2Das Buch unternimmt erstmals den Versuch, die sich potenzierende Dynamisierung gesellschaftlicher Verhältnisse, wie sie in der jüngsten politischen und digitalen Beschleunigungswelle etwa unter dem Stichwort ›Globalisierung‹ firmiert, systematisch zu erfassen und sie in ihren kulturellen und strukturellen Ursachen ebenso wie in ihren Auswirkungen auf die individuelle und kollektive Lebensführung zu analysieren. Der Autor entwickelt dabei die These, dass die zunächst befreiende und befähigende Wirkung der modernen sozialen Beschleunigung, die mit den technischen Geschwindigkeitssteigerungen des Transports, der Kommunikation oder der Produktion zusammenhängt, in der Spätmoderne in ihr Gegenteil umzuschlagen droht. Individuell wie kollektiv verändert sich die Erfahrung von Zeit und Geschichte: An die Stelle einer gerichteten Vorwärtsbewegung tritt die Wahrnehmung einer gleichsam bewegungslosen und in sich erstarrten Steigerungsspirale.

Hartmut Rosa, geboren 1965, ist Professor für allgemeine und theoretische Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und regelmäßiger Gastprofessor am Department of Sociology an der New School University in New York.

3Hartmut Rosa

Beschleunigung

Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne

Suhrkamp

5Inhalt

Anstelle eines Vorworts

I.  Einleitung

1. Zeitstrukturen in der Gesellschaft

2. Zwei Zeit-Diagnosen der Gegenwart

3. Vorüberlegungen zu einer Theorie der sozialen Beschleunigung

Teil 1:
Das kategoriale Grundgerüst einer systematischen Theorie der sozialen Beschleunigung

II.  Von der Liebe zur Bewegung zum Gesetz der Beschleunigung: Beobachtungen der Moderne

1. Beschleunigung und die Kultur der Moderne

2. Modernisierung, Beschleunigung und Gesellschaftstheorie

III.  Was ist soziale Beschleunigung?

1. Vorüberlegung: Beschleunigung und Steigerung

2. Drei Dimensionen sozialer Beschleunigung

3. Fünf Kategorien der Beharrung

4. Zum Verhältnis von Bewegung und Beharrung in der Moderne

Teil 2:
Wirkungsweisen und Erscheinungsformen: Eine Phänomenologie der sozialen Beschleunigung

IV.  Technische Beschleunigung und die Revolutionierung des Raum-Zeit-Regimes

V.  Rutschende Abhänge: Die Beschleunigung des sozialen Wandels und die Zunahme der Kontingenzen

VI.  Die Beschleunigung des »Tempos des Lebens« und die Paradoxien der Zeiterfahrung

1. Objektive Parameter: Die Steigerung der Handlungsgeschwindigkeit

2. Subjektive Parameter: Zeitdruck und die Erfahrung der rasenden Zeit

3. Temporalstrukturen und Selbstverhältnisse

Teil 3:
Ursachen

VII.  Soziale Beschleunigung als selbstantreibender Prozess: Der Akzelerationszirkel

VIII.  Beschleunigung und Wachstum: Externe Triebkräfte sozialer Beschleunigung

1. Zeit ist Geld: Der ökonomische Motor

2. Die Verheißung der Beschleunigung: Der kulturelle Motor

3. Die Temporalisierung von Komplexität: Der sozialstrukturelle Motor

IX.  Macht, Krieg und Geschwindigkeit – Staat und Militär als institutionelle Schlüssel-Akzeleratoren

Teil 4:
Konsequenzen

X.  Beschleunigung, Globalisierung, Postmoderne

XI.  Situative Identität: Von Driftern und Spielern

1. Die Dynamisierung des Selbst in der Neuzeit

2. Von der substanziellen Identität a priori zur stabilen Identität a posteriori: Die Verzeitlichung des Lebens

3. Von der zeitstabilen zur situativen Identität: Die Verzeitlichung der Zeit

XII.  Situative Politik: Paradoxe Zeithorizonte zwischen Desynchronisation und Desintegration

1. Zeit in der Politik – Politik in der Zeit

2. Die Verzeitlichung der Geschichte in der Moderne

3. Paradoxe Zeithorizonte: Die Entzeitlichung der Geschichte in der Spätmoderne

XIII.  Beschleunigung und Erstarrung: Versuch einer Neubestimmung der Moderne

XIV.  Schlusswort: Rasender Stillstand? Das Ende der Geschichte

Abbildungsverzeichnis

Literatur

Sach- und Personenregister

9Anstelle eines Vorworts

Wollte Langmut aus Kairos früher, vor der Erfindung der Technik, seinem Freund Kurzweil in Chronos, das ebenfalls im Reich Utempus lag (es war die Zeit, da man es mit der Unterscheidung griechischer und lateinischer Morpheme nicht mehr so genau nahm), eine Nachricht zukommen lassen, so musste er den Weg dorthin mühsam zu Fuß zurücklegen, wofür er sechs Stunden benötigte, oder mit dem Esel, der für dieselbe Strecke immerhin noch dreieinhalb Stunden brauchte. In beiden Fällen kam er dadurch gehörig in Zeitnot, weil er nicht vor dem Mittagessen wieder zurück sein konnte oder, wenn er erst danach losging, gar in Chronos übernachten musste, was ihm nicht nur Streit mit seiner Frau, sondern auch den Verlust eines Arbeitstages einbrachte. Jetzt aber griff Langmut lächelnd zum Telefon, übermittelte Kurzweil die Nachricht und plauderte mit ihm ein wenig über das Wetter, ehe er gemütlich und gemächlich noch ein Pfeifchen schmauchte, die Katze fütterte, eine halbe Stunde arbeitete und dann mit seiner Frau zusammen das Mittagessen kochte – meist benutzten sie dafür die Mikrowelle.

Ach ja, auch mit der Arbeit war es nicht mehr so wie früher. Vor der Einführung der Technik hatte er den ganzen Tag über an den Büchern gearbeitet, die er als Stadtkopist zu vervielfältigen hatte. War das Buch dick, hatte er am Abend dennoch manchmal noch nicht einmal eines abgeschrieben. Heute dagegen schaltete er in aller Ruhe morgens den Kopierer ein, trank dann eine Tasse Kaffee, bis das Gerät betriebsbereit war, und kopierte die Vorlage 10, 20 Mal, je nachdem, wie groß der Bedarf an Abschriften in Kairos gerade war, wofür er nicht länger als 20 Minuten brauchte. Danach ging er zum Schwimmen an den Strand. Nachmittags arbeitete Langmut inzwischen gar nicht mehr.

Endlich hatte er Zeit, im Garten zu sitzen, mit seiner Frau zu plaudern, zu musizieren oder zu philosophieren oder die kopierten Bücher zu lesen, wenn sie interessant waren. Es war herrlich, sich ganz ohne Zeit- und Terminnot seines Lebens erfreuen zu können. Wollte er von seiner Frau, seiner Katze oder dem Sonnenuntergang am Meer ein Bild haben, damit die Urenkel einst ihrer gedenken mochten, holte er gemächlich seine Digitalkamera aus dem Wohnzimmer und drückte auf den Knipser – herrlich detailgetreu erschien das fertige Bild nach wenigen Augenblicken aus dem Drucker, er brauchte nicht mehr erst seinen 10Freund, den Maler Aeternus zu beauftragen, der früher stundenlang den Pinsel geführt und nie Zeit gehabt hatte, währenddessen Langmut die Katze mit allerlei Schmeicheleien und manchmal auch mit Gewalt hatte festhalten müssen. Aber Langmut verspürte jetzt nur noch selten den Wunsch, etwas im Bild festzuhalten, um es später zu genießen oder es der Nachwelt zu überliefern.

Wollte er, wenn es draußen an den Abenden einmal kühl wurde, es drinnen trotzdem behaglich warm haben, musste er nicht etwa in den Wald gehen und Holz sammeln, um es dann später mühsam zu entzünden und dennoch nur für eine begrenzte Zeit sich der Wärme erfreuen zu können. Er drehte einfach die Heizung auf, welche mit den Windrädern am Meer verbunden war, und buchstäblich im Handumdrehen wurde es warm im Wohnzimmer wie an einem milden Sommernachmittag. Langmut war glücklich, und er fühlte sich reich – er hatte Zeit gewonnen, nahezu unerschöpflich viel Zeit, und das Seltsame war, dass er auch nicht mehr, wie früher immer wieder einmal, von dem unbehaglichen Gefühl der Langeweile heimgesucht wurde. Er hatte, wie die Menschen früher gesagt hätten, endlich Muße gefunden. Der Überfluss der Zeit, der unermessliche Zeitwohlstand hatte aus ihm einen neuen Menschen gemacht – und aus Utempus eine andere Gesellschaft.

So – oder so ähnlich – könnten wir uns eine Welt vorstellen, in welcher ein bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geträumter Traum der technischen Verheißung Wirklichkeit geworden ist; eine Welt, die sich aller Zwänge der Zeitknappheit und der Hektik entledigt, die sich gegenüber der Zeit emanzipiert und dieselbe von einem knappen in ein im Überfluss vorhandenes Gut transformiert hat.

Dass die moderne technologische und ökonomische Effizienz eine ebensolche ›utempische‹ Gesellschaft produzieren werde, ist eine Überzeugung, an der die Advokaten des ökonomisch-technischen Fortschritts kaum jemals zweifelten und die sich beispielsweise noch bei Ludwig Erhard findet.1 »We had always expected one of the beneficent results of economic affluence [hervorgebracht durch technischen Fortschritt, H. R.] to be a tranquil and harmonious manner of a life, a life in Arcadia«, bemerkt der schwedische Ökonom Staffan B. Linder daher treffend,2 und der englische 11Philosoph Bertrand Russell vertritt in seinem 1932 verfassten ›Lob des Müßiggangs‹ die Auffassung, ebenjene arkadisch-utempische Gesellschaft sei im Prinzip bereits verwirklicht; lediglich ein unvernünftiges (›protestantisches‹) Arbeitsethos sowie eine Fehlallokation der Arbeit verhinderten ihre volle Realisierung.3 Selbst noch 1964 warnte das amerikanische Life-Magazine vor einem bevorstehenden massiven Zeitüberfluss in der modernen Gesellschaft, der gravierende psychologische Probleme aufwerfe: »Americans Now Face a Glut of Leisure – The Task Ahead: How to Take Life Easy« lautete die Schlagzeile der Ausgabe vom 21. Februar des Jahres.4

Unsere heutige Gesellschaft gleicht der ›utempischen‹ Stadt Kairos in vielerlei Hinsicht – und doch ist sie auch wiederum radikal verschieden von ihr. Aber warum? »Das Tempo des Lebens hat zugenommen« und mit ihm Stress, Hektik und Zeitnot, so hört man allerorten klagen – obwohl wir, ganz wie in Kairos, auf nahezu allen Gebieten des sozialen Lebens mithilfe der Technik enorme Zeitgewinne durch Beschleunigung verzeichnen können. Wir haben keine Zeit, obwohl wir sie im Überfluss gewinnen. Dieses ungeheure Paradoxon der modernen Welt zu erklären, seiner geheimen Logik auf die Spur zu kommen soll das Ziel dieses Buches sein.

Dafür, so die leitende These der Arbeit, ist es erforderlich, die Logik der Beschleunigung zu entschlüsseln. Eine nahe liegende Vermutung im Kontext der Eingangsgeschichte ist es zunächst, dass Langmuts gewonnene Zeit dadurch wieder verloren geht, dass ja der Kopierer, der Fotoapparat und die Heizung, mit deren Hilfe er so viel Zeit spart, selbst erst hergestellt bzw. verdient werden müssen. Geht man davon aus, dass auch in Kairos arbeitsteilig produziert wird, muss Langmut nach ›Erfindung‹ der Technik entsprechend mehr Bücher vervielfältigen als zuvor (was wiederum voraussetzt, dass auch der Bedarf an Büchern in Utempus entsprechend gestiegen ist). Auf diese Weise könnte sich der Zeithaushalt entgegen den Verheißungen der Technik in ein Nullsummenspiel (oder gar in ein Negativsummenspiel) verwandelt haben: Die Bewohner von Utempus bräuchten ebenso viel oder gar noch mehr Zeit, um die Zeitspargeräte zu produzieren und sich leisten zu können, als sie dadurch gewinnen. Das erinnert an jene inzwischen in vielerlei 12Varianten und an vielen Orten erzählte Geschichte vom armen Fischer und dem erfolgreichen Unternehmer.5

In einer abgeschiedenen ländlichen Gegend Südeuropas sitzt ein Fischer am flachen Meeresstrand und angelt mit einer alten, herkömmlichen Angelrute. Ein reicher Unternehmer, der sich einen einsamen Urlaub am Meer gönnt, kommt auf einem Spaziergang vorbei, beobachtet den Fischer eine Weile, schüttelt den Kopf und spricht ihn an. Warum er hier angle, fragt er ihn. Draußen, auf den felsigen Klippen könne er seine Ausbeute doch gewiss verdoppeln. Der Fischer blickt ihn verwundert an. »Wozu?«, fragt er verständnislos. Na, die zusätzlichen Fische könne er doch am Markt in der nächsten Stadt verkaufen und sich von den Einnahmen eine neue Fiberglasangel und den hoch effektiven Spezialköder leisten. Damit ließe sich seine Tagesmenge an gefangenem Fisch mühelos noch einmal verdoppeln. »Und dann?«, fragt der Fischer, weiterhin verständnislos. Dann, entgegnet der ungeduldig werdende Unternehmer, könne er sich bald ein Boot kaufen, hinausfahren ins tiefe Wasser und das Zehnfache an Fischen fangen, sodass er in kurzer Zeit reich genug sein werde, sich einen modernen Hochseetrawler zu leisten! Der Unternehmer strahlt, begeistert von seiner Vision. »Ja«, sagt der Fischer, »und was tue ich dann?« Dann, schwärmt der Unternehmer, werde er bald den Fischfang an der ganzen Küste beherrschen, dann könne er eine ganze Fischfangflotte für sich arbeiten lassen. »Aha«, entgegnet der Fischer, »und was tue ich, wenn sie für mich arbeiten?« Na, dann könne er sich den ganzen Tag lang an den flachen Strand setzen, die Sonne genießen und angeln. »Ja«, sagt der Fischer, »das tue ich jetzt auch schon.«

Natürlich ist diese Geschichte ziemlich naiv. Sie suggeriert, dass der höchst unwahrscheinliche Endpunkt der mühsamen Entwicklungsgeschichte, die der Unternehmer dem Fischer schmackhaft machen will, identisch mit der Ausgangssituation ist; dass der Fischer also letztlich, selbst wenn er Erfolg haben sollte, gar nichts gewinnt. Der Unternehmer scheint daher ein eindeutiges Opfer des von Russell beklagten ›protestantischen Arbeitsethos‹ zu sein: Arbeit wird ihm zum reinen Selbstzweck, der Weg vom Ausgangszustand zum Endergebnis gleicht einem Nullsummenspiel – im günstigsten Fall. Aber natürlich ist die Geschichte in Wirklichkeit nicht zirkulär: Anfangs- und Endpunkt sind nur scheinbar identisch, in 13Wahrheit aber höchst verschieden. Der Fischer muss angeln, weil er sich dadurch seinen Lebensunterhalt verdient und weil er keine Alternativen hat; der reiche Unternehmer dagegen kann angeln, er kann aber auch tausenderlei andere Dinge tun. Die Erweiterung des Möglichkeitshorizontes ist somit ein wesentliches Element der ›Verheißung der Beschleunigung‹. Dadurch verändert sich aber unter der Hand auch die Natur des Angelns am Strand. Der Unternehmer ist sich bewusst, dass er zur gleichen Zeit auch vieles andere tun könnte, das er durch das Angeln verpasst: Die Bootstour, die Eröffnung des Golfplatzes, die Fahrt zur nächsten Sehenswürdigkeit … Wird der Unternehmer dadurch in seiner Anglermuße gestört, so kommt er uns eben darin zwar sehr bekannt vor, aber um nichts weniger töricht: Es ist die Angst, etwas zu verpassen, die ihn daran hindert, auf eine Weise »in der Welt zu sein«, in der es der (idealisierte) Fischer ist.

Aber seine Verpassensangst hat nicht nur hedonistische Wurzeln, sie hat auch gute unternehmerische Gründe.

Während er am Strand angelt, entwickelt die Konkurrenz neue, bessere Schiffe, erwirbt erweiterte Angelrechte, macht ihm sein Monopol an der Küste streitig– und ist so immer schon dabei, seinen Ruhesitz am Angelstrand zu untergraben. Zugleich ändern sich die Tarife der Krankenversicherung, der Telefongesellschaft und der Stromversorgung seines Unternehmens sowie seines Privathaushalts, und die Anlagebedingungen, unter denen er seinen Reichtum verwaltet, sind ebenfalls im Fluss. Vielleicht sollte er sich besser um sie kümmern, anstatt zeitvergessen zu angeln – sonst wird er womöglich morgen nicht mehr angeln können. Auch braucht er dringend neue Kleider, denn was er trägt, ist vor zwei Jahren aus der Mode gekommen, und seine Sonnenbrille entspricht nicht den neuesten Strahlenschutznormen, sie ist ungesund. Seine Freunde ziehen ständig um – vielleicht sollte er besser nach Hause fahren und sie anrufen, bevor er ihre Spur ganz verloren hat. Jetzt im Urlaub hätte er ja endlich einmal Zeit dafür. Und seine Frau kommt in letzter Zeit abends immer später nach Hause – womöglich hat sie vor, ihn zu verlassen. Nein, er sollte nicht am Strand sitzen und angeln, während sich die Welt um ihn herum rasant verändert (verdammt, sein Computer ist inzwischen so alt, dass er die neueste Software gar nicht mehr laden kann, mit deren Hilfe er die Adressen verwalten möchte. Es ist zu mühsam geworden, die Anschriften-, Telefon-, Handy-, Fax- und E-Mail-Änderungen dauernd per Hand zu verzeichnen. Das 14Adressbuch ist durch das Überschreiben unlesbar geworden und zerfleddert).

Während der Unternehmer also am Strand sitzt und in Muße angeln möchte, hat er das Gefühl, sich auf einem oder genauer noch: mehreren rutschenden Abhängen zu befinden oder auf nach unten fahrenden Rolltreppen – er sollte besser das Rennen aufnehmen, um seine Position zu halten, um auf dem Laufenden zu bleiben. Es ist also nicht nur die ›Verheißung der Beschleunigung‹, die ihn antreibt, das Tempo seines Lebens zu erhöhen, sondern es ist auch die hohe Dynamik seiner technischen, sozialen und kulturellen Umwelt, die in wachsendem Maße komplex und kontingent geworden ist und ihn damit zu dieser Steigerung zwingt. Daran zeigt sich, dass auch die zweite Antwort auf die Fischer-Parabel noch naiv ist: Der reiche Unternehmer kann nicht einfach so angeln, wie der arme Fischer es tun musste: Er kann zwar bewusst eine »Auszeit« nehmen und sich ein paar Tage, selten Wochen, am Strand (ohne Handy- und E-Mail-Verbindung, ohne TV) »gönnen«, aber er zahlt für seinen Aufenthalt in der »Entschleunigungsoase«, in der ihm das, was der Fischer aus Armut tat, als unerhörter Luxus erscheint, einen Preis: Die Welt wird sich verändert haben, wenn er zurückkommt, er muss dann aufholen – oder einen Rückstand hinnehmen. Und dieses Bewusstsein macht deutlich, dass sich nicht nur die soziale Welt zwischen Ausgangs- und Endpunkt der Geschichte verändert hat, sondern auch die Persönlichkeit des angelnden Unternehmers selbst. Er ist am Ende der Entwicklung auf eine andere Weise »in der Zeit« als an ihrem Ausgangspunkt. Er hat eine andere Vorstellung vom Verhältnis von Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit: die Zukunftswelt des Unternehmers ist radikal verschieden von seiner Vergangenheit, während der Fischer (ähnlich wie Langmut in der ersten Geschichte) aus der Erfahrung der Vergangenheit weiß, womit er in der Zukunft zu rechnen hat. Erwartungshorizont und Erfahrungsraum sind für ihn weitgehend deckungsgleich, für den Unternehmer aber maximal verschieden. Er hat ein anderes Gefühl für das Verstreichen der Zeit und eine andere Vorstellung vom Wert der Zeit.

Handelt es sich bei unserem Protagonisten um einen Unternehmer herkömmlicher Gestalt (und sein unternehmerisches Kalkül lässt darauf schließen), dann wird er sich in höchstem Maße im Zeitstress befinden. Er wird versuchen, die Kontrolle über sein Leben und sein Unternehmen (und die für ihn relevanten sozialen Verän15derungen) zu behalten und zukünftige Entwicklungen sorgfältig zu planen. Je dynamischer jedoch seine Umwelt wird, je komplexer und kontingenter ihre Ereignisketten und Möglichkeitshorizonte sich gestalten, umso uneinlösbarer wird dieses Vorhaben. Daher wird sich unser Unternehmer womöglich ein weiteres Mal verwandeln: Er wird seinen Kontroll- und Steuerungsanspruch aufgeben und zum »Spieler« werden, der sich von den Ereignissen treiben lässt. Wenn die Konkurrenz meine Schiffe übermorgen wertlos gemacht haben sollte, eröffne ich eben ein Casino oder ich schreibe ein Buch, wandere aus nach Indien, um meinen Guru zu suchen, oder ich beginne ein Studium. Wer weiß. Das muss ich nicht heute entscheiden, das mache ich davon abhängig, wie ich mich übermorgen fühle und welche Chancen sich mir dann bieten. Die Welt ist voller unerwarteter Chancen und Möglichkeiten.

Damit gleicht er in manchem wieder dem Fischer, der ja auch nicht versuchte, die Zukunft planmäßig und langfristig zu verändern. Vielleicht gewinnt er sogar wieder ein Moment von Muße zurück. Aber die Umwelt des Spielers bleibt hoch dynamisch – Erwartungs- und Erfahrungshorizont bleiben getrennt. Deshalb ist der (spätmoderne) Spieler auf eine andere Weise in der Zeit und in der Welt als sowohl der (vormoderne) Fischer als auch der (klassisch-moderne) Unternehmer.

Die Art und Weise unseres In-der-Welt-Seins, so möchte ich in der nun folgenden Untersuchung zeigen, hängt in hohem Maße von den Zeitstrukturen der Gesellschaft ab, in der wir leben. Die Frage danach, wie wir leben möchten, ist gleichbedeutend mit der Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen, aber die Qualitäten »unserer« Zeit, ihre Horizonte und Strukturen, ihr Tempo und ihre Rhythmen, stehen nicht oder nur zu einem geringen Maße in unserer Verfügung. Zeitstrukturen sind kollektiver Natur, gesellschaftlichen Charakters; sie treten den handelnden Individuen stets in solider Faktizität entgegen. Die Temporalstrukturen der Moderne, so wird sich ergeben, stehen vor allem im Zeichen der Beschleunigung. Die Beschleunigung von Prozessen und Ereignissen ist ein Grundprinzip der modernen Gesellschaft. Wie die beiden erzählten Geschichten deutlich machen, sind die Ursachen und Wirkungsweisen dieses Prinzips jedoch außerordentlich vielfältig und komplex und bisweilen paradox. Die Protagonisten sehen sich tatsächlich nicht einer, sondern drei verschiedenen Arten von Beschleunigung 16gegenüber: Sie haben es zum Ersten mit technischer Beschleunigung zu tun, die sich, wie die Geschichte von Kairos illustriert, abstraktlogisch betrachtet entschleunigend auf das Tempo des Lebens auswirken sollte. Tatsächlich stellt aber die Beschleunigung des Lebenstempos eine zweite, angesichts der technischen Beschleunigung paradoxe Form sozialer Akzeleration dar, die, wie die angestellten Überlegungen zum Dilemma des Unternehmers zeigen, möglicherweise mit einer dritten, analytisch unabhängigen Erscheinungsweise sozialer Beschleunigung zusammenhängt: mit der Beschleunigung der sozialen und kulturellen Veränderungsraten. Das komplexe Zusammenwirken dieser Beschleunigungsformen, so möchte ich darlegen, ist dafür verantwortlich, dass an die Stelle des erträumten utempischen Zeitwohlstands in der sozialen Realität westlicher Gesellschaften ein gravierender und sich verschärfender Zeitnotstand getreten ist; eine Zeitkrise, welche die herkömmlichen Formen und Möglichkeiten individueller wie politischer Gestaltungsfähigkeit in Frage stellt und zu der verbreiteten Wahrnehmung einer gesellschaftlichen Krisenzeit geführt hat, in der sich paradoxerweise das Gefühl ausbreitet, hinter der permanenten dynamischen Umgestaltung sozialer, materialer und kultureller Strukturen in der »Beschleunigungsgesellschaft« verberge sich in Wahrheit ein tief greifender struktureller und kultureller Stillstand, eine fundamentale Erstarrung der Geschichte, in der sich nichts Wesentliches mehr ändere, wie schnell auch immer sich die Oberflächen wandelten. Neue, den veränderten Zeitstrukturen angepasste Identitätsmuster und soziopolitische Arrangements sind dabei durchaus denkbar – sie erfordern aber, so die These dieser Untersuchung, die Preisgabe der tiefsten ethischen und politischen Überzeugungen der Moderne, die Preisgabe des (dann gescheiterten) ›Projekts der Moderne‹.

Das Verfassen einer Habilitationsschrift und dann eines Buchmanuskriptes ist in vielfacher Weise ebenfalls ein Kampf mit der Zeit und gegen die Uhr. Dass ich ihn in, wie ich hoffe, akzeptabler Weise beenden konnte, verdanke ich einer großen Zahl von Freunden, Ratgebern, Diskussionspartnern und Begleitern, die mich über die Jahre hinweg in mannigfacher Weise unterstützt und erheblich zu den Stärken des Buches beigetragen haben – für die verbleibenden Schwächen zeichne ich natürlich alleine verantwortlich. Nennen möchte ich zuerst und zunächst Hans-Joachim Giegel, Klaus Dicke 17und Axel Honneth, die als Gutachter, aber auch weit darüber hinaus als Diskussionspartner und Kritiker aus drei unterschiedlichen disziplinären Perspektiven großen Anteil an der Schärfung meiner Argumentation hatten und mich auf dem Arbeitsweg immer wieder ermutigten und vor Irrtümern bewahrten. Das gilt auch für Herfried Münkler, der mir insbesondere in der Frühphase bei der Konturierung meines Projekts unschätzbare Unterstützung gewährte und in seinem Forschungskolloquium ein wertvolles Diskussionsforum bereitstellte. Dafür gebührt ihm mein besonderer Dank.

Wertvolle Hinweise und Anregungen habe ich von zu vielen Kollegen und Kolleginnen erhalten, als dass ich sie alle nennen könnte. In besonderer Weise verpflichtet bin ich aber der Graduate Faculty der New School University in New York, an der ich aufgrund eines Feodor-Lynen-Forschungsstipendiums, das mir die Alexander von Humboldt-Stiftung großzügigerweise verliehen hat, von September 2001 bis August 2002 (von weltpolitischen Ereignissen abgesehen) ungestört arbeiten konnte. Andrew Arato, Richard Bernstein und Nancy Fraser gebührt mein besonderer Dank. William Scheuerman war mir aufgrund der thematischen Nähe unserer Arbeiten ein außerordentlich wichtiger Gesprächspartner – und ein guter Freund. Das Gleiche gilt für Manfred Garhammer. Von Hanns-Georg Brose, Barbara Adam und Martin Kohli habe ich wichtige professionelle Hilfe erhalten. Danken möchte ich weiterhin meinen Jenaer Kollegen Michael Beetz, Michael Behr, Robin Celikates, Klaus-M. Kodalle, Jörn Lamla, Lutz Niethammer, Mike Sandbothe, Rainer Treptow und insbesondere Ralph Schrader und Andrea Kottmann. Ein unverzichtbarer Ratgeber bei allen professionellen Entscheidungen war mir André Kaiser. Neben der Humboldt-Stiftung möchte ich auch der Körber-Stiftung für ihre Unterstützung meiner Arbeit und die hervorragende Zusammenarbeit danken.

Stefan Amann, Jörn Arnecke, Elisabeth Herrmann, James Ingram, Christian Kraus, Carola Lasch, Paulus Liening, Stephan Zimmermann und Frieder Weis haben mich in freundschaftlichen Gesprächen zu entscheidenden Gedanken inspiriert – manche Einsicht kam mir auch während der endlosen Sonntage mit den Jungs des TC Grafenhausen auf Gegners Tennisplätzen und in der intensiven Diskussion mit den engagierten Teilnehmern der Deutschen Schüler Akademien in Braunschweig von 1998 bis 2003. Heiko Steiniger hat sich als studentische Hilfskraft mit unermüdlichem Einsatz um 18die Literaturbeschaffung verdient gemacht. Frau Ursula May hat das gesamte Manuskript mit beeindruckender Genauigkeit und Urteilsschärfe Korrektur gelesen – dasselbe gilt auch für Bernd Stiegler vom Suhrkamp Verlag; beiden bin ich sehr zu Dank verpflichtet.

Widmen möchte ich das Buch meinen Geschwistern Armin und Christine.

19I. Einleitung

»Was die Gesellschaftstheorie aus Eigenem leisten kann, gleicht der fokussierenden Kraft eines Brennglases. Erst wenn die Sozialwissenschaften keinen Gedanken mehr entfachten, wäre die Zeit der Gesellschaftstheorie abgelaufen.«

Jürgen Habermas (1981, Bd. 2, S. 563)

1. Zeitstrukturen in der Gesellschaft

Die Überzeugung, dass alle Ereignisse, Objekte und Zustände in der sozialen Welt dynamischer oder prozessualer Natur sind und Zeit daher eine Schlüsselkategorie für jede angemessene Analyse darstellt, ist inzwischen nahezu zu einem Gemeinplatz in den Sozialwissenschaften geworden. Allein, es hat den Anschein, als ob ebenjene Wissenschaften mit dieser Erkenntnis bisher nicht allzu viel anzufangen wüssten. Immer wieder wird erstaunt konstatiert, dass sich nahezu alle sozialen Phänomene ›temporal rekonstruieren‹, das heißt unter zeitbezogenen Gesichtspunkten neu beschreiben lassen – von Herrschaftstechniken über Klassenunterschiede, interkulturelle Probleme, sozioökonomische Entwicklungsrückstände, Geschlechterverhältnisse, Wohlfahrtsregime bis hin zu Krankenhaus-, Gefängnis- und Drogenerfahrungen.1 Diese Feststellung bleibt jedoch in aller Regel eigentümlich konsequenzlos. Aus der zeitsoziologischen Neubeschreibung ergibt sich zumeist kein theorie- oder praxisrelevanter Erkenntnisgewinn für die untersuchten Problembereiche, und die getrennt erhobenen Befunde scheinen 20sich auch kaum zu einer systematischen Zeitsoziologie verbinden zu lassen.

So ist es wenig überraschend, dass bis in die späten Achtzigerjahre des letzten Jahrhunderts hinein zeitsoziologische Abhandlungen stets von Neuem mit der geradezu stereotypen Feststellung beginnen, dass erstens Zeit eine Fundamentalkategorie der sozialen Wirklichkeit sei, dass es aber zweitens bis zum Erscheinen der jeweiligen Arbeit keine nennenswerte Zeitsoziologie gebe, was der Autor oder die Autorin daher zu ändern gedenke.2 Dabei wiesen Robert Lauer und Werner Bergmann bereits Anfang der Achtzigerjahre in verdienstvollen und ausführlichen Literaturüberblicken nach, dass es schon damals entgegen dieser hartnäckig sich haltenden Überzeugung geradezu Berge an zeitsoziologischen Untersuchungen gab.3 Gleichwohl lautet auch ihr Verdikt, dass es an einer sorgfältigen und theoretisch wie empirisch gehaltvollen sozialwissenschaftlichen Analyse der Zeit nach wie vor mangele.

Das Hauptproblem der soziologischen Zeitanalyse besteht dabei nach Bergmann darin, dass es ihr an einer fundierten und systematischen Anbindung an die soziologische Theoriebildung fehle. In der Regel lägen sozialwissenschaftlichen Zeitstudien vorwissenschaftliche und willkürlich gewählte, meist lose an philosophische oder anthropologische oder auch alltägliche Begriffe angelehnte Zeitkonzepte zugrunde. Infolgedessen bestehe die zeitsoziologische Literatur aus einer Vielzahl unverbundener, nichtkumulativer und aufgrund des mangelnden Anschlusses an gesellschaftstheoretische Ansätze geradezu ›solipsistischer‹ Studien.4 An diesem Zustand hat sich bis heute nicht viel geändert. Zwar beginnen zeitgenössische Abhandlungen kaum mehr mit der Behauptung, es gäbe bis zum Erscheinen ebendieses Werkes praktisch keine Zeitsoziologie, sondern stattdessen zumeist mit einem oft chronologischen oder nach Subdisziplinen geordneten Überblick über die wichtigsten, unverbundenen, zeitsoziologischen und -philosophischen Untersuchungen, die dann für unverbunden und unbefriedigend erklärt werden, doch folgt dem nur allzu oft eine weitere ›solipsistische‹ Abhandlung, meist mit selektiven An21schlüssen an Autoren oder Thesen, die den je eigenen Argumentationsgang unterstützen.5

Im Ergebnis lassen sich die vorhandenen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen zum Thema Zeit daher überwiegend in drei Kategorien fassen: In die erste fällt eine erstaunlich große Zahl von Arbeiten, die letztlich als Überblicksarbeiten versuchen, bisherige zeitsoziologische Überlegungen zu erfassen und (nach den unterschiedlichsten Gesichtspunkten) zu systematisieren. Diese Abhandlungen kulminieren fast immer in der These, dass das untersuchte Material hinreichend belege, wie wichtig und divers Zeitstrukturen in der sozialen Welt seien, weshalb es dringend geboten sei, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu widmen.6

Die zweite Kategorie versammelt eine inzwischen proliferierende Zahl an detailreichen Studien über Zeit und Zeitstrukturen in den materialen Einzel- und Subdisziplinen der Sozialwissenschaften. In der überwältigenden Mehrzahl der Fälle lässt sich dabei auch weiterhin beobachten, dass die Analysen auf eher theoriearmem Niveau methodeneklektizistisch unmittelbar den untersuchten Phänomenen zugewandt bleiben und die Zeit meist als selbstevidente Größe behandeln.7

Die dritte Kategorie schließlich umfasst im Gegensatz dazu eine Reihe von theorieorientierten Zeitanalysen, die sich um die systematische Klärung eines sozialwissenschaftlichen oder -philosophischen Zeitkonzeptes bemühen, dabei aber einen so hohen theorieimmanenten Abstraktionsgrad erreichen, dass die Untersuchung empirisch relevanter Phänomene dabei nicht nur völlig aus dem Blick gerät, sondern auch undurchführbar zu werden droht8 – ganz abgesehen davon, dass auch diese theoriegeleiteten Konzeptualisierungsversuche bisher reichlich ›solipsistisch‹ operieren, ohne irgendeine Aussicht auf einen einheitlichen sozialwissenschaftlichen Zeitbegriff zu eröffnen, wie Barbara Adam bemerkt: »None of the 22writers has the same focus. Everyone asks different questions. No two theorists have the same view on what it means to make time central to social theory […] There are no signposts for orientation in this maze of conceptual chaos.«9 Eine systematische Anbindung der Zeitsoziologie an eine empirisch gehaltvolle sozialwissenschaftliche Theoriebildung ist daher – entgegen den Versprechungen von Giddens und Luhmann, Zeit zu einem unverzichtbaren Grundbegriff ihrer Theoriebildung zu machen10 – nach wie vor ein unerfülltes Forschungsdesiderat.

23Der von Adam und anderen gemachte Vorschlag, aus dieser Verlegenheit auf zeitphilosophische Ansätze als einheitliche Grundlage zurückzugreifen, erweist sich bei näherem Hinsehen schnell als ebenso aussichtslos: Die philosophischen Zeitbegriffe, wie sie etwa von Augustinus, Kant, Bergson, McTaggart, Heidegger oder Mead postuliert und in ihrer Nachfolge diskutiert wurden, sind nicht weniger heterogen, inkommensurabel und inkompatibel; die Genannten sind uneins selbst in den elementarsten Fragen nach dem Realitätsgehalt von Zeit oder danach, ob Zeit eine Kategorie der Natur, der Anschauung bzw. des Verstehens oder ein soziales Konstrukt sei.11 Zeitphilosophische Ansätze neigen daher ebenso wie theorieorientierte zeitsoziologische Untersuchungen zumindest in ihrer Zusammenwirkung dazu, Zeit als unergründliches Rätsel erscheinen zu lassen, während die phänomennahen empirischen Analysen Zeit ebenso unbefriedigend in aller Regel einfach als selbstevident nehmen. Das von Tabboni konstatierte Problem, dass Zeitanalysen mit großer Regelmäßigkeit entweder in die »Selbstevidenz-Falle« oder aber in die »Enigma-Falle« gehen,12 scheint daher vorerst unüberwindbar zu sein, und so vermag es kaum zu überraschen, dass das beliebteste Zitat in der Debatte um die Natur der Zeit weiterhin jene prägnante Stelle aus Augustinus’ Bekenntnissen ist, in der dieser sein eigenes Hin- und Herpendeln zwischen diesen beiden Polen konstatiert: »Was ist Zeit? Wenn niemand mich fragt, weiß ich es. Will ich es einem Fragenden erklären, so weiß ich es nicht.«13

Die Konsequenzen aus dieser schwachen Verfassung der Zeitsoziologie sind gravierend nicht nur im Hinblick auf die Schwierigkeiten, diese Subdisziplin im Kanon sozialwissenschaftlicher Fächer zu etablieren, sondern vor allem auch hinsichtlich der Formulierung aktueller Gesellschaftstheorien, Moderneanalysen und Zeitdiagnosen. Aufgrund der niedrigen Generativität bisheriger zeitsoziologischer Erkenntnisse und ihrer geringen Anschlussfähigkeit an systematische sozialwissenschaftliche und sozialphilosophische 24Theorieentwürfe sind diese nämlich geradezu dazu gezwungen, weiterhin unter Ausklammerung der Temporalperspektive zu operieren, sodass Bourdieus Diktum – die sozialtheoretische Praxis sei (allen anders lautenden metatheoretischen Beteuerungen und Bekundungen zum Trotz) so »ent-zeitlicht«, dass sie sogar noch die Idee des von ihr Ausgeschlossenen exkludiere – nach wie vor gültig zu sein scheint.14

Vor diesem Hintergrund versteht sich die vorliegende Arbeit nicht als Beitrag zur Zeitsoziologie als solcher, d. h., sie fragt nicht danach, was Zeit ist, und auch nicht, in welcher Weise Zeit in soziale Praktiken und Strukturen eingeht und wirksam wird. Sie möchte vielmehr einen Beitrag dazu leisten, aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen und Problemlagen im Kontext des Modernisierungsprozesses und der Debatte um einen Bruch in diesem Prozess zwischen einer (»klassischen«) Moderne und einer Spät-, Post- oder »Zweiten« Moderne gesellschaftstheoretisch angemessen zu erfassen und ihre politischen und ethischen Konsequenzen systematisch herauszuarbeiten. Als leitende Hypothese dient dabei die Vermutung, dass Modernisierung nicht nur ein vielschichtiger Prozess in der Zeit ist, sondern zuerst und vor allem auch eine strukturell und kulturell höchst bedeutsame Transformation der Temporalstrukturen und -horizonte selbst bezeichnet und dass die Veränderungsrichtung dabei am angemessensten mit dem Begriff der sozialen Beschleunigung zu erfassen ist. Ohne kategoriale und zentrale Berücksichtigung dieser Temporaldimension, so die These, sind die gegenwärtigen Veränderungen in den sozialen Praktiken und Institutionen sowie in den individuellen Selbstverhältnissen in westlichen Gesellschaften sozialtheoretisch nicht einzuholen. Es geht dabei also weder um die Etablierung einer weiteren »Bindestrich«-Soziologie (»Die Soziologie der Beschleunigung«) noch um die Rechtfertigung einer bestehenden (»Zeit-Soziologie«), sondern um eine Rekonzeptualisierung der aktuellen Gesellschaftstheorie. Ich werde dabei auf zeitphilosophische und -soziologische Konzeptionen im Folgenden überall dort zurückgreifen, wo mir dies aus systematischen Gründen angemessen erscheint.

Ein entscheidender Vorteil temporalanalytischer Zugangsweisen zu gesellschaftstheoretischen Fragestellungen besteht darin, dass 25Zeitstrukturen und -horizonte einen, wenn nicht den systematischen Verknüpfungspunkt für Akteurs- und Systemperspektiven darstellen. Soziale Veränderungen lassen sich bekanntlich entweder ›makrosoziologisch‹ als Wandlungen von ›objektiven‹ gesellschaftlichen bzw. systemischen Strukturen analysieren oder aber ›mikrosoziologisch‹, aus der Sicht einer subjektzentrierten Sozialwissenschaft, als Transformation von Handlungslogiken und Selbstverhältnissen untersuchen. Wenngleich die Gesellschaftstheorie seit Parsons in nahezu allen ihren Varianten intensiv danach sucht, diese Struktur/Akteursspaltung zu überwinden, gehört zu den vielleicht rätselhaftesten und am wenigsten verstandenen Problemen der sozialen Welt doch noch immer die Frage, mittels welcher Mechanismen systemisch-strukturelle Logiken bzw. Erfordernisse und Akteursorientierungen einander angeglichen bzw. miteinander vermittelt werden. So ist es etwa unbezweifelbar, dass sozialstrukturelle Modernisierungsprozesse nicht ohne Entsprechung in der Konstruktion subjektiver Selbstverhältnisse bleiben können, dass Identitätswandel und Sozialstrukturwandel durch Modernisierung also notwendig Hand in Hand gehen müssen.151626wie wir unsere Zeit verbringen wollen – darüber hinaus auch den Ort, an dem sozialwissenschaftliche Strukturanalysen und ethisch-philosophische Frageperspektiven verknüpft werden können und müssen.