zu.
„Klar. Gut, ich bin auch hie und da unterwegs, wenn ich Wein ausliefere oder etwas besorge. Aber mein Hauptbetätigungsfeld ist eben zu Hause im Betrieb. Und obwohl ich mitten in den Weinbergen wohne, komme ich oft tagelang nicht dazu, an die Luft zu gehen.“
„Und am Wochenende möchtest du etwas unternehmen. Glück für mich!“ Charlotte lächelte. „Die Frage ist nur, ob auch du damit glücklich bist?“
Josefine zuckte die Achseln. „Gewisse Dinge muss man eben akzeptieren. Das habe ich ja gelernt. Außerdem habe ich keine Lust, wieder zur Kratzbürste zu werden. Am Ende würde Ralf womöglich sein Schneckenhaus wieder aus dem Keller holen. Dafür habe ich mich schließlich nicht zwei Jahre lang zu Moritz Wolff auf die Couch gesetzt!“ Josefine blickte hinaus in die Dunkelheit. Die Rebstöcke standen nackt im Wind, der aufdringlich war und Regen, vielleicht sogar Schnee im Schilde führte. Das strubbelige Holz hatte man ihnen weitestgehend gestutzt, abgesehen von zwei Ruten, die vielfach schon gebogen und am Draht festgebunden worden waren.
„Wusstest du, dass die meisten Paare sieben Jahre zu spät kommen?“, fragte Charlotte.
„Wie, sieben Jahre zu spät?“
„In Therapie. Man sollte gehen, wenn es anfängt zu kriseln. Weil psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen für viele aber immer noch ein großes Tabu darstellt, rauft man sich irgendwie zusammen. Lebt nebeneinander her oder fügt sich gegenseitig immer schlimmere Verletzungen zu. Und dann, wenn die Betroffenen endlich vor dem Therapeuten erscheinen, kann der oft nicht mehr tun, als eine menschenwürdige Auflösung der Beziehung zu begleiten.“
„Das klingt ja furchtbar!“, stieß Josefine hervor. Sie schwieg eine Weile. „Ich glaube aber schon, dass etwas dran ist“, sagte sie dann. „Wenn ich darauf gewartet hätte, dass Ralf mitkommt, dann wären wir heute wohl nicht mehr zusammen.“
„Ich verstehe einfach nicht, warum Männer vor diesen Themen solche immensen Ängste haben?“, echauffierte sich Charlotte, während sie an der Ortseinfahrt das Tempo drosselte. „Vor allem der deutsche Mann über fünfzig scheint mir doch unter einer ausgemachten Psychophobie zu leiden …!“
Josefine kicherte. „Hat Moritz dir das alles erzählt?“
„Nein. Das habe ich im ZEIT-Magazin gelesen.“
„Wie geht es Moritz?“
„Ist diese Kälte nicht unerträglich? Ich klammere mich an den Gedanken, dass wir in vier oder fünf Wochen wieder offen fahren werden. Durch einen rosaroten Mandelblütentraum …“
„Ein netter Versuch, vom Thema abzulenken, Charlotte. Du magst Moritz Wolff doch! Wieso triffst du dich in letzter Zeit nicht mehr mit ihm. Ich finde, er hat so etwas Liebes an sich. Ja, er strahlt irgendwie so eine fröhliche Gemütlichkeit aus.“
„Ich mag auch dich! Gehe ich deshalb mit dir aus?“
Josefine musste lachen. „Wir sind doch gerade dabei, auszugehen!“
„Ach so! Touché!“ Sie folgten der Rittersheimer Hauptstraße, ließen rechter Hand die Pension Rose liegen, passierten den Kindergarten, den Supermarkt und zwei große Weingüter, bevor sie rechts in Richtung Bahnhof abbogen. Ein abwesendes Lächeln umspielte Charlottes Mundwinkel, als sie den Wagen am anderen Ende des Ortes auf einem von hohen Zedern bewachten Parkplatz abstellte. Sie machte Licht, klappte die Sonnenblende herab und betrachtete ihr Gesicht im Spiegel.
„Das absolut Wunderbare an einer Frauenfreundschaft ist, dass man sich über das quo vadis keine Sorgen machen muss.“
„Und jetzt noch einmal auf Deutsch für Normalsterbliche …“
„Das ist lateinisch und steht für ‚wohin gehst du’.“
„Noch immer auf dem Schlauch entlang …“
„Wie? Ach so, das war jetzt schon wieder metaphorisch … Nun, wir brauchen uns nicht mit Fragen dahingehend zu quälen, wo das mit uns beiden hinführen wird. Wir können zusammen ausgehen. Wir können den Abend genießen, überlegen, was wir nächste Woche für eine gemeinsame Unternehmung planen … Wenn wir einmal alt sind, dann blicken wir auf unzählige schöne gemeinsame Erlebnisse zurück. Und es gibt keine Unwägbarkeiten. Es gibt keine Komplikationen. Weil wir wissen, dass wir heute Freundinnen sind. Und morgen. Und übermorgen auch. Es besteht nicht die Möglichkeit, dass eine von uns die gemeinsame Zeit nur als eine Chance ansieht, eine günstige Gelegenheit abzupassen, um dann den Beziehungsstatus – wie man das heute so trefflich bezeichnet – auf eine andere Ebene zu heben. Oder sollte ich in diesem Fall besser sagen – zu senken …?“
Josefine schüttelte lächelnd den Kopf. „Wenn es um Gefühle geht, fängst du jedes Mal an, so gestelzt daherzureden, dass ich überhaupt nichts mehr verstehe.“
Charlotte zuckte die Achseln. „Du kennst mich lange genug.“
„Aber hast du denn nicht ab und an doch ein bisschen Sehnsucht nach einer Beziehung?“
„Bei all dem, was man ständig hört und liest? Und außerdem habe ich keinen Platz!“
„Wie, keinen Platz?“, sie waren ausgestiegen und Charlotte schloss den Wagen ab.
„Das weißt du doch! Ich habe keinen Platz für einen Mann. Weder in meinem Haus. Noch in meinem Leben.“

– 2 –

Im Eingangsbereich des Restaurants Sonnenhain, wo die Gäste darauf warteten, dass ihnen die Mäntel abgenommen und ihre Tische zugewiesen wurden, herrschte eine aufgeregte wie heitere Atmosphäre. Da sich die meisten untereinander kannten, begrüßte man sich mit lautem Hallo. Josefine wurde von einem ungestümen Mann gepackt und hochgehoben. Sein langes, schwarzes, von silbergrauen Fäden durchzogenes Haar war im Nacken zu einem Zopf geschlungen. Er wirbelte sie herum, indem er sich mehrmals um die eigene Achse drehte.
„Klaus!“ Als er sie endlich losließ, boxte sie ihm freundschaftlich in die Seite. „Dich habe ich ja seit einer Ewigkeit nicht gesehen!“
„An mir liegt es nicht. Meine Tür ist ja immer offen.“
„Ja. Ich weiß … Ich habe auch wirklich ein schlechtes Gewissen. Weißt du, Ralf ist im Moment so eingespannt mit seiner Vermarktungskooperation …“
„Aha! Treibst du dich deshalb so oft mit dieser geheimnisvollen Dame herum. Über die niemand etwas weiß“, Klaus schenkte Charlotte sein charmantestes Lächeln. „Ja, uns Rittersheimern entgeht nichts. Und wenn, dann dulden wir diesen Zustand nicht lange …?“
„Klaus Schuhmann ist der Inhaber der hiesigen Weinstube“, stellte Josefine ihn vor. „Und das ist Charlotte Messerschmidt. Eine sehr liebe Freundin von mir.“
„Wenn Sie wieder einmal ein gutes Buch suchen“, sagte Charlotte, während sie Klaus Schuhmann die Hand schüttelte, „dann kommen Sie am besten zu mir, in die Martha-Saalfeld-Buchhandlung – das ist in Landau, am Kleinen Platz.“
„Werde ich mir merken“, Klaus Schuhmann strahlte übers ganze Gesicht. „Dann gehören sie also auch zu dem bedauernswerten Völkchen, das selbst und ständig arbeitet?!“
„In der Tat …“ Während Charlotte Klaus Schuhmann von den literarischen Weinproben erzählte, die sie und Josefine vier Mal im Jahr veranstalteten, wandte diese sich einem großen, muskulösen Mann zu, der gerade einer Kellnerin seine Ballonmütze gereicht hatte und sich mit beiden Händen durch das dichte, weizenblonde Haar strich.
„Herzlichen Glückwunsch, Marius!“ Josefine musste sich auf Zehenspitzen stellen, doch es wäre ihr nicht gelungen, ihm ein Küsschen auf die Wange zu hauchen, wenn er sich nicht zu ihr herabgebeugt hätte. „Ralf hat es mir heute Morgen aus der Zeitung vorgelesen. Ich wünsche dir viel Erfolg. Und pass auf dich auf!“ Der Mund des Mannes verzog sich zu einem halben Lächeln, das alles oder nichts bedeuten mochte.
„Wir sind alle so stolz auf ihn“, sagte Klaus Schuhmann, der Weinstubenbesitzer, so laut zu Charlotte, dass alle Umstehenden es hören konnten. „Marius Hilzendegen! Man könnte meinen, es sei gestern gewesen, da war er noch verschrien als größter Lausbub und Kinderschreck im Dorf. Und jetzt ist er der jüngste Kommissariatsleiter in der rheinland-pfälzischen Polizeigeschichte.“
Marius Hilzendegen war offensichtlich kein Mensch, der es genoss, im Mittelpunkt zu stehen. Er ließ die Glückwünsche und das anerkennende Schulterklopfen der Rittersheimer geduldig über sich ergehen. Nur hin und wieder blickte er unruhig zur Tür.
„Wie geht es deinem Nachbarn?“, wandte er sich schließlich an Klaus Schuhmann.
„Hubert Hartmann? Blendend, würde ich sagen. Also wenn ich in dem Alter noch so fit und so gut drauf bin, dann werde ich mich bestimmt nicht beklagen! Weiß er es schon?“
„Ja. Natürlich. Ich habe ihn angerufen. Aber noch überhaupt keine Zeit gehabt, mich bei ihm blicken zu lassen.“
„Ich kann ihm einen schönen Gruß ausrichten. Er ist fast jeden Tag in seinem Garten zu Gange. Ich unterhalte mich oft mit ihm, über den Zaun hinweg. Wenn es jetzt endlich mal wieder wärmer wird, nehmen wir uns eine Schorle dazu.“
Marius Hilzendegen nickte zustimmend.
„Und du?“, versuchte Klaus den Kommissar zu necken. „Bist du mit deiner Verbrecherjagd nicht ausgelastet? Oder willst du uns bloß den Spaß verderben, indem du auf halber Strecke verrätst, wer es war?“
„Ganz und gar nicht!“, Marius Hilzendegen zuckte entschuldigend die Achseln und blickte sich wieder suchend um. „Ich bin nur Klaus-Maria zuliebe hier …“
Marius’ Lebensgefährte war Winzer und hatte vor ein paar Jahren einen sehr großen und längst nicht mehr zeitgemäß geführten Betrieb in Birkenfeld geerbt, dessen Leitung ihn total überforderte. Josefines Mann hatte zu dieser Zeit gerade damit begonnen, ihren eigenen Betrieb massiv zu verkleinern, um sich auf das konzentrieren zu können, was ihm wirklich am Herzen lag. Klaus-Maria Kleinschmidt war von dieser unkonventionellen Entscheidung so beeindruckt gewesen, dass er sich rat­suchend an Ralf gewandt hatte. Im Laufe der folgenden Wochen waren die beiden jungen Männer öfter ins Weingut Laux gekommen und während die Winzer fachsimpelten und sich die Köpfe heiß rechneten, hatten sich Josefine und Marius unterhalten. Schließlich hatte Klaus-Maria einen weitaus unorthodoxeren Schritt unternommen, indem er den elterlichen Betrieb verkaufte und eine Stelle bei einer großen Winzergenossenschaft annahm.
„Geht es Klaus-Maria gut?“, wollte Josefine wissen.
„Ja. Danke. Aber ich frage mich, wo er steckt. Na ja, vielleicht sucht er noch einen Parkplatz …“
„Ich bin schon so gespannt“, Charlotte sah sich interessiert nach allen Seiten um und beobachtete, wie sich das Restaurant weiter mit Gästen füllte. Auf den Holztischen, sonst nur mit hellen Leinentischsets und einer einzigen Blume in einer schlanken Vase dekoriert, waren die merkwürdigsten Gegenstände zu finden: eine Polizeimütze, eine Lupe, graues Pulver und Pinsel, ein Blaulicht, Handschellen und alle möglichen in Folie verpackten Gegenstände. An den Wänden, über den eierschalenfarbenen Seidentapeten, hingen rotweiße Bänder, auf denen in dicken schwarzen Lettern POLIZEIABSPERRUNG stand. Und auf dem Fußboden waren die mit weißer Kreide nachgezogenen Konturen zweier Körper zu erkennen.
„Da wird einem doch schon irgendwie ganz mulmig zumute.“
„Keine Leiche zum Dessert“, zitierte Josefine aus dem Programm. „Du, schau mal. Diese roten, auslaufenden Buchstaben, wie Himbeersoße auf Mousse au Chocolat. Ob es das nachher gibt?“
„Freust du dich denn gar nicht auf den Kulturgenuss?“ Charlotte rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ich kann mich gar nicht erinnern, wann ich zuletzt im Theater gewesen bin. Ich finde es wirklich wunderbar, dass du das vorgeschlagen hast.“
„Wir beliefern dieses Restaurant“, bemerkte Josefine. „Heute Abend werden zwei unserer Weine ausgeschenkt. Da ist es nun einmal so üblich, dass man sich blicken lässt …“
„Wie auch immer. Wir sind hier, und jetzt machen wir was draus! Siehst du, hier kommt schon der Aperitif.“
„Ist das Sekt?“, fragte Josefine erstaunt die Kellnerin, die zwei mit einem tiefroten, perlenden Getränk gefüllte Schalen vor ihnen abstellte.
„Nein, das ist Schlehenlikör, aufgegossen mit einem handgerüttelten Weißburgunder extra trocken.“
Josefine nickte anerkennend.
„Wie sehen denn Schlehen aus?“, wollte Charlotte wissen.
„Es sind kleine schwarz-blaue Beeren, etwas größer als Heidelbeeren. Zwar musst du dich beim Pflücken nicht so tief bü­cken, weil sie an Hecken und Bäumchen wachsen, aber dafür haben sie dornige Äste. Schlehen sind sehr sauer, ziehen dir alles zusammen. Erst nach dem ersten Frost werden sie süß und halbwegs genießbar.“
„Dann magst du sie gar nicht?“
„Als Likör schon“, meinte Josefine grinsend.
„Na also, die pfälzische Antwort auf Kir Royal.“ Charlotte hob ihr Glas. „Trinken wir auf deinen Gatten und auf meine Unabhängigkeit.“
„Ja“, sagte Josefine, die jedoch, statt nach ihrem Glas zu greifen, den Kopf drehte, denn in diesem Augenblick betrat Moritz Wolff, einem älteren Ehepaar folgend, das Restaurant.
„Wenn man vom Teufel spricht“, flüsterte Charlotte. „Das müssen seine Eltern sein. Die Liebigs.“
Schweigend nippten sie abwechselnd an ihren Gläsern und konnten es nicht lassen, hin und wieder einen diskreten Blick auf die Neuankömmlinge zu werfen.
Julius von Liebig war Josefine schon aufgefallen, als sein Gesicht hinter dem Vorhang, der den Eingangsbereich vor Wind und Kälte schützte, aufgetaucht war. Der Mann kam ihr wie eine Verkörperung dieser beiden elementaren Kräfte vor. Das weiße Haar, das bei jedem anderen wirr und ungepflegt gewirkt hätte, schien, wie von einer unsichtbaren Prise getragen, geradezu um seinen Kopf zu wehen. Julius von Liebig war ein hochgewachsener Mann, der seinen Körper voll und ganz bewohnte und mit großer Sorgfalt gekleidet war. Doch es lag wohl weniger an seinem aparten Äußeren, als vielmehr an dieser besonderen Ausstrahlung und seiner angenehmen, tragenden Stimme, dass man sich, sobald er einen Raum betrat, nach ihm umdrehte. Er war es gewohnt, dass die Menschen seine Aufmerksamkeit suchten, und er verschenkte sie großzügig. Hier ein Wort. Da ein ermutigendes Schulterklopfen, ein verbindendes Lachen, ein mitfühlendes Nicken. Er brauchte lange, bis er den Raum durchquert hatte. Moritz und seine Mutter hatten längst ihre Plätze eingenommen, als er auftauchte. Sie war eine zierliche Frau, mit kurzem, tiefschwarz gefärbtem Haar und kleinen, dunklen Knopfaugen, die hinter einer dicken, ebenfalls schwarz umrandeten Brille unruhig umherwanderten. Auch ihre Kleidung war schwarz, nur die Lippen hatte sie in einem auffallenden Pink geschminkt, die Fingernägel in exakt derselben Farbnuance lackiert.
„Gott sei Dank, er hat uns nicht gesehen“, zischte Charlotte. „Ein Glück, dass er zwei Tische weiter und nun mit dem Rü­cken zu uns sitzt. Es ist wirklich bedauerlich, dass er nicht die Haarpracht und diesen griechisch-antiken Götterkörper seines Vaters geerbt hat. Und altersmäßig müsste er genau dazwischen liegen, verstehst du. Aber Moritz, wie alt ist der eigentlich?“
„Er ist vierundvierzig …“
„Vierundvierzig“, Charlotte kaute die Zahl, so als wollte sie sich ihren Geschmack einprägen. „Wieso kann ich mir einfach keine Zahlen merken? Vielleicht liegt es in diesem Fall daran, dass er nur manchmal vierundvierzig ist. Manchmal ist er auch fünf.“
Josefine schwieg einen Moment irritiert. Dann lachte sie.
„Vielleicht hast du recht! Doch den fünfjährigen Moritz, den magst du wohl nicht so besonders?“
Charlotte schüttelte bedauernd den Kopf. „Und du?“
„Ich finde ihn süß. Aber ich habe ja auch, wie du weißt, eine Schwäche für kleine Kinder.“
Charlotte widmete sich sehr intensiv dem nächsten Schluck ihres Aperitifs.
„Liebst du auch den fünfjährigen Ralf?“, fragte sie dann.
„Ich glaube, Ralf ist schon älter“, gab Josefine spontan zurück. „Ralf ist zweiundvierzig und siebzehn.“
Auch sie griff nach ihrem Glas und war irgendwie froh, als endlich das Licht ausging. Gespräche mit Charlotte konnten zuweilen sehr verwirrend sein.

– 3 –

Julius von Liebig begann zu klatschen und nach und nach fielen die anderen Gäste mit ein. Die Schauspieler kamen in hellen, trikotartigen Anzügen mit glatt nach hinten gekämmtem Haar auf die Bühne. Ihre Gesichter waren weiß, die Lippen rosa, die Augen dunkel geschminkt. Nun trat der erste, ein großer, rothaariger Mann vor, zog sich eine schwarz und silbern gestreifte Weste über und nahm ein Tablett mit Weinflaschen und einigen Gläsern zur Hand.
„Hier im Landhaus Sonnenhain in Rittersheim“, begann er, „kommen, wie Sie vielleicht wissen, alljährlich die beliebtesten Kommissare der Film- und Literaturgeschichte zusammen, um einen ganz besonderen Fall aufzuklären. Unglücklicherweise ist es aber in diesem Jahr so, dass das Nebenzimmer nicht zur Verfügung gestellt werden konnte und wir somit gezwungen sind, das Treffen hier zu veranstalten. Wir müssen Sie deshalb bitten, die Gespräche, die Sie mit ihren Tischnachbarn zu führen gedachten, auf später zu verschieben und Ihre Mobiltelefone abzuschalten.“
Der Kellner begann den Tisch zu decken, während eine noch sehr junge Schauspielerin ein taubenblaues Wollkostüm überzog, sich eine graue Perücke auf den Kopf setzte und nach einer altmodischen Damenhandtasche griff. Josefine beobachtete fasziniert, wie sich sofort auch ihre Gestik und Mimik, ihre Haltung und ihr Gang veränderten und sie unter Zuhilfenahme von nur drei Requisiten unverkennbar in die Rolle der Miss Marple schlüpfte. Ihre Kollegen standen ihr in nichts nach. Ein gezwirbelter Oberlippenbart, eine schwarze Fliege und eine goldene Taschenuhr auf der einen, Hut, Schal und Pfeife auf der anderen Seite und im Publikum hörte man es wispern und raunen. Poirot und Maigret.
Das Skurrile war, dass die vier Schauspieler sich ganz offensichtlich vorgenommen hatten, mit Unterstützung von zwei Schaufensterpuppen ein Sechs-Personen-Stück aufzuführen. Während nun also Poirot und Maigret sich begrüßten, indem sie alle möglichen Höflichkeitsfloskeln austauschten, heftete der Kellner seine Requisiten in Windeseile an die stehende mannsgroße Puppe, zog sich Colombos unvermeidlichen Trenchcoat über, zerzauste sich das Haar und kramte aus den Taschen eine Zigarre hervor. Die sitzende Puppe musste für eine Weile die Rolle der Miss Marple übernehmen. Keine halbe Minute später setzte sich die Schauspielerin mit blonder Fönfrisur, einer lila Seidenbluse und einer überdimensionalen Brille im Gesicht neben sie.
„Wer ist denn das?“, flüsterte Charlotte Josefine ins Ohr.
„Jessica Fletcher“, gab diese so leise wie möglich zurück. „Das ist die amerikanische Antwort auf Miss Marple. Kannst du dich nicht an die Serie ‚Mord ist ihr Hobby’ erinnern?“
Charlotte nickte nachdenklich und wandte sich wieder dem Stück zu, denn es entwickelte sich unter den prominenten Ermittlern ein einvernehmliches wie angeregtes Tischgespräch. Alle waren glücklich und erleichtert darüber, dass es in diesem Jahr keine Leiche geben sollte.
„Da freut man sich doch so richtig über die Einladung“, meinte Jessica Fletcher fröhlich.
„Oui, ganz recht, Madame“, pflichtete Poirot ihr bei. „Und außerdem sagen mir meine kleinen grauen Zellen, dass anderenfalls einer von uns ein Mörder sein müsste. Und das wäre in der Tat doch sehr schrecklisch, Madame.“
„Eine Frage hätte ich da aber doch noch …“, brummte Colombo, „wenn niemand umgebracht werden soll, warum hat man uns dann wohl eingeladen?“
Während der Kellner den Wein einschenkte, stand Maigret völlig unbeweglich, wohl sinnend, am Fenster. Und erst jetzt fiel Josefine auf, dass die Schauspieler auch permanent untereinander die Rollen wechselten. Sie hatte sich so sehr auf die Dialoge konzentriert, dass ihr das zuerst entgangen war. Der rothaarige Mann äußerte nun in der Verkleidung von Miss Marple seine Skepsis, während die junge Frau als Kellner Suppe auftrug. Ein Raunen, ein Staunen ging durch das Publikum. Dann waren vereinzelt Lacher und Ausrufe der Begeisterung zu hören, und es folgte ein kräftiger Applaus.
„Oh“, sagte Miss Marple mit tief klingender Stimme. „Ein Süppchen. Nun, dagegen ist meines Erachtens nichts einzuwenden …“, sie begann zu essen und bemerkte „Köstlich. Wirklich köstlich.“ Kurz darauf entglitten ihr ihre Gesichtszüge. Sie ließ den Löffel sinken. Wand sich unter Krämpfen, stürzte zu Boden. Maigret kniete neben ihr nieder, fühlte ihr den Puls und wandte sich dann mit einem dramatischen Ausdruck auf dem Gesicht an seine Kollegen. „Sie ist tot!“
„Tja, meine Damen und Herren“, sagte der feminine Kellner und zuckte bedauernd die Achseln. „Keine Leiche zum Dessert, dieses Mal …“ Die Schauspielerin machte eine Kunstpause. „Und? Was meinen Sie? Wer ist der Mörder? Sie haben es gesehen. Es kann nur einer gewesen sein. Aber wer? Und in welcher Rolle? Das gilt es nun herauszufinden. Doch zuvor sollten Sie sich Ihre Waldpilzsuppe schmecken lassen …“, mit einem süffisanten Grinsen fügte sie hinzu: „Guten Appetit!“
„Josefine!“ Der Inhaber des Landhauses Sonnenhain, stand hinter ihr. Seine Hand lag auf ihrem Rücken, genau dort, wo das Kleid ausgeschnitten war. Die Stimme des mehrfach ausgezeichneten Kochs war, wie seine Berührung, weich, tief und leise. „Der Service schenkt gerade den ersten Wein ein. Zur Suppe haben wir euren trockenen Silvaner ausgesucht. Ich wollte dich fragen, ob du ihn vielleicht selbst vorstellen möchtest …“
„Um Gottes Willen, nein. Das kannst du doch viel besser als ich.“
„Aber dich werde ich vorstellen“, sagte er mit einem charismatischen Zwinkern und machte sich davon. Sobald er geendet hatte, ergriff Charlotte ihr Glas, ließ den Wein in einer gekonnten Imitation über die Zunge rollen und sagte mit einem umwerfenden Augenaufschlag: „Also, Frau Laux, dieses Aroma von grünen Limonen, Pfirsich und Kiwi auf Kalksandstein im Abgang“, sie schmatzte leise, „einfach unglaublich, wie ihr Mann das alles in diesen Silvaner hineingekriegt hat!“
Josefine lachte Tränen. „Eigentlich müsste man dich auf die Bühne stellen, Charlotte!“
„Aber da stehe ich doch längst. Hast du deinen Shakespeare nicht gelesen? Die ganze Welt ist Bühne! Auch ein Buchladen. Nicht gerade die Bretter, die die Welt bedeuten, aber doch ein kleines Brettchen, das dazu beiträgt, sie im Innersten zusammenzuhalten.“
„Vegetarier?“, fragte die etwas resolute Kellnerin in die Stille hinein, die entstanden war, da die meisten Gäste angefangen hatten, ihre Suppe zu löffeln. „Das ist kein Problem, ich bringe Ihnen eine Gemüsesuppe!“
Frau von Liebig aber fiel der Frau, als sie Moritz Wolffs Teller wieder mitnehmen wollte, in den Arm. Und nachdem diese etwas konsterniert das Weite gesucht hatte, hörte Josefine sie zu ihrem Sohn sagen: „Das gehört sich nicht, Moritz. Du siehst doch, dass die Frauen hier zu tun haben. Da macht man keine weiteren Umstände.“
„Was ist nur mit dir los“, die tragende Stimme von Julius von Liebig war deutlich über mehrere Tische hinweg zu hören. „In letzter Zeit erkenne ich unseren Moritz überhaupt nicht mehr wieder. Lass dir von deinem alten Herrn einen Rat geben: Du machst dir das Leben unnötig schwer. Schau dich nur an! Statt zu genießen, führst du dich auf, als säßest du im Gefängnis, bei Wasser und Brot!“
„Ich übernehme eben die Verantwortung für mein eigenes Tun“, sagte Moritz Wolff zu seinem Vater. „Wir verändern nichts, wenn wir immer wieder und wieder mit denselben Leuten dieselben Gespräche über das Elend der Tiere, die Unmenschlichkeit und Geldgier der Fleischproduzenten und die Ignoranz von Hinz und Kunz führen. Währenddessen aber verleiben wir uns ein Schnitzel oder Bratenstück nach dem anderen ein. Das ist doch völlig absurd!“
Julius von Liebig griff nach der Flasche mit dem Silvaner, die man auf dem Tisch stehen gelassen hatte und schenkte seinem Sohn ungefragt ein.
„Ich muss noch fahren ...“
Der Vater zuckte die Achseln und rezitierte lächelnd: „Den schwimmenden Fischen und quakenden Fröschen genügt es, den Durst mit Wasser zu löschen. Doch dem Mann – wie kann anders es sein – gebühren Brot, Braten und Wein.“ Dann griff er nach seinem Weinglas und sagte mit einem Pathos, das bei einer Schiffstaufe angebracht gewesen wäre: „Was auch immer es ist: spül es runter, mein Sohn!“
Moritz Wolff griff nach seinem Löffel. Doch seine Hand verharrte in der Luft. Und dann, mit einem Mal, begann er zu brüllen. Wie ein Tier hatte er den Kopf gesenkt und diesen tiefen, vibrierenden Laut ausgestoßen. Er stand auf, nahm sein Weinglas in die rechte, schaute seinen Vater herausfordernd an und fragte mit einem leichten Beben in der Stimme: „Weißt du, was das ist? Soll ich es dir sagen? Es ist der vielzitierte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt!“
Und zur Überraschung der in der Nähe sitzenden Gäste, die inzwischen den Vorfall mitbekommen und die Köpfe gedreht hatten, schüttete er seinem Vater den Inhalt des Glases ins Gesicht. Seine Suppe leerte er in den Teller seiner Mutter, der überschwappte. Auf dem Tisch entstand eine riesige Lache, die Frau von Liebig in den Schoß lief.
„Ihr kennt mich nicht“, schrie er dann. „Ihr habt überhaupt keine Ahnung, wer ich bin!“ Moritz Wolff warf seine Serviette wie einen Fehdehandschuh auf den Tisch und verließ mit schnellen, ausladenden Schritten das Restaurant.
Sonntag, 4. März
– 4 –
Als er zu sich kam, glaubte er, geträumt zu haben. Obwohl die Scheidung schon einige Jahre zurücklag, träumte Moritz Wolff noch oft von seiner Exfrau. Sie beschimpfte ihn, schrie ihn an oder warf mit Gegenständen nach ihm. Die Traumbilder waren so deutlich, dass er immer eine Weile brauchte, um zu begreifen, dass das alles hinter ihm lag. Dass er den Mut aufgebracht hatte, sich zu befreien. Und dann breitete sich eine wilde Freude in ihm aus; eine Wärme, die den ganzen Körper durchströmte.
An diesem Morgen aber ließen die angenehmen Gefühle auf sich warten. Je wacher er wurde, desto düsterer ging es zu an seinem Stimmungshimmel. Es war gar kein Traum gewesen. Er hatte unbewegt wie ein Stein, tief und traumlos geschlafen. Nein, die Szene, die da gerade in dem kleinen Kino in seinem Kopf ablief, die war real. Es war wirklich passiert. Fluchend warf er die Decke zur Seite. Der Ärger trieb ihn unter die Dusche. Ärger über sich selbst, weil er sich nicht zusammengerissen hatte. Und Ärger über seine alten Herrschaften, die einfach nicht zuhörten. Die redeten und redeten und redeten, ohne wirklich etwas zu sagen. Die so taten, als bestünde der Sinn des Lebens ausschließlich darin, zu essen; sich vollzustopfen wie eine arme, zur Leberverfettung gezwungene Gans.
Er drehte das heiße Wasser zu. Ein leises Johlen entfuhr ihm, als das kalte Nass über seinen Rücken rann. Er blieb länger als sonst stehen. Dann schlüpfte er in einen weißen Frotteebademantel, den er einmal in einem Hotel erstanden hatte. Im Wohnzimmer warf er einen Blick in den von Wolken dicht bevölkerten Himmel. Nur an wenigen Stellen war ein helles, verwaschenes Blau zu erahnen.
„Am liebsten würde ich mit unbekanntem Ziel verreisen“, sagte er seufzend zur Landavia, der Bronzeskulptur, die den Martha-Saalfeld-Platz unter seinem Balkon beherrschte. Er erinnerte sich noch gut an den Aufruhr, den es Anfang der achtziger Jahre gegeben hatte, als die tanzende Nackte der Öffentlichkeit übergeben worden war. Vor allem die Frauen waren empört gewesen, dass man Landavia – die Landauerin – mit einer derart barocken Figur dargestellt hatte. Er hätte sich niemals getraut zuzugeben, dass er sich auf den ersten Blick in die üppige Schöne verliebt hatte. Inzwischen, da er sich über viele Jahre hinweg mit der Deutung von Symbolen beschäftigt hatte, war er fast sicher, dass der Künstler mit der Landavia auch ein Sinnbild der überaus reizvollen und vor Fülle strotzenden lokalen Natur hatte schaffen wollen. Die griechischen und römischen Göttinnen mochten aus Schaum geboren, mit marmorweißer Haut, leichtfüßig wie Elfen, dem Meer entstiegen sein. Die südpfälzische Venus aber war kernig, kraftvoll und erdenschwer wie der Boden, auf dem sie tanzte.
Seufzend riss er sich los und ging zurück ins Bad. Er beendete seine Morgentoilette, kleidete sich rasch an und verließ das Haus. Sein Weg führte ihn über den quadratischen, menschenleeren Rathausplatz. Unter den zwei- und dreistöckigen Gebäuden, die ihm seine Form gaben, waren die unterschiedlichsten Baustile zu finden. Das hatte er letzten Sommer bei einer der zahlreichen Führungen aufgeschnappt. Wenn Moritz Wolff eine Touristengruppe sah, schlenderte er stets ganz langsam daran vorbei. Manchmal gelang es ihm sogar, sich eine Weile unter die Zuhörer zu mischen. Das Alte Kaufhaus, so hatte er bei einer solchen Gelegenheit erfahren, zählte zu den ältesten Häusern der Stadt. Im späten Mittelalter war es als Handelshaus, Eichamt und Warenlager genutzt worden. Die an Treppenstufen erinnernde Giebelkonstruktion hatte das Gebäude aber erst Mitte des neunzehnten Jahrhunderts, im Rahmen eines Umbaus zum Theater, erhalten.
Moritz Wolff hielt sich links, folgte der Marktstraße in Richtung Süden und erblickte einige wenige unerschrockene Zeitgenossen, die wohl wie er auf der Jagd nach frischen Brötchen unterwegs waren. Nachdem er die für die Rosenhöhe bestimmte Charge in einem Café gegenüber der Stiftskirche abgeholt hatte, ging er zum Parkhaus. Seinen weinroten Ford begrüßte er, indem er ihm die Flanke tätschelte, so, als handele es sich um ein altes, treues Pferd. Es trottete über die Ringstraßen und hatte keinen Blick für die reiche Formensprache der Fassaden – die Ornamente, Erker und Türmchen, die ein einzigartiges architektonisches Vermächtnis darstellten. Es fand den Weg aus der Stadt und passierte das gemütliche Örtchen Rittersheim. Bald schon konnte Moritz den langen, spitz zulaufenden Kirchturm von Birkenfeld in der Ferne erkennen. Dahinter begannen die Weinberge bis zum Waldessaum anzusteigen. Die Hügel der Haardt erhoben sich hinter dem Ort wie zwei gutmütige Riesen.
Er war sich noch unschlüssig, wie er die Sache angehen wollte. Er wusste, dass es sinnlos war, seine Eltern noch einmal auf den gestrigen Abend anzusprechen. Auf der Ebene, auf der er es sich gewünscht hätte, konnte man nun einmal nicht mit ihnen sprechen. Also würde alles ablaufen wie immer. Er würde direkt in die Gaststube gehen und das Frühstück für die Gäste richten. Eine halbe oder Dreiviertelstunde später würde seine Mutter auftauchen und seinen Einsatz, der ja eigentlich dazu gedacht war, ihr einen freien Vormittag zu verschaffen, ad absurdum führen. Sie würde ihm zwei Dutzend Fragen stellen, wovon zwei bis drei ihm, sprich seinem körperlichen Wohlbefinden, galten. Die anderen dienten der Qualitätssicherung und bezogen sich auf die Brötchen, die Eier und den Kaffee. Seine Antworten würde sie dann mit aufgestelltem Ohr, die Waren mit kritischem Auge prüfen, anschließend mit den Gästen hie und da ein paar Worte wechseln und schlussendlich den von ihm mühsam eingeräumten Geschirrspüler einer gründlichen Restrukturierungsmaßnahme unterziehen.
„Die Rosenhöhe ist schon viele Jahre in unserem Besitz“, hörte er seinen Vater plötzlich im Geiste sagen, während er in den Feldweg einbog, auf dem es steil ansteigend die letzten hundert Meter zurückzulegen galt. „Dein Großvater hat aus einem kleinen Ausschank dieses Hotel gemacht. Gemeinsam haben wir die Kapelle und den Taubenturm restauriert und dem Ganzen einen übergeordneten Sinn gegeben. Meine Aufgabe besteht jetzt nur noch darin, das Geschaffene zu bewahren. Ob du da einmal etwas mit anfangen kannst, weiß ich nicht. Vielleicht machst du am Ende eine Psychologie daraus.“ Was genau sein Vater sich unter ‚einer Psychologie’ vorstellte, hatte Moritz Wolff bislang noch nicht in Erfahrung bringen können.
An einem der hellen Holztische in der Gaststube der Rosenhöhe saßen zwei hochbetagte Paare, die schon auf ihn gewartet hatten und von allem so angetan waren, dass er schwer an sich halten musste, um ihnen nicht eine Nase zu drehen. Vor allem die zierliche Dame mit dem schneeweißen Dutt auf dem Hinterkopf wollte gar nicht aufhören, alles in den höchsten Tönen zu loben.
„Und Sie sind also der Sohn, ja? Wie reizend! Ihr Herr Vater hat uns schon erzählt, dass Sie sonntags immer extra heraufkommen, um das Frühstück zu machen. Ach Gott! Dass es so etwas heutzutage noch gibt!“
So, wie sie das sagte, klang es, als hätte er den Mount Everest bezwungen.
„Wann hat er Ihnen das denn erzählt?“, fragte Moritz Wolff.
„Gestern Abend. Er hat uns einen Trollschoppen spendiert und wir haben noch gesungen“, erzählte die Alte selig. „Es war fast so schön wie damals beim BdM.“
Er verdrehte innerlich die Augen und zog sich in die Küche neben dem Frühstücksraum zurück. Diese Alten mit ihrem unreflektierten früher-war-alles-besser-Gehabe hatten ihn schon immer auf die Palme gebracht. Einmal war von einem tragischen Verbrechen die Rede gewesen. Eine Frau aus einem der umliegenden Dörfer war brutal vergewaltigt worden. Er hörte noch heute, wie sich die alten Männer ereifert hatten. Die Verbrecher hätten es heutzutage viel zu leicht, hatten sie geschimpft. Nur zu gerne hätte Moritz Wolff ihnen einmal ins Gesicht geschleudert, dass zu ihrer Zeit die Verbrecher selbst an der Macht gewesen waren, aber das hatte er sich in seiner Wohlerzogenheit natürlich nicht getraut.
Er öffnete den Küchenschrank und stellte fest, dass die Kaffeefilter alle waren. Er schüttelte sich. Wie ein Hund, der sich nach einem Bad das Wasser aus dem Fell schüttelt, versuchte er alle Gedanken und Gefühle, die nichts mit der aktuellen Situation zu tun hatten, loszuwerden. Er holte tief Luft, schaute noch einmal, ob die Gäste gut versorgt waren und ging durch die Hintertür über den Innenhof zum Wohnhaus der Eltern. Er schlug mit dem Kopf fast an die Haustür, weil er so forsch gegangen war und nicht damit gerechnet hatte, dass sie noch verschlossen sein könnte. Er klingelte, doch es rührte sich nichts. Etwas konsterniert kam er zurück in die Gaststube, um aus seinem Rucksack den Schlüssel zu holen.
„Was man nicht im Kopf hat, hat man in den Füßen“, sagte die Alte mit einem wohlwollenden Nicken. Er reagierte gar nicht darauf, sondern rannte zurück, öffnete die Haustür und stürmte – wie von Geisterhand geführt – nach oben. Ins Schlafzimmer seiner Eltern. Dort fand er seinen Vater reglos in seinem eigenen Erbrochenen auf dem Bett liegend. Und seine Mutter, die den hölzernen Bettpfosten umklammerte wie einen Schiffsmast auf stürmischer See.

– 5 –

In Marius Hilzendegens Leben gab es nur zwei große Leidenschaften: seinen Lebensgefährten und seinen Beruf. Im Grunde hatte er nie wirklich daran geglaubt, dass er es schaffen würde.
Bis vor fast zehn Jahren hatte er – wie Klaus-Maria es ausdrücken würde – ‚auf der dunklen Seite der Macht’ gestanden. Erst als er ihn kennengelernt hatte, fing er an zu begreifen, worum die Welt sich drehte. Zur selben Zeit hatte man versucht, ihnen einen besonders perfiden Mord anzuhängen. Diese Erfahrung hatte sie nicht nur zusammengeschweißt, er, Marius, hatte sich wohl oder übel auch mit dem Kommissar, Hubert Hartmann, auseinandersetzen müssen und irgendwann erkannt, dass nicht alle Menschen, die ein geordnetes und bodenständiges Leben führten, zwangsläufig Spießer waren. Und dass er noch niemals zuvor in seinem Leben jemanden so sehr beneidet hatte wie diesen Mann. Er war erwachsen genug gewesen, um einzusehen, dass das, was Hartmann hatte, weder mit Gewalt noch mit fiesen Tricks oder krummen Touren zu kriegen war. Also hatte er sich für Fairplay entschieden und beschlossen, für seinen Traum zu kämpfen. Der alte Kommissar hatte ihn mehr als alle anderen gefordert, was Marius immer auf seine Vergangenheit gestoßen und ein ums andere Mal zähneknirschend hingenommen hatte. Zum Jahreswechsel war Hartmann nach vierzigjähriger Dienstzeit in Ruhestand gegangen und man hatte ihn gebeten, vorübergehend die Leitung des K1 zu übernehmen. Als ihn dann am vergangenen Freitag die Amtsleiterin zu einem Termin gebeten hatte, war Marius davon ausgegangen, dass man inzwischen den passenden Nachfolger gefunden hatte und er ihm vorgestellt werden sollte. Stattdessen hatte sie ihm eröffnet, dass man seine
Marius Hilzendegen gähnte und riss sich aus seinen Gedanken. Jetzt war nicht die Zeit für einen Freudentaumel. Ganz im Gegenteil. Obwohl die Pflicht ihn bis in die frühen Morgenstunden hinein wach gehalten hatte, rief sie ihn schon wieder. Und diesmal gab es sogar einen Toten. Als ob für den Anfang ein sexbesessener Irrer, der sich in den Bars und Clubs der Stadt herumtrieb und den jungen Damen Drogen in die Cocktails mischte, nicht Herausforderung genug gewesen wäre.