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Horst Christian Bracht
Der Klosterbrauer
Limburg-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2014 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Nicole Ehrlich, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: © autofocus67 – Fotolia.com
eBook: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-112-0
 
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1

Sein zweiter Tod kam um Mitternacht. Gnadenlos, leise, ohne Vorwarnung und endgültig. Der schlafende Knabe neben dem Toten drehte sich auf dem Strohlager ruckartig um und mummelte sich tiefer in die wollene Decke, als habe er einen frostigen Schauder verspürt. In seinen kindlichen Träumen weilte er in einer heilen, glücklichen Welt. Dass sein Vater, wie er den Mann neben sich nannte, soeben das Zeitliche gesegnet hatte, hatte er gottlob nicht bemerkt.
Ein eiskalter Hauch durchfuhr das dunkle Dormitorium, als die barfüßigen Franziskaner in Zweierreihe von der nächtlichen Vigil zurückkehrten. Sie hatten die Kapuzen tief über die Ohren gezogen und die kalten Hände in die weiten Ärmel ihrer braunen Kukulle geschoben. In der schummrigen Klosterkirche Sankt Sebastian zu Lympurg hatten sie einen Psalm, den Hymnus und zwei Nocturnen gesprochen. Ein eingeübtes, gespenstisch wirkendes, monotones Ritual. Guardian Johannes schritt mit einem funzeligen Talglicht in der Hand und tiefen Kummerfalten im Gesicht voran. Mit Sorge hatte er verspürt, dass die schlaftrunkenen Brüder den Herrn nicht mit der gebotenen Frömmigkeit lobgepriesen hatten. Bei Tagesbeginn würde er ihnen in der Laudes wieder einmal den Levitikus lesen lassen und erwarten, dass seine Brüder die Strafpredigt richtig zu deuten verstünden. Das nächtliche Stundengebet war keine lästige Pflichterfüllung, sondern eine demütige Herzensangelegenheit zur Ehre und zum Lob des Allmächtigen. Die Fratres legten sich schweigend auf das Strohlager nieder in der Hoffnung, schnell wieder Schlaf zu finden. Doch die Nachtruhe sollte ein abruptes Ende finden.
Mit strenger Miene versicherte sich Johannes, dass die Arme der Brüder sittsam keusch auf den wollenen Decken lagen. Dann erst zündete er mit dem Kerzenlicht den Docht der alten Ölfunzel aus Steingut an, die in einer verbeulten Blechschüssel auf dem Steinfußboden stand und den Schlafsaal in ein fahles Nachtlicht tauchte.
Bruder Ansgar warf einen kurzen Blick auf seinen greisen Schlafnachbarn und das schlummernde Kind, das sich wie ein Embryo im Mutterleib zusammengekauert hatte. Ein sonderbares, frostiges Gefühl beschlich den Klostermedicus Ansgar. Hatte er sich getäuscht? Starrte Bruder Ludolf mit offenen Augen gegen die Decke? Er richtete sich beunruhigt auf und betrachtete im schwachen Licht der Öllampe das faltige, bärtige Gesicht seines Ordensbruders. Schreckerfüllte, aufgerissene, glasige Augen. Ein offener Mund, als wolle er noch etwas sagen. Ansgars Hand tastete nach der Halsschlagader. Kein Puls. Dann beugte er sich über den Mund. Kein Atem. Er legte sein Ohr auf die Brust seines Bruders. Kein Herzschlag.
„Bruder Ludolf ist im Herrn entschlafen“, flüsterte Ansgar sich bekreuzigend dem Guardian zu, der die Unruhe des Medicus mit einem Stirnrunzeln wahrgenommen hatte. Es war der 16. September A. D. 1683, zur Zeit der Vigil.
Der zweite Tod hauchte dem Mönch die Seele aus. Bei seiner Aufnahme in den Franziskanerkonvent wurde er – wie jeder Novize beim Eintritt in den Orden – schon einmal für tot erklärt. Mit dem Klostertod verlor der Ordensbruder die weltliche Rechtsfähigkeit. Von da an hatte er sich nur vor Gott und dem Guardian zu verantworten. Seine eventuell vorhandenen, persönlichen Besitztümer gingen an die möglichen Erben über, meist jedoch an das Kloster. Ab diesem Zeitpunkt war es dem Mönch untersagt, privates Eigentum zu besitzen oder gar zu erwerben. Er schwor dem profanen Leben ab und lebte nun mittellos in der Vita communis, in der jegliches Gut dem Bettelorden gehörte.
Noch in der Nacht wuschen die Brüder den Toten, schnitten ihm die Fingernägel kurz und hüllten ihn in seine Kutte ein, so dass nur noch der blutleere Kopf und die wachsfarbenen Hände herausschauten. Später bei der Sarglegung – das Kloster hielt für den Fall der Fälle immer eine recht armselige Totenlade bereit – wurde auch die Kapuze über das Gesicht gezogen und vernäht. Sie legten den Leichnam auf den steinernen Boden vor den Altar der Sebastianskirche. Die Ordensbrüder wechselten kein einziges Wort, sie verständigten sich mit Blicken und Zeichen wie in einem Schweigekloster. Es herrschte eine gespenstische Ruhe im dunklen, kalten Gotteshaus des Klosters, die jedem Kirchenbesucher einen Schauder den Rücken hinunterlaufen lassen hätte. Sie banden einen Rosenkranz um die zum Gebet gefalteten, von Altersflecken übersäten Hände. Ein junger Novize eilte ins Lavatorium und holte eine zerbeulte Waschschüssel, den einzigen Gegenstand, der ausschließlich Bruder Ludolf vorbehalten war. Sie würde bei der Beerdigung dem Grab beigelegt werden. Ängstlich vermieden die Fratres, in die starren, glasigen Augen zu schauen – aus Furcht, der Tote könne einen von ihnen mit auf die letzte Reise nehmen. Der Tod verbreitete Angst, Schrecken und ließ in seiner Gegenwart alle tröstenden, beschwichtigenden Sprüche der Heiligen Schrift vergessen machen.
Sie legten einen Catechismus Romanus unter das bärtige Kinn, um es zu stützen und den aufgerissenen Mund zu schließen, sowie zwei Münzen auf die Augen, um die Lider zu fixieren. Vielleicht waren die Geldstücke aber auch als Obolus für den Fährmann gedacht, der seine Seele über den Totenfluss zum Hades schiffen sollte. Der Guardian zündete zwei Altarkerzen neben dem Kopf des Leichnams an, salbte das Haupt und gab dem Verstorbenen den Friedenskuss auf die kalte, bleiche Stirn. Nun sprachen die Barfüßer Bittgebete für den verschiedenen Bruder im Herrn und teilten sich die Totenwache mit stillen Gebeten. Das Gotteshaus, in dem noch vor wenigen Stunden Lobpreisungen gesprochen wurden, hatte sich mit einem Schlag in eine schaurige Totenkirche verwandelt, der man am liebsten entfliehen mochte.
Bruder Johannes bestimmte noch in dieser Nacht, Klostermedicus Ansgar sei ab sofort für die christliche Erziehung des Knaben verantwortlich. Er solle neben dem noch schlafenden Felix ruhen und ihn am Morgen in die Geschehnisse einweihen.

2

Bruder Ludolf hatte den kleinen Felix in sein Herz geschlossen, ebenso wie Felix seinen ‚Vater’. Dabei hätte der greise Klosterbruder sein Großvater sein können. Aber was wusste Felix schon von einer normalen Familie. Der Konvent war seine Familie. Einfühlsam, nahezu zärtlich kümmerte sich Ludolf um seinen Schützling, und Felix dankte es ihm mit Zuneigung und fröhlichem Kinderlachen.
Ludolf verstand es, mit seinem Zögling väterlich umzugehen, ihn auf den christlichen Pfad zu führen. Er hatte darin Übung. Vor über 30 Jahren waren schon einmal zwei Knaben unter seiner liebevollen Fürsorge im Kloster aufgewachsen.
Der Ältere der beiden elternlosen Buben war Hennes, der unfreiwillige Sohn einer frommen Schwester des Klosters Bethlehem. Sie war im Krieg brutal von einem schwedischen Soldaten vergewaltigt worden. Hennes erwies sich als ein heller Kopf, fromm und schreibgewandt. Die Kommunität hatte später den klugen, allseits geschätzten, jungen Franziskaner zum Guardian bestimmt. Eine weise Entscheidung, wie sich herausstellte, denn Pater Johannes strotzte voller Tatendrang und führte das Kloster zu einer Blüte, die dem Konvent eine gesicherte Zukunft bescherte.
Sein zweiter Zögling, das vor dem Nonnenkloster Bethlehem ausgesetzte Findelkind Francis, hatte mit Bruder Ludolf gemeinsam den Kräutergarten gepflegt. Der aufgeweckte Junge zeigte eine ausgesprochene Begabung für die Heilkunde und war beim Medicus Ansgar in die klösterliche Lehre gegangen. Im Gegensatz zu Hennes war Francis nicht für das Klosterleben bestimmt. Der Guardian steckte ihn in eine Lympurger Gerberfamilie. Schließlich wurde er zum rechtschaffenen, zünftigen Gesellen geschlagen und in die ehrbare Gesellschaft aufgenommen. Jedoch reizte ihn der Gestank des Gerbereigewerbes nicht sonderlich. Er besann sich auf sein klösterliches Wissen über die Heilkunst. Bald unterhielt Francis eine Badstube in Lympurg und übersiedelte später nach Dietz. Als anerkannter Wundheiler genoss der Bader Francis eine Wertschätzung, die weit über Dietz hinausreichte. Selbst viele Lympurger begaben sich über die kurtrierische Grenze auf Nassau-Dietzer Gebiet, um seine Stuffa aufzusuchen.
Felix war im Alter von zwei Jahren in klösterliche Obhut gegeben worden. Von diesem Zeitpunkt an wich er nicht von Bruder Ludolfs Seite. Sie nahmen nebeneinander sitzend die Mahlzeiten ein, teilten sich einen Strohsack im Dormitorium und beteten gemeinsam die Horen. Nur von der mitternächtlichen Vigil waren der über Achtzigjährige – er hatte aufgehört, seine Jahre zu zählen – und der Jüngste des Konvents suspendiert. Felix erwies sich als ein sensibles, neugieriges, anhängliches Kind mit einem ausgeprägten Sinn für Ordnung, Harmonie und Gerechtigkeit. Jede Grobheit, jeder unberechtigte Tadel, jedes Durcheinander waren ihm zutiefst zuwider. Bei einer Schelte oder wenn ihm etwas nicht gefiel, zuckte er kurz mit dem linken Auge oder reagierte trotzig und bockig, was ihm aber nachgesehen wurde. Eine ungewöhnliche Fähigkeit fiel den Klosterbrüdern schon früh auf: Felix verfügte über ein erstaunliches Gedächtnis. Er konnte sich an jedes Wort erinnern, das einmal gesprochen worden war. Selbst die bei den Mahlzeiten von Novizen vorgelesenen Homilien in lateinischer Sprache vermochte der Knabe nachzuplappern.
Die freie Zeit hatten sie normalerweise im weitläufigen Hortus verbracht, den einst Bruder Ludolf angelegt hatte. Während der greise Mann auf der Bank vor seinem Schuppen saß, genüsslich eine Tonpfeife schmauchte und den selbst angesetzten Kräuterlikör schlürfte, wässerte Felix eifrig den Kräutergarten. Vornehmlich seine Pflanzen, die ihm Bruder Ludolf in einem kleinen Beet zugestanden hatte. Dem giftigen Fingerhut schenkte er seine besondere Aufmerksamkeit und betrachtete die roten Blüten mit ehrfürchtigem Argwohn und Grausen. Ludolf hatte ihn immer wieder vor der krankmachenden Wirkung der Pflanze gewarnt. Wie konnte Gott es zulassen, wunderte sich Felix, dass eine solch betörend schöne Blume eine tödliche Wirkung für Menschen besaß? Ludolf ermahnte ihn: Die äußerliche Erscheinung sei oft trügerisch und verführerisch. Schönheit könne mit einer gefährlichen Versuchung gepaart sein. Er solle sich nicht von den Sinnen täuschen lassen.
Als der Guardian Bruder Ludolf auf das Altenteil geschickt hatte, machte sich dieser, vom Zipperlein geplagt, vornehmlich in der Küche nützlich. Felix folgte indes einem wohl ausgedachten Ausbildungsplan seines Ziehvaters. So wurde er in die Geheimnisse der Kräuterkunde eingeführt, in die Viersäftelehre von Galen sowie in die nach wie vor gültigen Heilmethoden der Hildegard von Bingen. In der Schneiderei lernte er, mit Nadel und Faden umzugehen. Im Skriptorium übte sich Felix unter Anleitung von Bruder Sartorius in der Linierung des Schreibgrundes, im Abschreiben und dem kunstvollen Ausschmücken der prunkvollen Initialbuchstaben. Die Kunst des Buchdrucks mit Holzblöcken hatte Felix besonders in Bann gezogen. Der Armarius Sartorius begeisterte ihn von der ‚Potestas liberorum’, der ‚Macht der Bücher’, wie er sich ausdrückte. Diese Macht übte einen besonderen Reiz auf Felix aus.
Endlich erlaubte ihm der Guardian, die Klosterschule zu besuchen. Felix freute sich mächtig darauf. Doch bald stellte er mit Ernüchterung fest, dass das Lernen beim strengen Schulmeister kein Zuckerschlecken war, wenn er die Schüler bei Unachtsamkeit, Faulheit oder ungebührlichem Betragen mit Schlägen züchtigte. Mit seinem biegsamen, spanischen Stock malträtierte er die Finger der angstvollen Schüler, bis ihnen das Wasser in die Augen getrieben wurde. Kein Wunder, dass Felix dem Unterricht mit Bangigkeit und Schrecken folgte. Mit der friedlichen Beschaulichkeit des Klosterlebens war es vorbei. Zucht, Ordnung und Gehorsam waren verlangt und zudem eine übertriebene Frömmelei, da jede Schulstunde mit einem Gebet eingeleitet und abgeschlossen wurde. Das nervte zusätzlich.
Nachdem Felix wie besessen das Lesen erlernte und unzählige Male die Strophen der Lobgesänge in lateinischer Sprache auf die Schiefertafel kritzelte, war er fortan fast ausschließlich in der Bibliothek anzutreffen. Meist suchte er nach bebilderten Büchern medizinischen oder mystischen Inhalts. Die Klosterbibliothek war sein unerschöpflicher Quell. Sein Wissensdrang war kaum zu stillen. Zwischen den aus ungehobelten Brettern zusammengenagelten Regalen suchte er sich ein helles Plätzchen am Fenster und versäumte so manches Stundengebet. Bruder Ludolf wusste, wo er seinen Schützling finden konnte und riss ihn regelmäßig aus seiner Bücherwelt. Auch er müsse die Observanzen beachten, sonst setze es empfindliche Strafen des strengen Guardians.
In jener Zeit wuchs Felix behütet und glücklich innerhalb des Franziskanerklosters auf. Bruder Ludolf hatte stets ein Auge auf seinen Schützling, befürchtete er doch, dass so mancher Bruder allzu gern seine warme Hand unter die Kinderkutte schieben würde. Der reichliche Alkoholkonsum ließ das strenge Keuschheitsgelübde zuweilen vergessen und gab den lüsternen Trieben freien Lauf. Die Sorge war unberechtigt. Felix wusste über die sinnlichen Gefahren Bescheid, hatte er doch insgeheim in den verbotenen Büchern viel über die lüsternen Begierden gelesen. Er würde sich zu wehren wissen, sollte es zu einem unsittlichen Versuch kommen.
Noch verspürte Felix keinen Drang, die Stadt zu erkunden, sondern vergrub sich lieber in seine Bücher. Ludolf war es durchaus recht. Für eine Begegnung mit der profanen Welt war der empfindsame, feinsinnige Felix noch nicht bereit.
Eines Tages forderte der Guardian Bruder Ludolf auf, den Felix als Ministrant zu schulen. Normalerweise wurden die Messdiener aus den Klosterschülern rekrutiert. Bockig widersetzte sich Felix. Er wolle nichts mit den fremden Kindern zu tun haben, er gehöre schließlich zum Kloster. Daraufhin führte Ludolf den kräftigen Jungen zum Organisten auf die Empore der Sankt Sebastiankirche. „Wenn du den Dienst am Altar nicht willst, dann trittst du eben den Blasebalg der Orgel! Du bist stark genug. Bei uns Franziskanern kann sich niemand vor der Arbeit drücken.“
Durch den Kontakt mit den gleichaltrigen Schülern aus Lympurg realisierte Felix schließlich seine ungewöhnliche Situation. Erst daraufhin packte ihn die Neugierde, erst dann stellte er die von Ludolf lang erwartete Schicksalsfrage: „Vater, wo ist meine Mutter? Warum kenne ich sie nicht?“
„Mein Sohn, das ist eine sehr traurige Geschichte. Deine Mutter ist ins himmlische Reich Gottes heimgegangen. Komm, ich will dir etwas zeigen.“ Ludolf führte ihn zur Sebastiankirche hinaus auf den davor liegenden, kleinen Friedhof und hielt an einem Grab unweit der Kreuzigungsgruppe aus rotem Sandstein inne, welche die Leyendecker dem Kloster gestiftet hatten.
„Schau, die Muttergottes Maria links vom Kreuz blickt traurig auf dieses Grab, als wolle sie nicht nur um ihren Sohn Jesus trauern, sondern auch um deine Mutter, die hier begraben ist.“ Er wies auf ein schlichtes Holzkreuz: „Anno 1673, den 3. Oktober, ist im Herrn Annemarie Diezinger ihres Alters 36 Jahr gottselig verschieden. R.I.P.“
Felix verharrte wie zu Stein erstarrt vor der Grabstätte seiner Mutter. Sein linkes Augenlid zuckte. Dann krallte er sich in die Hand Ludolfs, vergrub sein Gesicht in dessen braune Kutte, schluchzte jammervoll und weinte sich die Augen aus. Unbekannte Emotionen überwältigten ihn, die er weder zu ertragen noch zu deuten vermochte. Beim Anblick des Grabkreuzes empfand er eine aus tiefem Herzen kommende Liebe zu seiner verstorbenen Mutter. Einer Mutter, die er sich nicht vorstellen konnte, deren Stimme er nicht kannte, die ihn viel zu früh verlassen hatte. Die erste, so schreckliche Begegnung mit dem Tod sollte sich tief in seine Seele graben, ihn verändern und ihn an der Barmherzigkeit Gottes zweifeln lassen.
„Weine nur, mein Sohn. Es ist schrecklich, seine Mama zu verlieren. Aber zum Trost sei dir gesagt: Unser allmächtiger Gott hat sie zu sich in den Himmel gerufen. Von dort schaut sie nun von Engeln behütet auf dich herab. Wir werden für sie beten und sie immer in unserem Gedächtnis behalten.“
„Was bedeutet R. I. P.?“
„Requiescat in pace, sie möge in Frieden ruhen.“
„Hatte sie keinen Frieden? Warum ist sie so früh gestorben? War sie krank?“
„Nein, Felix. Sie war nicht krank. Es war ein schreckliches Unglück, dass sie starb. Ich werde dir später davon erzählen, wenn du älter bist.“
„Hast du meine Mutter gekannt?“
Gewiss, Bruder Ludolf kannte sie. Er hatte Annemarie zum ersten Mal beim Gerbermeister Emmerich gesehen, wo sie als Dienstmagd gearbeitet hatte. Später erkor ihn die junge Ehefrau zum Beichtvater. Ludolf wusste um ihre schwerwiegende Sünde und das grausame Schicksal, das sie letztlich mit dem Tod bezahlt hatte. Aber davon wollte er seinem Ziehsohn nichts erzählen, noch nicht. Glücklicherweise konnte er den Guardian nach dem Tod der Mutter überreden, ihren kleinen Sohn Felix in das Kloster aufzunehmen. Bruder Johannes stand seinem Ansinnen anfangs mit berechtigter Skepsis gegenüber. Zwar hatte der Junge seine Mutter verloren, jedoch lebte der Vater noch. Ludolf hatte freilich gute Gründe, sich für den Knaben so vehement einzusetzen. Er hatte den Klostervorsteher nicht in das folgenschwere Geheimnis eingeweiht, das ihm einst die Annemarie gebeichtet hatte.
Gottes Fügung wollte es, dass Ludolf sein Wissen über das grausame Schicksal der Mutter mit ins Grab nehmen sollte.

3

Die Öllampe flackerte an jenem dunklen Septembermorgen, als wollte sie an die unruhige, todbringende Nacht erinnern, und warf bedrohliche Schatten auf die gekalkten Wände des Dormitoriums. Ein heller Glockenschlag kündigte das Ende der kurzen Nachtruhe an. Schweigend erhoben sich die Brüder vom Strohlager und warfen einen kurzen, mitleidvollen Blick zum schlafenden Knaben. Der neunjährige Felix hatte sich in der warmen Wolldecke zusammengerollt und spürte eine Hand, die liebevoll seinen Rücken streichelte. Zunächst rieb er sich die Augen, dann drehte er sich um und sah zu seinem Erstaunen nicht in das vertraute Gesicht Ludolfs, sondern in das ernst dreinschauende Antlitz von Bruder Ansgar.
„Felix, du musst jetzt sehr tapfer sein.“
Erschrocken richtete er sich auf. Warum hatten sich alle Brüder um seine Schlafstelle versammelt? Was hatten die finsteren Mienen zu bedeuten? Warum stand selbst der gestrenge Guardian mit gefalteten Händen vor ihm?
„Mein Junge, heute Nacht ist etwas Schreckliches geschehen. Gott hat es gefallen, unseren Bruder Ludolf zu sich in den Himmel zu rufen.“
„Vater Ludolf ist tot?“, schrie Felix hellwach in panischem Entsetzen, dass es markerschütternd durch den Saal schallte. Ein Schrei von Angst, Wut und Verzweiflung. „Warum hat es Gott gefallen, meinen Vater Ludolf sterben zu lassen? Mir gefällt das gar nicht. Will Gott mich strafen? Erst nimmt er mir meine Mama weg, dann auch noch Vater Ludolf.“
„Felix beruhige dich. Wir alle sind in Gottes Hand“, versuchte Ansgar den Jungen zu besänftigen. „Komm, wir wollen in der Laudes gemeinsam für Ludolf beten.“
Der Guardian Johannes reichte Felix die Hand, half ihm vom Bettlager auf und sodann schritten die Fratres stumm zum Morgengebet in die kalte Klosterkirche. Ansgar legte dem verstörten, verängstigten Jungen tröstend seinen Arm um die Schulter. Schon von der Holzpforte aus erblickte Felix den auf dem blanken Steinboden liegenden, toten Bruder Ludolf. Er riss sich von Ansgar los und stürmte zum Altarraum. Das aschfahle Gesicht ließ ihn erzittern. Ein kalter Schauder lief ihm den Rücken hinunter. Sein linkes Augenlid zuckte. Behutsam berührte er die bleichen Hände und spürte die Kälte des Todes. Sofort zog er seine Hand zurück – so, als habe er sich verbrannt. Tränenvoll stand er da. Ratlos sah er die Brüder an. Dann faltete auch er die Hände und begann leise zu beten. Nicht zum Herrgott, dem war er gram ob seiner Entscheidung, seine Mutter und auch den Bruder Ludolf zu sich gerufen zu haben. Er betete zur Muttergottes, der gütigen Jungfrau Maria, die seine tiefe Trauer sicher besser verstand. Die Heilige Maria hätte es niemals zugelassen, ihm seine Mutter und nun auch Bruder Ludolf wegzunehmen. Plötzlich streckte Felix seinen Arm aus, um die Münzen von den toten Augen zu nehmen. Ansgar hielt ihn davon ab.
„Das ist gemein, er kann nichts sehen. Er soll doch im Himmel nach meiner Mama suchen.“
Ansgar zog ihn sanft, aber bestimmt vom Leichnam weg und hielt ihn fest. Das war zu viel für den überforderten Felix. Weinend riss er sich los, zog eine Brutsche, stürmte zur Kirche hinaus und kniete vor dem Grab seiner Mutter nieder. Wut keimte auf. Wut auf die Brüder, die Ludolfs Augen verschlossen hatten, Wut auf Gott, dem es gefallen hatte, seine Mutter und Ludolf abzuberufen und ihn mutterseelenallein zurückzulassen. Wirre Gedanken packten ihn. Er fühlte sich einsam, von Gott geächtet und sann auf Rache. Rache auf wen?
„Mutter, hilf mir doch. Alle sind gegen mich, selbst der liebe Gott. Ludolf wollte mir doch von dir erzählen, später, wenn ich größer bin. Jetzt ist er tot. Was wollte er mir sagen? Warum musstest du so früh sterben? Die Barfüßer schweigen auf meine Fragen. Aber ich schwöre dir, ich werde die Wahrheit herausbekommen. Und sollte irgendjemand schuld an deinem Tod haben, dann finde ich ihn. Ich gelobe Rache.“
Das war kein naiver Schwur. Vielmehr hatte sich die Idee der Rache in seine Seele eingebrannt, so wie der Henker dem Betrüger mit dem Brandeisen ein Feuermal auf die Stirn prägt. Von diesem Zeitpunkt an hatte er sich ein festes Ziel gesteckt, das er unbeirrt verfolgen sollte: Er würde die Wahrheit über die mysteriösen Umstände in Verbindung mit dem Tod seiner Mutter herausfinden. Ludolf hatte mit wohlüberlegtem Bedacht von einem schrecklichen Unglück gesprochen, nicht von einem Unfall oder von einer Krankheit. Hätte das Unglück vermieden werden können? Würde seine Mutter dann noch leben? Wer hatte dieses Unglück zu verantworten? Mit jedem weiteren Gedanken verstärkte sich seine Entschlossenheit, sein fester Wille, das Geheimnis um den Tod seiner Mutter zu ergründen und Rache zu üben.
Der schwere Schock jenes Tages veränderte Felix. Er vermisste die väterliche Liebe seines Ziehvaters Ludolf. Bruder Ansgar fand kaum Zeit, sich mit ihm zu beschäftigen. Zu viele, arme Menschen suchten seinen medizinischen Rat. Die Krankenstube platzte aus allen Nähten, die Heilsuchenden mussten vor der Infirmaria im Freien warten. Allein auf sich gestellt, empfand sich Felix als unerwünschter Fremdkörper, den man am liebsten loswerden wollte. Kein Bruder beachtete ihn. Selbst ein freundliches Wort, Lob oder brüderliche Zuneigung wurden ihm versagt. Zu viele Fratres sprachen dem Bier, dem Wein und dem Tobak im Überfluss zu. Immer wieder kam es untereinander zum Streit. Das passte so gar nicht zu einem gesitteten Klosterleben. Die Liebe zum Nächsten wurde mit Füßen getreten. Felix widerten die Streitereien im Konvent an. Er empfand sich als Ausgestoßener, als unwillkommener Gast in einer rauen Männerwelt, deren einziger Lebenssinn darin lag, zu arbeiten und zu beten. Und er fühlte sich missbraucht. Immer wenn die Spenden an das Kloster spärlich flossen, besann sich der Guardian darauf, dass die Franziskaner einem Bettelorden angehörten. Vor allem an den städtischen Markttagen sandte er dann seine Brüder zum Betteln aus. Er hatte Lympurg in Bereiche eingeteilt: den Kornmarkt, die Fleischgasse, den Klattermarkt, den Fitz- und Leinenmarkt, die Brotgaden, den Milchmarkt, den Fischmarkt, den Rossmarkt und den Schuhmarkt. Jedem Bruder wurde ein Ort zugewiesen. Das war der einzige Anlass, zu dem der junge Felix von den Brüdern umworben wurde. Jeder wollte ihn an seiner Seite haben, denn eine kindliche Hand eignete sich besser, barmherzig zu machen als ein dickbäuchiger Franziskaner. Doch meist endete die Bettelei für Felix damit, dass er sich eine schmerzliche Kopfnuss oder ein Ohrzwicken einhandelte. Manche milde Gabe verteilte er auch an die in Lumpen gehüllten, ausgehungerten Männer, die klagend vor den Ständen im Staub oder gar in der Gosse hockten und auf ein Almosen hofften. Die meisten von ihnen, krank, verstümmelt, blind und kaum bei Kräften, entstammten fremder Söldnertruppen, die nach dem Krieg verbannt und sich selbst überlassen wurden. Mittellos und fern der Heimat fristeten sie ein bedauernswertes Dasein. Felix empfand ein tiefes Mitgefühl.
Kein Wunder, dass der brave, fröhliche Klosterjunge mit Gott, den Mönchen und der Kirche haderte und eine gewisse Abneigung gegen die Barfüßer entwickelte. Trotzig widersetzte er sich den strikten Klosterregeln und fügte sich nur unter Androhung von Strafen. Bruder Ansgar hatte seine liebe Mühe, Felix zur Einhaltung der klösterlichen Observanzen zu bewegen:
„Nur mit Gottgefallen und dem Gehorsam zur Kirche wird dir der Schlüssel zum Himmel gewährt.“
Nach dem Unterricht zog sich Felix meist still ins Skriptorium und die angrenzende Bibliothek zurück. Immer öfter begegnete ihm Bruder Sartorius mit Argwohn. Denn der Armarius ertappte ihn häufig in der verbotenen Abteilung, wenn er gerade ein Buch über Teufelsspuk in den Händen hielt. Sartorius tadelte ihn zwar, machte aber keine Meldung an den Guardian und beließ es bei klerikalen Drohungen:
„Das Lesen der verbotenen Bücher ist Sünde. Der liebe Gott sieht alles, selbst die kleinste Sünde. Ihn kannst du nicht täuschen. Wenn ich dich noch einmal hier erwische, setzt es Schläge ad posteriora – auf das Hinterteil!“
„Warum sind dann die Bücher im Kloster?“
„Sie sind ausschließlich dem Guardian vorbehalten für den Fall, dass er einen Bruder der Ketzerei, der Häresie, der Magie oder der Hexerei verdächtigt.“
An der nächtlichen Vigil – der Guardian hatte nun darauf bestanden – nahm er mit sichtlichem Widerwillen teil, vor allem im Winter, wenn ihn selbst zwei wollene Decken nicht wärmten. Aber der Guardian zeigte sich unerbittlich bei der Beachtung der Klosterregeln. Eines Nachts auf dem Weg in die eiskalte Sebastianskirche erwischte Bruder Ansgar den störrischen Jungen, wie er in das Weihwasserbecken an der Pforte spuckte. Er beließ es dabei, ihm einen Klaps auf seinen Blondschopf zu geben. Noch schrieben die Brüder seine eigenwilligen Ausrutscher der tiefen Trauer über den schmerzhaften Verlust des Ziehvaters zu.

4

Bald hatte Felix einen stillen Ort entdeckt, an dem er ungestört lesen konnte. An den Klostergarten grenzte die verfallene Laurentiuskapelle. In der Ruine fand er einen regengeschützten Raum, von dem er das Kloster einsehen konnte. Dahin zog er sich nach der Schule zurück und verschlang die mystischen Bücher, die er sich heimlich aus der Bibliothek ‚ausgeborgt’ hatte. Die Abhandlungen über boshafte Hexen und gruselige Teufel, über den legendären Misteltrank der Druiden, über die giftigen Kräuter und die verbotenen Wahrheiten der Natur faszinierten ihn. Bald wusste er mehr über totbringende Elixiere, schwarze Magie und Hexenrituale als seine Mitbrüder. Felix ging sehr geschickt vor. Nie verspätete er sich in der Schule. Sein Ludimagister war sogar voll des Lobes über seinen Lerneifer. Nie versäumte er ein Stundengebet und achtete sehr genau auf die Glockenschläge der Kirchturmuhr von Sankt Georg. Zu den Horen war er zwar körperlich anwesend, was der Guardian mit Genugtuung vernahm, aber er sprudelte die Psalmen ohne innere Frömmigkeit herunter, ebenso die Lobpreisungen Gottes, als sei das Sprechen der Gebete eine Gegenleistung für die Beköstigung und das Schlaflager im Dormitorium.
Kurz vor Felix’ dreizehntem Namenstag beriet sich Guardian Johannes mit dem Klostermedicus Ansgar, ob die Zeit gekommen sei, den Knaben endgültig als Novizen in den Konvent aufzunehmen:
„Entweder wir weisen dem Jungen eine klösterliche Aufgabe zu, oder wir suchen für Felix geeignete Zieheltern in der Stadt. Er ist alt genug zum Arbeiten, belesen und kräftig dazu. Bruder Sartorius empfiehlt, ihn in der Buchdruckerei einzusetzen.“
„Gewiss, Felix ist reif für das Klosterleben“, antwortete Ansgar. „Dennoch werde ich aus ihm nicht schlau. Er sondert sich ab, verschließt sich und zeigt keine besonderen Präferenzen. Manchmal habe ich den Eindruck, er ist bei den Orationen nicht mit vollem Herzen dabei. Seine einzige Leidenschaft scheint die Pflege der Gräber seiner Mutter und von Bruder Ludolf zu sein. Die Trauer hat er noch immer nicht überwunden. Wir sollten abwarten und ihn beobachten. Noch bin ich mir nicht sicher, ob Felix seine Zukunft in der Kommunität finden wird.“
Felix sollte das Kloster eher verlassen, als es dem Vorsteher in den Sinn kam. Auslöser war eine unselige Begegnung mit dem unehrbaren Abdecker.
Es war schon später Nachmittag an einem drückend schwülen Augusttag, als der Wasenmeister mit einem Pferdefuhrwerk zum Armesünderfriedhof vor die Laurentiusruine am Huttig zog. Auf dem Karren lag ein Toter, eingehüllt in ein schmutziges Leichentuch. Felix beobachtete, wie der verlotterte Totengräber schwitzend eine Grube aushob. Neugierig näherte er sich dem schmächtigen Mann, der über einer zerschlissenen Hose ein verschwitztes blaues Hemd trug, auf dem Blutflecken zu sehen waren.
„Was habt Ihr vor?“
Erschrocken sah der knöchrige Mann auf. Erst schien es, als wolle er den allzu Neugierigen vertreiben. Dann aber zog ein fratzenhaftes Grinsen über sein bärtiges Gesicht. Ohne ein Wort zu sagen, reichte er dem Jungen die Schaufel. Felix sah sich kurz um, dann begann er zu graben. Der Abdecker sah es mit Freude, hockte sich hin und begann zu plaudern.
„Ei, ich muss einen Selbstmörder im ungeweihten Acker verscharren. Der Mann war angeklagt, es mit dem Teufel getrieben zu haben. Ein Hexenpfeifer soll er gewesen sein. Aber genau weiß ich es nicht. Der Kerl hat sich noch vor der Folter erhängt.“
„Was hatte er mit dem Teufel gemein?“
„Man hat wohl Satanszeichen bei ihm gefunden, und er soll einen Pfaffen verflucht haben.“
„Das reicht, um ihn anzuklagen?“ Felix blickte erschrocken zum Kloster hinüber. Sofort kam ihm das Buch über den Satanskult in den Sinn, das er sich wieder einmal ausgeborgt hatte. Sein schlechtes Gewissen regte sich. Wie oft hatte er das Kloster verdammt. Hatte er sich versündigt und gar strafbar gemacht?
„Auf Ketzerei steht normalerweise die Todesstrafe am Scheiterhaufen“, fügte der Schinder hinzu und erhob drohend seinen Finger.
Auch bei ketzerischen Gedanken? Sein Puls raste, sein linkes Auge zuckte. Schweißnasse Hände, blasse Flecken im Gesicht. Vielleicht sollte er doch lieber seine Sünden beichten? Nein, nicht im Kloster. Die Brüder würden ihn verachten und wahrscheinlich den Teufel mit Knoblauch und mysteriösen, peinlichen Ritualen austreiben wollen.
„Und jetzt verscharrt Ihr ihn hier ohne kirchlichen Segen? Kommt dann seine Seele noch in den Himmel?“
„Keine Ahnung. Vielleicht springt sie gerade noch ins Fegefeuer, wenn wir ihn beerdigen. Frag doch deine barfüßigen Kapuzensäcke.“
Nein, das käme nicht infrage. Der Guardian würde ihn abstrafen, sollte er ein solch heikles Thema ansprechen. Oder gar erfahren, dass er sich mit dem gottlosen Schinder abgebe. Lieber das Thema wechseln, schoss es ihm durch den Kopf.
„Ihr seid der Helfer des Scharfrichters?“
„Eigentlich bin ich Abdecker. Normalerweise sammle ich die Luder in der Stadt ein und ziehe das Fell von den Kadavern ab. Die Gerber nehmen die Tierhäute gern, natürlich gegen bare Münze. Der Scharfrichter ist mein Meister. Wenn es ums Henken oder Köpfen geht, muss ich ihm helfen. Auch beim Foltern.“
„Ist das nicht grausam?“
„Ei, alles wird irgendwann zur Gewohnheit. Außerdem wird es gut bezahlt. Aber jetzt muss die verdammte Leiche in die Grube, bevor es regnet. Packst du mit an?“
„Ohne Sarg? Ihr wollt ihn einfach so in die Erde legen?“
„Ei, wer sollte denn den Sargmacher bezahlen? Die Stadt gibt dafür kein Geld aus.“
Zu seinem Erstaunen tastete der Abdecker das Leichentuch ab, als ob er etwas zu finden trachtete.
„Was sucht Ihr? “, fragte Felix.
„Nach dem Kopf. Der Kerl muss mit dem Gesicht nach unten im Grab liegen. Selbstmörder und Ketzer werden wie verendete Esel begraben. Man fürchtet, von ihren Visagen gingen noch teuflische Kräfte aus. Die sollen in die Erde fahren.“

5

Sie hatten das Grab zugeschaufelt und eingeebnet. Dunkle Gewitterwolken zogen auf. Eilig wollte sich der Abdecker davon machen, um noch vor dem drohenden Regen heimzukommen, als er sich noch einmal an Felix wandte:
„Junge, du hast dich nicht ungeschickt angestellt. Ei, ich könnte einen kräftigen Gehilfen gebrauchen. Hast du nicht Lust, bei mir in die Lehre zu gehen? Es soll dein Schaden nicht sein.“
Felix lachte und beschied dem Henkersknecht, er lebe drüben im Kloster. Es gehe ihm dort gut, auch wenn er die strengen Klosterregeln verabscheue. Doch als ihn der Schinder fragte, ob er sich nicht eingesperrt fühle, ob er denn den scheinheiligen Kapuzensäcken vertraue, ob er nicht das wahre Leben erfahren wolle, ob er nicht die Gängelei satt habe, brachen Zweifel auf. Plötzlich spürte Felix den Drang, das Kloster zu verlassen und die weltliche Freiheit zu genießen. Er witterte seine Chance.
„Kannst bei mir wohnen. Zu essen haben wir genug. Was brauchst du mehr? Oder vermisst du etwa die Gebetsstunde zur kalten Nacht? Man kann auch außerhalb des Klosters beten, wann immer du willst, ohne unsinnige Rituale. Also kommst du mit? Was hält dich im Bettelorden? Dir steht die Welt offen.“
Es kam ihm vor, als ob er von einem Dämon getrieben werde. Insgeheim haderte er nach dem Tod von Bruder Ludolf mit dem Klosterleben, den scheinfrommen Barfüßern und dem allzu gestrengen Guardian. Lag sein Lebenssinn in Arbeit und Gebet? Ihm schoss der Schwur durch den Kopf, den er am Grab seiner Mutter geleistet hatte. Er wollte die ganze Wahrheit über ihren Tod in Erfahrung bringen. Von den Klosterbrüdern konnte er da nichts erwarten, auch kein Verständnis für seine Rachegedanken. Die Wahrheit konnte er nur außerhalb der Klostermauern finden. Ergreif die Chance beim Schopfe, riet ihm eine teuflische, innere Stimme.
Er möge sich noch einen Moment gedulden und warten, sagte er zum Abdecker, verschwand flugs in der Ruine der Laurentiuskirche und stieg schließlich mit einem Buch in der Hand auf den Kutschbock. Der verlotterte Mann neben ihm gönnte sich einen großen Schluck aus der Branntweinflasche, als wolle er dem Toten nach der Beerdigung gedenken. Vielleicht aber auch, um die übel riechenden Ausdünstungen seiner Kleider mit einer Alkoholfahne zu überdecken.
„Wie heißt du eigentlich?“
„Felix und Ihr?“
„Man nennt mich den Schinderstoffel. Also sag Stoffel zu mir und ‚du’, schließlich sind wir jetzt Kameraden.“
Gemächlich zogen sie die Barfüßerstraße hinunter. Felix warf noch einen letzten, kurzen Blick auf das Kloster und die Sankt Sebastianskirche. Ob man nach ihm suchen würde? Egal. Wie mit Scheuklappen blickte er die Barfüßer- und Salzgasse hinunter. Der Schinderstoffel lenkte sein Fuhrwerk mit dem klapprigen Gaul entlang der Fahrgasse auf die Lahnbrücke. Am Brückentor winkten ihnen die Wachen zu und ließen sie ohne Fragen und ohne das übliche Wegegeld von zwei Weißpfennigen passieren. Sie folgten der Landstraße bis zum Creucher Tor am Ortsausgang der Koblenzer Vorstadt in Richtung Offheim. Kurz bevor sie die letzten armseligen Häuser passierten, wies Felix fragend auf ein Strohbündel, das an einem Haus herabhing.
„Da siecht ein Kranker dahin. Pestilenz. Siehst du das Pestloch in der Tür?“, fragte Stoffel. „Durch das schieben mitleidige Nachbarn auf einem langen Brett Brot hinein. Nur keinen Kontakt mit dem Aussätzigen! Die Offheimer bauen aus Angst gerade eine Pestkapelle. Der Heilige Rochus soll sie beschützen. Ei, ob es hilft? Andere meinen, die Pest sei ein Werk des Teufels, daher müsse man sich gut mit dem Satan stellen. Aber die enden dann bäuchlings am Armesünderfriedhof.“
Sie bogen in einen unbefestigten, matschigen Weg ab, der gerade die Breite ihres Fuhrwerks maß, und steuerten eine einsam gelegene, kleine Hofreite an, eine heruntergekommene, windschiefe Bauernkate, die den Eindruck erweckte, als würde sie jeden Moment lautlos in sich zusammenfallen.
„Das ist meine Bleibe. Recht einfach, aber du wirst dich bei mir wohlfühlen.“
Schwere Gewitterwolken verdunkelten den Himmel. Geschwind spannten sie den Gaul aus, führten ihn in den Stall und gaben ihm Hafer.
„Übrigens, neben dem Stall findest du das Scheißhaus. Dahinter ist die Puddelgrube. Da schütten wir den Abtritt hinein, den wir in der Früh in Lympurg einsammeln werden.“
„Was sind das für schwere Eisen an der Hauswand?“
„Ei, Wolfsfallen. Manchmal werden sie von den Bauern verlangt, wenn die Wölfe ihr Vieh gerissen haben. Viele besprengen ihre Tiere mit Weihwasser, um die Wölfe fernzuhalten. Aber das scheint nicht immer zu helfen. Zudem wird das Taufwasser jetzt in den Kirchen weggeschlossen … hast du Hunger?“
Felix hatte Hunger. Im Kloster war die Vesper bereits gebetet. Die Ordensbrüder hatten sich wohl schon im Refektorium zum Abendessen versammelt. Ob man sich um ihn sorgte? Bruder Ansgar tat ihm leid. Sicherlich würde ihn der Guardian tadeln, wenn er seine Obhutspflicht nicht mit der erforderlichen Sorgfalt wahrgenommen hatte.
Felix sah sich im einzigen, tristen, schummrigen Raum der Kate um. Ein klobiger Holztisch, davor eine grob zusammengezimmerte Bank, ein ausgedienter Küchenschrank und eine Feuerstelle, das war es schon. In der Ecke ein Strohsack. An das winzige, mit Tierhaut bespannte Fensterloch prasselte der Regen. Auf dem kalten Herd stapelten sich eine verrußte Pfanne, ein klebriger Topf und Tonschalen mit vergammelten Essensresten. Da lobte er doch die penible Sauberkeit seiner gewohnten Klosterküche. Mit Reinlichkeit hatte der Schinderstoffel wahrhaft nichts im Sinn. Die Stube strotzte vor Dreck, Unflat, heilloser Unordnung und einem muffigen Gestank nach Rauch, Schweiß, stinkenden Hemden und Branntwein. Aber das schien nur ihn zu stören.
„Nun glotz nicht so. Horch emol, wenn dir mein Saustall nicht passt, dann räum eben auf und mach hier sauber“, grunzte Stoffel mürrisch. Der Tonfall gefiel Felix nicht, aber er fügte sich und säbelte eine dicke Ranke Brot ab.
„Greif ruhig bei der Schwarzwurst zu. Eigene Schlachtung, luftgetrocknet. Übrigens, das Bierfass steht dort drüben am Fenster, bedien dich.“
Im Kloster hatte man ihm Bier verboten. Das sei nur etwas für gestandene Männer. Sofort sprang Felix auf. Ab sofort wollte er auch zu den gestandenen Männern gehören. Schinderstoffel quittierte es mit einem breiten Grinsen. Unschlüssig saß der Junge vor seinem Holzbrett und wartete.
„Fang an, oder willst du vorher beten? Mach nur, aber verlange es nicht von mir.“
Felix bekreuzigte sich und sprach in Gedanken ein Tischgebet, wie er es gewohnt war.
Nach wenigen Tagen sollte es ihm nicht mehr so wichtig sein …

6

Das stark gewürzte Dünnbier schmeckte ihm nicht. Inzwischen nahm der Schinderstoffel einen gehörigen Schluck aus einer Branntweinflasche. Felix lehnte dankbar ab, das wäre doch zu viel für den Anfang. Blitze erhellten den einzigen Raum der Kate. Felix schwitzte in seiner Kinderkutte.
„Zieh das verdammte Mönchskostüm aus. Das bringt dich noch um.“ Stoffel reichte ihm ein zerknittertes Hemd und eine verschlissene Hose.
„Kann ich mir die Hosenbeine abschneiden?“
„Ei, mach doch, was du willst. Übrigens kannst du dort drüben unter dem Fenster deinen Strohsack hinlegen. Warte, ich hole ihn aus der Scheuer.“
Während Felix geschickt die Hosenbeine kürzte und in den zu weiten Hosenbund seine Kordel einzog, kam Stoffel mit einem klammen Strohsack zurück. Dann setzten sie sich an den Tisch. Schinderstoffel prostete ihm zu:
„So, hiermit ernenne ich dich zu meinem Gehilfen.“
Felix empfand eine stille Freude. Er war dem Kloster entwischt, hatte einen Kameraden, der sich um ihn sorgte, und eine neue Aufgabe. Innerhalb von wenigen Stunden hatte sich sein behütetes Leben drastisch verändert. Kam er vom Regen in die Traufe? Er wischte den Gedanken aus dem Kopf. Nicht ohne Grund hatte er sich entschieden, das strenge Klosterleben gegen eine neue Aufgabe einzutauschen, auch wenn diese als anrüchig galt. Ob er auch beim Richten eines armen Sünders helfen würde?
„Hast du schon einmal mit dem Henker eine Hexe geköpft?“
„Bei uns in Lympurg? Nein. Hexen werden nicht geköpft, sie werden verbrannt.“
„Bei lebendigem Leib?“
„Ja, bei schweren Vergehen. Nur wenn der Kurfürst gnädig gestimmt ist, wird die Hexe vorher erdrosselt. Oder wir verwenden für den Scheiterhaufen frisches Holz, das qualmt, und die Hexe erstickt im Rauch, bevor die Flammen am Leib hochkriechen.“
„Standen in Lympurg auch Hexen vor Gericht?“
„Sicher. Ich erinnere mich an eine Frau, die der Hexerei angeklagt war.“
„Ehrlich? Eine Hexe bei uns in Lympurg?“
„Genau. Dabei sah sie gar nicht aus wie eine Zaunreiterin. Sie war die Frau eines Fischmergers. Das muss wohl vor zehn Jahren gewesen sein.“
„Echt? Warst du dabei?“
„Ja. Damals war ich noch Gehilfe des Wasenmeisters Gustav, so wie du jetzt. Der Schultheiß Opper hatte die Folter befohlen. Gustav konnte oder wollte an dem Tag nicht dabei sein. So habe ich ihr die Foltergeräte gezeigt. Die Hexe sollte gestehen. Dabei wusste jeder, dass sie niemals eine Hexe war.“
„Hat sie denn gestanden?“
„Nein, die hat alles abgestritten.“
„Und dann ist sie freigekommen?“
„Nein, nein. Der Scharfrichter Nagel ist bei der peinlichen Befragung nicht gerade zimperlich mit ihr umgegangen. Sie lag nackt auf der Streckbank. Ich sage dir, das war eine schöne Frau, jung, volle Brüste und gertenschlank. Der geile Bock hat sie nach Hexenmalen untersucht. Aber die Tortur war wohl zu schmerzhaft. Plötzlich verdrehte sie ihre schönen Augen und war dahin. Schade eigentlich.“
„Dann hat sie der Scharfrichter zu Tode gequält?“
„Das hat der Schultheiß Opper ihm auch vorgeworfen.“
„Und hat er ihn bestraft?“
„Dazu ist es nicht mehr gekommen. Da gab es später noch eine andere Folter an einem Angeklagten. Und der hat dem Scharfrichter Nagel während der Befragung das Genick gebrochen. Es sah ganz nach Rache aus.“
Die erste Nacht in neuer Umgebung bescherte dem Felix wirre Hexenträume und einen zerstochenen Körper. In der Morgendämmerung wachte er durch einen Lärm auf und sah von der Tür aus dem Schinder zu. Er hatte bereits das Pferd angespannt.
„Ei, ich muss in der Stadt meine Runde drehen, die Abortkübel leeren, die verendeten Hunde und Katzen einsammeln und den Pferdekot vom Pflaster kratzen. Du kannst heute noch hier bleiben. Sieh dich bei mir um und füttere die Hühner.“
Zunächst suchte Felix den Brunnen. Er fand ihn neben der Scheuer. Sein Blick fiel auf einen kleinen Kräutergarten und er entdeckte zu seiner Freude auch Thymian und Lavendel. Damit ließen sich die Plagegeister in seinem Strohsack vertreiben. Als er an den Wolfsfallen vorbeiging, reizte es ihn, den Mechanismus zu prüfen. Mit letzter Kraft spannte er die starke Feder, nahm einen langen Stock und ließ die Falle zuschnappen. Bei solch gewaltiger Kraft hatte wahrlich kein Wolf eine Chance. Dann machte er sich an die Arbeit. Die stickige Luft im Haus war unerträglich. Er riss die Tür auf, die schief in den Angeln hing, und schaute in die Landschaft. Über den Dächern von Creuch zog bereits die Sonne auf. Es würde ein warmer Tag werden.