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Claudia Herdt
Endstation
Südseite
Ein Frankfurt-Krimi
2. Auflage 2008
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2007 Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH
Satz: Nicole Proba, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Katja Holst, Frankfurt
E-Book: SEUME Publishing Services GmbH, Erfurt
ISBN 978-3-95542-131-1
Für meine Mutter, die mir das Lesen,
und meinen Vater, der mir das Schreiben beibrachte.
Im Gutleut leben die „guten Leute“ aus Tradition – so nannte man die Leprakranken, die seit 1267 im Hof der guten Leute, dem Aussätzigenspital der Stadt Frankfurt, untergebracht wurden. Später diente der Hof am Mainufer wohltätigen und gemeinnützigen Zwecken, unter anderem aber auch als Gefängnis. Am Bittersdorfer Platz, also mitten im heutigen Bahnhofsviertel, stand bis 1806 der Galgen. Soviel zu den Schattenseiten der Südseite des Hauptbahnhofs.
Andererseits wird man auf einem Rundgang durchs Gutleut feststellen, dass dieser Stadtteil einer der ruhigsten Frankfurts ist. Dass die meisten Leute hier freundlich, offen, tolerant und hilfsbereit sind – und dass man in einigen Läden wie in alten Zeiten sogar anschreiben lassen kann. Man versteht, dass der höchst mittelmäßige Ruf des Gutleut von der Nähe des Rotlichtbezirks kommt – und ist der Ruf erst ruiniert, bleiben die Mieten niedrig und die Spekulanten weg. Vergangenheit!
In der Zeit des Umbruchs, während des großen Bauprojekts Westhafen und der WM 2006, platzt der Privatdetektiv Jens Hardenberg ins Gutleut. Ein Kleinstadtflüchtling, ein Träumer, der endlich etwas erleben, beziehungsweise sein Leben leben will …
Claudia Herdt, Frankfurt-Gutleut, den 30. August 2007

1.

Sie war fast jung und sehr schön. Sie sah interessant aus, wie so viele Frauen in Frankfurt. Man würde wissen wollen, was sie beruflich macht, wie sie wohnt, ob sie Kinder hat oder nicht, ledig, geschieden, unglücklich verheiratet – welche Unterwäsche sie trägt, und man würde gern einmal mit ihr ins Bett gehen wollen. Weil man furchtbar gern wissen wollte, wie sie ist, wenn sie kommt. Wenn sie kommt.
Bestimmt ging sie in ein Fitness-Studio. Bestimmt hatte sie einen guten Friseur. Das merkte man daran, dass man es nicht sah. Sie wirkte natürlich, ungeschminkt, untrainiert und unfrisiert. Aber wenn man ein paar Frauen in seinem Leben gekannt hat, weiß man, wie viel Arbeit gerade hinter einer solchen Erscheinung steckt. Unternehmensberatung? Finanzdienstleistung? Public Relations?
Mit ihren hellen großen Augen wirkte sie hilflos. Sie stand einfach so da, am frühen Morgen schon auf dem Fahrradweg, vom Leben ausgeknockt. Was für ein Tag! Sie war fast jung, wunderschön, und sie hatte ein Problem: die Kette, schätzte ich, oder ein Platten. Ich lenkte meinen Wagen geschickt, nein elegant, aus dem üblichen Stau auf der Eschersheimer Landstraße auf den Bürgersteig. Verboten? Hier hat die Polizei Besseres zu tun. Außerdem leistete ich Hilfe in einem Notfall. Dafür, dass dieser so attraktiv war, konnte ich ja nichts.
Im Rückspiegel sah ich ihren erwartungsvollen Blick. Ich schwang mich heraus, warf schwungvoll die Fahrertür zu, weil ich mit schwer schließenden Autotüren groß geworden bin – „Kinder, sind die Türen auch richtig zu?“ – und mich immer noch nicht an die neue sanfte, leise Auto-Generation gewöhnt hatte. Mit Zentralverriegelung und solchen Dingen, da fehlt mir das Urvertrauen.
„Kann ich helfen?“, rief ich, während ich auf sie zuging, die Linke in der Hosentasche, die Rechte ohne Zigarette, flott, das war mein Eindruck von mir selbst, sympathisch und offen, männlich lächelnd, ohne sexistisch zu sein. Sie seufzte, nein stöhnte (stöhnte!), und sagte: „Ich weiß nicht.“
Ich beugte mich zu den Tiefen ihres Fahrrads hinab. Es lag auf dem Boden.
Na ja, wirklich kein Markenfahrrad, drei Gänge, Korb am Lenker, typisch Frau. „Es hat keinen Ständer.“ (Wow!) Aus der Nähe betrachtet war sie immer noch fast jung, Pfirsichhaut, so um die 30 oder um die 40, und sie sah sehr nach Bank aus. Dunkles Twinset, grauer Rock, tolle Beine, langes dunkelblondes Haar, und ich hatte sie in einer der inkompetenten Situationen in ihrem Leben erwischt. Sie war dem Heulen nah. Mehr so der Moment für eine starke Schulter, für einen Mann, der weiß, wie man Schrauben festdreht, Reifen aufpumpt, die Dinge in Ordnung bringt. Ich hockte mich hin und schaute zu ihr hoch: „Schaunwirmal“, sagte ich.
„Ich habe überhaupt keine Zeit!“, sagte sie und hob ihre große schwarze Handtasche schnell aus dem Fahrradkorb. Eine Lady. Obwohl ihr ein Knopf an der Strickjacke fehlte. „Ich lasse mich heute scheiden!“, sagte sie, irgendwie verwirrt. Wahrscheinlich wollte sie es dringend machen.
Die Lady hatte einen Platten. Da meldete sich mein innerer Schweinehund, ich sagte: „Da kann ich jetzt nichts machen.“
„Ach du meine Güte, ich muss in zwanzig Minuten bei Gericht sein.“ Sie sah mich groß an, und dann in Richtung Wagen.
Ich hatte komplett vergessen, dass ich nicht, wie sonst, auch mit dem Fahrrad, sondern mit dem Auto unterwegs war. Es gehörte mir natürlich nicht. Das war der Saab von meinem Freund Uwe. Groß, geräumig, viel zu viel Spritverbrauch. „Ich muss in zwanzig Minuten am Bahnhof sein“, knurrte ich und fand sie gar nicht mehr so attraktiv. Frauen machen Ärger. Die hier machte Ärger, und nachher, am Bahnhof, würde Leila Ärger machen. Leila, die ich abholen und bei der ich Auto fahrend Eindruck schinden wollte. Leila, für die ich Arabisch lernte. Leila, die ich vielleicht heiraten wollte. Vielleicht! Leila, der ich gerade in Gedanken untreu geworden war. Aber jetzt wusste ich wieder, wohin ich gehörte. Nur kam ich hier auch nicht raus. „Legen wir los!“, befahl ich und hob das Fahrrad hoch. „Steigen Sie schon mal vorne ein!“
Sie hieß Christine und ließ sich wirklich gleich scheiden. Ich fuhr wie gesengt die Eschersheimer Landstraße hinab Richtung Innenstadt. Richtung Familiengericht. Das kannte ich schon, aber nicht privat. Beruflich, weil ich Privatdetektiv bin. „Was machen Sie denn so beruflich?“, fragte Christine. „Wenn ich fragen darf?“
„Ich bin Privatdetektiv.“ Sagte ich schlecht gelaunt. Ich kam mir immer dämlich, albern und verträumt vor, wenn ich das zugab. Andererseits musste ich mir ja einen Namen machen. Immerhin war ich erst seit 2 Monaten selbstständig –nachdem Mr. Gungulu mich gefeuert hatte. Genauer: Gungulu Private Observation, meistens jedoch Private Body Guards und meistens gut aussehende afrikanische Jungs. Mich hatte er für die „weißen“ Fälle eingestellt, aber die gab es nicht oft genug für eine dauerhafte Festanstellung. Wir schieden in Frieden, logisch, Mr. Gungulu und seine Jungs sind sehr sympathisch und sehr treu, und für die Fälle, für die er mich brauchte, würde er mich frei beschäftigen. Versprochen! Das erzählte ich Christine aber nicht.
Aber ich gab ihr meine Visitenkarte. Potenzielle Kundin. Frau, hin und wieder am Rande des Nervenzusammenbruchs.
Sie hauchte nur: „Wie interessant!“ Ab dem Eschenheimer Tor rauchte sie und erging sich in Andeutungen über den abgrundtief schlechten und verlogenen Charakter ihres Ex-Mannes. Ich fühlte mich angemacht. Noch 11 Minuten und noch ein paar Ecken. Vorm Familiengericht ließ ich sie raus, noch 6 Minuten bis zum Hauptbahnhof, das würde ich nie schaffen. Christine deutete Richtung Kofferraum: „Behalten Sie’s. Oder schmeißen Sie es weg. Vielen Dank noch mal …“ Sie war schon außer Atem, bevor sie losgelaufen war. Hübsche Figur, irgendwie.
„Nett, Sie kennengelernt zu haben!“, rief ich ihr hinterher. Hätte ich gewusst, was alles noch auf mich zukommen würde, hätte ich das nicht so überzeugend über die Lippen gebracht …

2.

Ich ging noch mal mein Alibi durch: Uwe gab mir den Wagen zu spät, er war noch mal Zeitung holen gegangen, obwohl ich schon da war. Nicht meine Schuld. Voller Kofferraum, Damenfahrrad – auch seine Schuld. Nicht meine. Keine Ahnung, was da lief. Klang gut. Die Kippen im Auto-Aschenbecher – auch Uwe. Lippenstift am Filter – Uwe war nicht schwul. Die Packung Damenzigaretten, die die Lady rauchte, hatte sie liegenlassen. Ich beschloss, mich an ihnen zu vergreifen. Stellvertretend. Als ich den Deckel öffnete, fiel mir ein goldenes Feuerzeug entgegen. Und ein Beutel mit weißem Pulver. Und das kurz vorm Frankfurter Hauptbahnhof. Ich zündete eine Kippe an, packte den Beutel wieder in die Zigarettenschachtel und steckte alles in die Kunstleder-Seitentasche des Saab. Dachte nicht nach.
Vier Minuten zu spät bog ich zur Nordseite ein, wo die Kurzzeit-Parkplätze sind. Schnappte mir einen, fummelte debil mit der Funkverriegelung herum und sprang elegant und viel beschäftigt durch die McDonalds-Filiale in die Bahnhofshalle. Vorbei an einigen Leuten, die scharf auf weißes Pulver sind. Gleis 3, natürlich am anderen Ende. Zeit ist Geld, Zeit ist Geld – ich drängelte und schlängelte mich so durch – als wäre es mein Leben – und erwischte Leila gerade noch. Sie war schon in Richtung U-Bahn unterwegs. Araberinnen warten nicht. Ich sollte vielleicht sagen: Moderne Araberinnen. Moderne Musliminnen. Darauf legt Leila größten Wert.
„Leila, Habibi, Salamaleikum!“, hechelte ich. „Uwe war zu spät …“ Es hörte sich nicht gut an, irgendwie verlogen. Andererseits: Die Ereignisse sind oft erschreckend banal. Die langweiligsten Dinge passieren pausenlos. Leila schaute streng. Darin war sie die Weltbeste.
„Ja? Und ich soll hier warten, warten, warten. Da kann ich gleich U-Bahn fahren, das geht schneller. Wieso Uwe?“
„Ich habe mir extra seinen Wagen geliehen, mein Liebling. Geben Sie mir Ihr Gepäck. Ich bin Ihr Chauffeur. Selbstverständlich können wir auch mit der U-Bahn fahren. Wie Sie wünschen.“ Geschafft. Überraschungstaktik. Umgedreht – Kapitel 17, „Wie stärke ich meine Situation?“ in „Der Privatdetektiv“ von Holger Müller, München, 1954, nur noch antiquarisch erhältlich. Mein Exemplar verkaufe ich nicht. Alles über meinen Beruf, der kein Lehrberuf ist, habe ich aus diesem Schinken. Und von meinem Aikido-Trainer. Und von Mr. Gungulu.
Einer von diesen kleinen Bahnhofstransportern kam frontal auf uns zu. Wir trollten uns. Ich mit Leilas Koffer und sie mit Handtasche und Rucksack. Modern eben, emanzipiert und trotzdem damenhaft. Ihre langen schwarzen Haare hatte sie zu einem wunderschönen, glänzenden Zopf geflochten. Sie hatte braune Haut, braune Augen und dunkelrot lackierte Fußnägel. Ihr Gesicht war klein, mit einer zierlichen angedeuteten Hakennase und einem formvollendeten Mund. Sie schaute mutig und offenen Auges in die Welt, sie war die klügste Frau, die ich kannte. Und die Schönste. Ich vergaß Christine auf der Stelle und trug Leila den Koffer hinterher. „Nordseite!“, dirigierte ich, und Leila schritt vor mir mit einem ganz leichten, sportlichen, gut gepolsterten Hüftschwung.
„Zu Ihnen oder zu mir?“, fragte ich sie, als wir im Wagen saßen, das Gepäck auf den Rücksitzen, wegen des Fahrrads im Kofferraum. Ein guter Detektiv denkt vor, nicht nach. Plötzlich klopfte es ans Fahrerfenster, und ein zerfurchtes Drogengesicht, ganz Skelett und ohne Geschlecht, rief: „Hast du Steine?“ Leila war schreck-erstarrt. Ich schüttelte wild den Kopf und beschäftigte mich mit Zündung, Gangschaltung, Gaspedal. Rückwärts. Das passiert einem hier öfter, vor allem, wenn man mit dunklen schicken Autos unterwegs ist. Aber wenn man das nicht will und so ganz schrecklich unangenehm findet, wenn man „solche Leute“ noch nicht mal von weitem erträgt, dann wirkt ein Aufenthalt im Stuttgarter Hauptbahnhof Wunder. Fahren Sie da mal hin. Sie werden froh sein, wenn Sie wieder hier sind.
Mir fiel wieder der Beutel mit dem Pulver ein, in der Zigarettenschachtel, in der Seitentasche der Tür. Im Hinterkopf behalten, notierte ich mir. Jetzt nicht. Leila wollte nach Hause. Als moderne, aufgeschlossene Muslimin wohnt sie getrennt von ihrem Freund. Das hat den Vorteil, dass die Wohnung in einem, sagen wir mal, eher femininen Zustand ist. Nicht ganz so verdreckt, der Kühlschrank nicht ganz so öde und erst das Bad … Getrennt wohnen hat natürlich sicher noch viele andere Vorteile.
Sie war müde, sie kam aus Paris, dort hatte sie a) Verwandtschaft, b) konnte man dort viel besser einkaufen, vor allem c) Bücher und Schreibwaren und d) wohnte dort ihre Schulfreundin Ewa, Gott sei Dank auf dem selben Kontinent, nur 6 Bahnstunden entfernt. Für Libanesinnen sind das keine Entfernungen, das ist ein Klacks, wenn dein Bruder in Kanada studiert, deine Onkel und Tanten in Australien sind und deine Schwestern in Saudi Arabien oder Dubai. Paris, ein Glücksfall.
„Wegen Ewa bleibe ich hier,“ sagte Leila. „Nicht wegen dir.“ Und lächelte mich freundlich an. „Trotzdem kannst du auf einen Kaffee mit hochkommen, wenn du willst. Ich lade dich ein.“
„Du siehst nicht gerade aus, als ob du viel geschlafen hättest“, bemerkte ich, misstrauisch, weil sie mich nie fragte, ob ich mitfahren wolle, nach Paris. Na ja, Frauengespräche, dachte ich. Aber vielleicht gab es noch andere Gründe? Einen Vetter zum Heiraten? Durchtanzte Nächte oder der gute Ruf? Wusste überhaupt jemand von mir, mit dem sie nun schon seit 5 Jahren regelmäßig richtig guten Sex hatte, der ihr ein Schuhregal gebaut hatte, sie mit Verdacht auf Blinddarmentzündung in die Notaufnahme der Uni-Klinik gebracht hatte, ihr Geld geliehen, die BWL-Magisterarbeit und haufenweise Vorträge auf ihr Deutsch überprüft und ihre Hand gehalten hatte, als ihre Mutter starb, in Syrien, und sie hier war und nicht dort?
Statt mir direkt zu antworten, schaute sie direkt in meine Augen. Lange, intensiv – was wollte sie mir nur damit sagen? Was?
„Willst du mich heiraten?“, fragte sie.

3.

Auf Leilas Heiratsantrag musste ich nicht gleich antworten. Freundlicherweise ließ sie mir ein wenig Zeit zum Überlegen. Eigentlich ging es um den Aufenthalt, ein Thema, das mich mittlerweile die Wände hochgehen ließ. Sie hat Deutsch gelernt und hier studiert. Jetzt überlebt sie mit einem dieser üblichen schicken befristeten Uni-Verträge, bis sie ihren Doktor abgeschlossen hat. Und wenn sie keinen neuen Vertrag an Land zieht, dann heißt es Abschied nehmen, zumindest wird es dann schwierig – und sie hat Angst. Und wie soll sie so ihren Doktor machen, bei dieser Gelegenheit werden doch sowieso alle verrückt … Natürlich ging es auch nicht um den Aufenthalt, es ging auch um uns, um die Zukunft, die Sicherheit, um alles. Sie sagte, sie sei modern, aber durchaus Muslimin, und irgendwann müsse man sich mal entscheiden, wie ernst die Sache sei. Wahrscheinlich ist das der Inhalt der Gespräche mit Ewa. Würde Zeit, dass ich die Dame mal kennenlerne.
Ich ließ Leila schlafen und fuhr Uwes Schlitten von Eschersheim nach Bornheim. Nicht ohne Christines Zigarettenschachtel an mich zu nehmen, die mir im rechten Moment wieder einfiel. Ich liebe mein Gedächtnis. Nach fast 50 Minuten Parkplatzsuche – Bornheim ist ein ganz übles, parkfeindliches Pflaster – schmiss ich Uwe den Autoschlüssel in den Briefkasten und trat die Heimreise mit der Straßenbahn an. Es gibt nichts Schöneres, als in einem hellen Wagen zu sitzen, während es draußen schon dunkelt und sich mit Getöse und Geknatter langsam mit vielen Pausen ruckelnd und zuckelnd Richtung Zuhause zu bewegen. Hier in der 12 war mal wieder die ganze Welt versammelt: ein älteres türkisches Ehepaar, sie mit Tuch, er mit Häkelmütze, mehrere laute Girls, die alle gebrochenes Deutsch redeten – aber nicht alle aus dem Ausland kamen, die eine hatte sogar einen thüringischen Akzent. Natürlich auch ein paar junge Herren, in Jogginghose, aber nicht verschwitzt, sondern frisch geduscht – Ostblock! – zwei müde Afrikaner, eine Roma (Sinti?) mit zwei kleinen Kindern, eine japanische Touristin und eine indische Nonne, vier ältere Frankfurter Herren mit sehr kurzen Haaren und zwei Damen, drei ältere Frankfurter Herren mit langhaarigem Restbestand und Halbglatze, einer mit Bart, ein arabisch gekleideter Mann, der nicht ganz so gut aussah wie Osama Bin Laden, und ein junger, national gesinnter Mann, der dies allerdings für sich behielt. Ab Konstablerwache wurde es dann noch internationaler, zusätzlich ein paar Junkies und Alks. Münchner Straße stieg ich aus, nein fast aus, mir fiel die Zigarettenschachtel wieder ein – ich liebe mein Gedächtnis! – und fuhr weiter bis Baseler Platz, wo man nicht alle drei Meter um den Inhalt der Schachtel angehauen wurde. Ich hatte auch keine Lust, von irgendeinem neunmalklugen Jungpolizisten für verdächtig gehalten zu werden.
Mein Handy klingelte: „Hallo, hier ist Uwe, wo ist der Wagen?“ Ich erklärte ihm, wo ich den Saab geparkt hatte. Er wollte noch ein bisschen Nachtleben. „Ich ruf gleich noch mal zurück.“ Ich musste die Schachtel in Sicherheit bringen, beziehungsweise mir überlegen, was ich mit ihr tun würde. Und ich war sehr denkfaul. Weil mir nichts einfiel, dachte ich, ich nehme sie einfach mit nach Hause und verstecke sie erstmal im Hof. Eigentlich hätte ich sie auch gleich vernichten können. Es war – egal was … es war wahrscheinlich purer Dreck. Aber er gehörte mir nicht – was im Moment keiner wusste. Das verunsicherte meine Schritte auf der Gutleutstraße, an einem der am besten besetzten Polizeireviere Frankfurts und am Finanzamt vorbei und in die Hafenstraße rein, wo letzte Woche eine Heroinleiche gelegen hatte. Direkt auf die Vorhölle zu, „Schönplatz“ hieß sie, ein Kinderspielplatz, umflankt von einem Jugendclub, einem Männerwohnheim und einem boomenden Kiosk. Hier gab es natürlich positive Synergie-Effekte. Wie immer ging es hoch her. Ich wandte meinen Blick ab. Klagende Frauenstimmen, Männer, die wussten, wo es lang ging, verlaustes Lachen, immer ein paar kleine Jungs mit schwarzen Haaren auf den Schaukeln des beleuchteten Spielplatzes, Türk-Pop aus einem der vor dem Jugendclub parkenden Autos, Jogginghosen, gegelte Tollen. Dire Straits aus einem der offenen Fenster des Männerwohnheims und ein Besoffener, der wie wild suchend über den Platz lief und seine Tüte suchte: „Ihr Arschlöcher. Was habt ihr mit meiner Tüte gemacht?“ Er schimpfte. „Wo ist meine Tüte?“ Er weinte. „Habt ihr meine Tüte gesehen?“ Tja, in dieser Tüte war wohl alles, was ihm gehörte. Ein Tag im Männerwohnheim, und das bisschen, was du hast, ist auch noch weg. Schrilles undamenhaftes Gelächter flammte auf und erlosch gleich wieder, als ich meine Haustür aufschloss und nachher gleich wieder zweimal zuschloss. Ich überlasse nichts dem Zufall.
Das Handy klingelte wieder: „Ja, noch mal Uwe hier.“
„Hallo, Uwe, bin gerade nach Hause gekommen. Was gibt’s?“
Uwe druckste rum. „Ich dachte, vielleicht hast du’s dir überlegt?“ Er war so hoffnungsvoll, irgendwie enttäuschte ich Uwe nicht gerne, überhaupt niemanden. Ich druckste auch herum. Sollte ich mit Uwe um die Häuser ziehen oder nicht?
Das Flurlicht ging aus, ich tappte ein wenig durchs Dunkle und drückte auf den roten Knopf. Es ging wieder an. „Weißt du, was ich gefunden habe?“, fragte er mich.
„Nee. Geld?“, fragte ich platt und witzlos zurück.
„Nee. Ein Damenfahrrad. Mit Platten. In meinem Saab.“ Ein Verdacht schwang mit. Sogar ein leichter Vorwurf – Uwe mochte Leila sehr. Mein Gedächtnis, da war es wieder! Shit, an alles hatte ich gedacht, also an das eine, nämlich die Zigarettenschachtel. Das ganz große andere in Uwes Wagen, das Fahrrad, hatte ich ausgeblendet.
„Tja, das ist eine lange Geschichte, aber ganz einfach …“
„Und das soll ich mir jetzt stundenlang am Telefon anhören? So genau will ich es gar nicht wissen“, maulte Uwe, der personalisierte dreifache Vorwurf: sein Kofferraum, Leila, das Nachtleben. „Was mach’ ich jetzt damit? Meine Jacke schmutzig?“ Freunde können so anstrengend sein.
Das Flurlicht ging wieder aus. Ich schaltete es wieder an. „Ach, weißt du was, Uwe? Eine Stunde schaff ich noch. Komm runter zum Main, an den Westhafen, dann kümmere ich mich ums Rad und wir trinken noch schnell was.“
Ich schloss die Tür zum Hinterhof auf und wieder zu. Im trüben Licht der Hinterhoffunzel schnüffelte ich in einer kleinen Tüte mit weißem Pulver herum: Koks, für ungefähr 500 Euro. Ich steckte den Beutel in eine angebrochene Schachtel damenhafter Zigaretten und legte diese unter die Biomülltonne, die immer leer war und deshalb nie geleert werden musste. Ich schloss die Hoftür wieder auf und ab, die Haustür auf und wieder ab, zweimal, und kam mir vor wie in New York. Gedächtnis! Keine Zufälle! Mal sehen, was die Nacht noch brachte.

4.

In der Edel-Kneipe am Westhafen war im Gegensatz zum Kiosk am Schönplatz eine eher gedämpfte Atmosphäre. Ein Hauch von snobistischer Langeweile hing über den Köpfen.
Die neue Frankfurter Supergegend ›Westhafen‹ war das krasse Gegenteil von dem, wo ich gerade herkam, obwohl nur drei Minuten entfernt. Hier hatte ein irrer Stadtplaner die Idee, Luxuswohnungen direkt neben einen der verrufensten Stadtteile zu bauen – ehrlich, nur Vorort ist schlimmer. Der Markt kommt zum Kunden, oder der Kunde zum Markt – wie man es sehen will. Um ihr Tätigkeitsfeld mussten sich die Kriminellen aus dem Gutleut und dem Bahnhof nie wieder Sorgen machen. Natürlich sollten sie mithalten können. Der Markt hatte sich enorm schnell verändert, zum Beispiel mit funktionierenden Alarmanlagen mit direktem Draht zu einem der am besten besetzten Polizeireviere der Stadt – ich war jetzt schon gespannt, wie diese Anlaufschwierigkeiten mit der Zeit behoben werden würden. Irgendwie war der Westhafen auch mein Markt, denn wer leistete sich schon einen Privatdetektiv? Heutzutage, wo ein Kurzurlaub fast genauso viel kostete und irgendwie entspannter wirkte.
Deshalb ging ich dahin. Uwe war auch schon da und trank Bier. Bier habe ich immer gehasst. Ich liebte Gin, Wodka, Whiskey und solche Hirnvernichter, bis ich merkte, dass ich nah dran war, daran zugrunde zu gehen. Bevor ich ein echter Fall für die Suchtkliniken und Beratungszentren und Ausnüchterungszellen wurde, hörte ich einfach auf. Nichts leichter als das, man mache sich einfach erfolgreich an eine Muslimin ran. Meine überlegene, über alles erhabene Bestellung lautete schlicht: „Einen Espresso, bitte.“ Und weil das so ein Nobelschuppen war, durfte der Barmann auf keinen Fall sagen, dass die Kaffeemaschine nicht geht oder schon ausgeschaltet ist und ähnliches. Er musste lächeln und „Einen kleinen Moment bitte“ flöten. Und innerlich fluchen.
In dieser Kneipe mischte ich immer mal ein paar Visitenkarten unter die ausliegenden Prospekte.
„Wem gehört das Fahrrad?“, fragte Uwe. Ich erzählte ihm die ganze Geschichte bis auf die Pointe. Uwe war schon immer sehr geduldig mit mir. Und auch nicht so unterhaltungsgeil.
„Und jetzt?“
„Nichts. Sie hat gesagt, ich soll es entsorgen.“ Ich überlegte: Und wenn sie es nicht so gemeint hat? Immerhin hatte sie meine Visitenkarte. Sie konnte anrufen, ihre Zigarettenschachtel wiederhaben wollen und bei der Gelegenheit das Fahrrad mitnehmen.
Uwe war ein gnadenlos schlechter Gesellschafter, wenn er trank. Er konnte dann so ganz humorlos auf einem langweiligen Thema verharren, stundenlang, zum Beispiel das Thema Weltmeisterschaft. Das fand ich nicht so prickelnd, weil Fußball nicht mein Ding ist. Andererseits würde man in kürzester Zeit kaum noch um das Thema drum herum kommen, schließlich war Frankfurt WM-Stadt, und man bildete sich mächtig was darauf ein.
Dann ging es um Christines Fahrrad. Uwe fand unzählige vermeintlich interessante Details, verweilte auf Nebenkriegsschauplätzen, ging in die Tiefe, schweifte ab … Aber ich war auch nicht viel besser. Ich hatte nur eines im Kopf: Das Koks. Und keine einzige Verschwörungstheorie zur Hand. Später schwiegen wir, was eigentlich immer das Beste ist, so unter Menschen. Wir schwiegen uns an, starrten durchs Fenster auf die Bootsstege, auf den Boden und in den Himmel. Dann gingen wir. Der Plan stand fest: Ich würde dieses Fahrrad mit nach Hause nehmen und im Hof lagern. Eine Weile zumindest.
Nur: Christine würde nicht anrufen und nach dem Koks fragen. Sie würde sich glücklich schätzen, dass ich nur ihren Vornamen wusste und ihr Leben lang an mir vorbeilaufen, wenn wir uns zufällig auf der Straße begegneten. Bevor ich sie bemerkte. Ich, Jens Hardenberg, Frankfurt-Detektiv (weil ohne Kfz) – Private Observationen – come and find out.
Uwe setzte mich ab. Er klagte: „Jens, ich kündige dir die Freundschaft. Ich rufe dich fünfmal am Tag an, um mit dir über deine Beziehung zu sprechen. Konstruktiv! Ich werde Leila anbieten, sich bei mir auszuheulen und ihr jede Menge Tipps geben. Und wenn es vorbei ist, erzähl ich ihr alles, was du ihr nicht erzählt hast.“ Uwe kannte mich schon länger. Ich beruhigte ihn. Und damit er ganz und gar sorglos war, erzählte ich ihm dummerweise, dass wir vielleicht sogar demnächst heiraten wollten. Das war ein Thema, auf das er flog, und es dauerte eine quälend lange halbe Stunde, bis ich endlich aus dem Wagen draußen war. Ich hob das Fahrrad aus dem Kofferraum, und er sauste ab. Beduselt am Steuer. Das hatte ich nicht bedacht in meiner grenzenlosen Egomanie. Ich hätte ihn auch zum Taxistand bringen können.
Eigentlich wollte ich nicht heiraten. Doch ich konnte nicht weiter darüber sinnieren, denn: Die Haustür war nicht abgeschlossen, sie war sogar aufgebrochen, und der Zugang zu meiner ebenerdig gelegenen, schön geschnittenen und ganz und gar pittoresken Büro- und Wohnflucht genauso.
Wie im Film. Alles war durchwühlt, Klamotten, Bücher, Aktenordner aus meiner Schulzeit, Unterlagen des Finanzamtes und der Gewerbeschein, Fernseher, Kühlschrank, das dreckige Geschirr, Computer, die Reste meiner Vormieter – die Dinge, die mich sonst nett umgaben, waren brutal aus dem Zusammenhang gerissen worden. Ich fühlte mich nackt, schutzlos, entehrt. Sollte ich meine Knarre aus dem Keller holen? Oder einfach rüber ins Männerwohnheim gehen? Ob sie dort einen Nachtportier hatten? Halt, die Zigarettenschachtel! Und ihr Inhalt!

5.

Das Koks war noch da. War es das, was die Einbrecher gesucht hatten? Ich stellte das Fahrrad zu dem anderen Müll im Hof. Ging noch mal raus: Die kleinen Jungs waren endlich im Bett, oder zumindest in der Wohnung. Der Kiosk war zu. Das Männerwohnheim hatte Nachtruhe. Zwei, drei unförmige Gestalten saßen auf dem Spielplatz herum – ob sie sprechen konnten?
Der Jugendclub war noch hellwach. Der Ordnung halber ging ich rüber und fragte die Jungs, ob sie was bemerkt hätten.
„Wieso?“ Typische Kriminellen-Gegenfrage.
„Na ja, bei mir war jemand in der Wohnung, also, ich glaub es ja auch nicht, aber vielleicht hat ja einer von euch was mitgekriegt. Aus Versehen, zum Beispiel Leute, oder Autos …“
„Ich bin eben erst hier angekommen.“ Der junge Mann, mit schwarz gegeltem Haar und eng anliegendem Tank Top, schaute mich ernsthaft an: „Iss was weg? DVD und so?“
„Sieht nicht so aus.“
Sogar seine Augenbrauen waren gegelt. „Hier hat niemand was gesehen.“
In der Zwischenzeit waren seine Freunde gekommen und umringten uns. Besorgniserregend? Nur wenn man die Jungs nicht kennt, also auch nicht vom Sehen.
„Ey, Hamed, was will der?“, rief einer, der Nächste meinte: „Will wissen, ob er hier rein darf.“
„Nein, nein, ich will nicht rein,“ sagte ich. „Bei mir ist eingebrochen worden, während der letzten zwei Stunden – ich will nur wissen, ob jemand irgendwas bemerkt hat.“ Die einen schauten auf ihre Rolex, die anderen auf ihre Taucheruhren. Sie waren irgendwie süß. „Wisst ihr,“ – das war mein Trumpf – „es lohnt sich nicht, die Bullen zu rufen. Deshalb dachte ich, ich frag euch. Iss vielleicht eine private Sache.“
„Ha, Schulden“, murmelte einer der jungen Männer mit Kräusellocken. „Ach, ich geh wieder, scheißlangweilig hier.“ Einer schlurfte in den Club, einige hinterher.
„Ich glaub, ich hab einen Wagen gesehen“, sagte ein langes Elend. „Hat sich auf Straße gestellt. Einfach so. Ich kam mit dem Bike kaum vorbei.“
„Wann?“, fragte ich.
„Keine Ahnung, vor einer Stunde?“
„Was hast du noch gesehen?“
„Keine Ahnung.“
„Keine Menschen?“
„Keine Ahnung, hab nicht geguckt.“
„Was für ein Wagen?“
„Ein Jaguar.“ Das lange Elend schaute plötzlich nicht mehr ausdruckslos, sondern selig, entrückt.
„Jaguar? Sicher?“
„Hundertpro, Alter, ein Jaguar.“
Ich schaute ihn scharf an. „Ein Jaguar, und du bist einfach vorbei? Das kann ich nicht glauben!“
„Ja, Mann, was hast du? Mehr hab ich nicht gesehen, Alter. Was willst du?“ Er schlurfte in die schwarze Höhle des Jugendclubs, aus dem mir stumpfsinniger Techno entgegendonnerte.
Ich schaute mich um: Außer der Gel-Reklame gingen alle auf Abstand. Er sah mich neugierig an. „Holst jetzt die Polizei, gell? Aber ist nichts geklaut, oder?“
Ich schüttelte den Kopf. „Nee, die Polizei brauch ich jetzt nicht.“
„Bist du Privatdetektiv? Steht an deiner Klingel. Find ich geil.“
„Genau“, murmelte ich. „Ich versuch’s einfach selbst, das ist besser als die Polizei.“ Irgendwie war der Jugendclub lustig, man hätte ihn auch „Jungenclub“ nennen können. Wahrscheinlich ein sehr muslimischer Jugendclub. Ich wollte gehen, drehte mich noch mal um, denn ich wollte wissen, was er an meiner Haustür machte – nur Klingelschilder lesen?