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Monika Krause

Das gute Projekt

Humanitäre
Hilfsorganisationen
und die
Fragmentierung
der Vernunft

Aus dem Englischen
von Michael Adrian

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH

Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung

Mittelweg 36

20148 Hamburg

www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-920-1

© der deutschen Ausgabe 2017 by Hamburger Edition

ISBN 978-3-86854-314-8

© der Originalausgabe 2014 by The University of Chicago. All rights reserved. Titel der Originalausgabe: »The Good Project. Humanitarian Relief NGOs and the Fragmentation of Reason«

Umschlaggestaltung: Wilfried Gandras

Satz: Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

Einleitung

1Auf der Suche nach dem guten Projekt

2Hilfeempfänger als Ware

3Der Logframe und die Geschichte des Marktes für Hilfsprojekte

4Die Geschichte der humanitären Autorität und die Ausdifferenzierung des humanitären Feldes

5Die Reform der humanitären Hilfe

6… und die Menschenrechte?

Schluss

Methodischer Anhang

Verzeichnis der Abbildungen und Tabellen

Danksagung

Bibliografie

Zur Autorin

Einleitung

»Die Krise in Darfur stellt die Welt vor eine entscheidende moralische Herausforderung«, heißt es in einem Appell von Safe Darfur.

»Mehr als vier Jahre sind seit Beginn des Völkermords in Darfur im Sudan vergangen. Bis zu 400000 Menschen sind ihm bislang zum Opfer gefallen, mehr als 2,5 Millionen wurden vertrieben. Diese Flüchtlinge sind jetzt von Hunger, Krankheiten und Vergewaltigungen bedroht, während die in Darfur verbliebenen Einwohner mit Folter, Tod und Vertreibung rechnen müssen. Wir müssen schnell und entschieden handeln, um diesen Völkermord zu beenden, bevor Hunderttausende weitere Menschen getötet werden.«1

Diese Beschreibung der Krise in Darfur betont die große Zahl der Opfer. Der Text erzählt zudem von unbeschreiblichem Leid, vor dem es kein Entrinnen gibt. Dieses Gefühl der Ausweglosigkeit wird der Leserin mithilfe zweier Aufzählungen von jeweils drei verschiedenen Übeln in einem Satz vermittelt: »Hunger, Krankheiten und Vergewaltigungen« sowie »Folter, Tod und Vertreibung«. Doch inmitten all der Gräuel dieser Beschreibung findet sich etwas Tröstliches und Beruhigendes, nämlich die Vorstellung: »Wir müssen […] handeln«. Jenes »wir« erinnert den Leser daran, dass er von außen auf dieses Leiden blickt, und impliziert, dass er dieser Gewalt und diesem Leid nicht alleine gegenübersteht, sondern als Teil einer Gemeinschaft, die seine Besorgnis teilt: »wir, die internationale Gemeinschaft«, »wir, die globale Zivilgesellschaft« oder »wir, die Bewohner verhältnismäßig reicher Länder, die sich sorgen«. Auch die Formulierung »wir müssen […] handeln« hat etwas Beruhigendes. Denn wenn wir handeln müssen, heißt das vielleicht auch, dass »wir handeln können«. Mit den richtigen Werten und den richtigen Informationen können wir etwas tun, um zu helfen.

Die Krise in Darfur ist nur eine von vielen Situationen, die in den vergangenen zwanzig Jahren zu Appellen wie dem obigen Anlass boten. Denken wir nur an die Kosovokrise Ende der 1990er Jahre, den Tsunami im Indischen Ozean 2004, das Erdbeben in Haiti von 2010 oder die Aids-Epidemie, die allesamt als »Notsituationen« in unser Blickfeld gerückt wurden, so komplex und unterschiedlich diese sozialen Phänomene auch waren. Der Begriff der »Notsituation« oder des »Notfalls« (emergency) ist nach Craig Calhoun »ein Mechanismus, um problematische Ereignisse zu erfassen, ein Mechanismus, um sich in sie hineinzuversetzen, der ihre anscheinende Unberechenbarkeit, Anomalie und ihren vorübergehenden Charakter betont und mit dem gleichzeitig die Konsequenz verbunden ist, dass eine Reaktion – eine Intervention – notwendig ist«.2

Die westlichen Regierungen fühlen sich heute verpflichtet, eine gewisse Reaktion auf viele, doch bei Weitem nicht alle fernen »Notfälle« zu zeigen, während sich die breite Öffentlichkeit häufig zu Spenden veranlasst sieht. Was aber heißt es, auf das Leid von Menschen zu reagieren, die in weiter Ferne leben? Und nicht nur die geografische Entfernung trennt »uns« von »ihnen«. Auch unterschiedliche Formen der sozialen Organisation stehen zwischen uns und vermitteln, das heißt, sie verbinden und trennen zugleich in spezifischen Weisen, deren Muster wir analysieren können. Die Institutionen der Nachrichtenmedien bilden eine solche Form der sozialen Organisation; in jüngster Zeit haben Wissenschaftler die Rolle der Medien bei der Vermittlung von Leid eingehend untersucht.3 Auch Geber und Geberorganisationen sind durch Märkte, Regierungen, die Geschichte des Kolonialismus, verschiedene Arten von Wissen und Fachkenntnissen sowie unterschiedliche Bedeutungssysteme von fernem Leid getrennt und zugleich mit ihm verbunden.

In diesem Buch beschäftige ich mich mit einer Gruppe von Institutionen, die zwischen dem konstruierten »Wir« und einer Vielzahl von Formen des Leids auf der ganzen Welt stehen, nämlich den nichtstaatlichen Organisationen (NGOs), die auf dem Feld der humanitären Hilfe tätig sind. Organisationen wie das Internationale Komitee vom Roten Kreuz (IKRK), Ärzte ohne Grenzen/Médecins sans Frontières (MSF), Save the Children, Oxfam und CARE spielen in den vergangenen zwanzig Jahren eine immer wichtigere Rolle in der globalen Politik wie auch in unserem globalen politischen Denken.

Diese Organisationen sind aufgerufen, auf vielfältige Themen und Probleme zu reagieren, wobei eine wachsende Menge an Geldzuwendungen durch sie kanalisiert wird. In zunehmendem Maße wird die Hilfe, die ehemalige Kolonialmächte und die reicheren Nationen der Welt ehemaligen Kolonien und ärmeren Nationen gewähren, nicht mehr als Entwicklungshilfe, sondern in Form von humanitärer Hilfe ausgeschüttet. Zwischen 1990 und 2013 stiegen die offiziellen Etats für humanitäre Hilfsmaßnahmen um das Sechsfache, von 2,1 Milliarden auf 12,9 Milliarden US-Dollar.4 Ein immer größerer Teil dieser humanitären Mittel wird über nichtstaatliche Hilfswerke verteilt, wovon wiederum ein erheblicher Anteil durch eine relativ kleine Zahl großer Einrichtungen fließt.5

Viele Beobachter haben diese Organisationen gepriesen und dabei stillschweigend vorausgesetzt, dass alles, was wir über sie wissen müssen, in ihren Zielen und Werten sowie in der Antwort auf die Frage besteht, welche von ihren Zielsetzungen sie jeweils erreichen. Andere, kritischere Stimmen haben auf die Rolle von Geld und Macht in diesen NGOs hingewiesen, insbesondere aber auf die Rolle externer Interessen, wie etwa jener der westlichen Geberländer. Sowohl die naiven als auch die kritischen Darstellungen sind jedoch grob vereinfachend und schneiden die empirischen Fragen danach, wie diese Organisationen eigentlich arbeiten, überhaupt nicht an.

Wie überführen diese Organisationen Werte – oder Interessen, wenn man so will – in eine Praxis? Wie werden diese Werte in das übersetzt, was humanitäre Helfer tagtäglich tun und was sie nicht tun? Welche Sachzwänge machen diese Übersetzung möglich, und welche Folgen haben diese Sachzwänge? Wie beispielsweise entscheidet die jeweilige Organisation, welche Menschenleben sie retten und welche Bedürfnisse sie befriedigen will? Wie legt sie – sich selbst und anderen gegenüber – Rechenschaft über diese Entscheidungen ab? Welche unterschiedlichen Interpretationen dieser Werte nehmen verschiedene Organisationen vor? Und was verraten uns die Antworten auf diese Fragen über die Art von Vermittlung, für die diese Organisationen sorgen, und über die Rolle, die sie spielen? Im vorliegenden Buch gehe ich diesen Fragen nach, indem ich untersuche, wie solche Hilfswerke arbeiten, wobei ich mich besonders auf die Praktiken von Managern in den größten NGOs auf dem Feld der humanitären Hilfe konzentriere.

Die Argumentation

Ich möchte aufzeigen, dass humanitäre NGOs mittlerweile in einem gemeinsamen sozialen Raum agieren. Aus diesem gemeinsamen sozialen Raum erwachsen sowohl die Grundannahmen, die in den verschiedenen Hilfswerken Gemeingut sind, als auch die Debatten, die sie miteinander darüber führen, was es heißt, ein humanitärer Akteur zu sein. Es ist von großer Bedeutung, die praktische Logik jenes Raumes zu verstehen, denn sie ist ein wichtiger Aspekt dessen, was zwischen den Gebern und »den Leidenden der Welt« steht; diese praktische Logik bildet eine Vermittlung für alle Bemühungen, den Bedürftigen zu helfen.

Auf der Grundlage von Tiefeninterviews mit Länderreferenten vieler der größten westlichen Hilfsorganisationen entfalte ich zwei Thesen über diesen Raum: Erstens möchte ich zeigen, dass sich die Praktiken der humanitären Hilfswerke nur verstehen lassen, wenn man sich klarmacht, dass Hilfe eine Form von Produktion ist und zu einem vorrangigen Ergebnis oder Produkt führt, nämlich dem »Projekt«. Manager produzieren Projekte und bemühen sich, gute Projekte zu machen. Dies hat bedeutende Vorteile. Doch erzeugt das Streben nach dem guten Projekt eine Eigenlogik, die die Verteilung von Ressourcen sowie eine gewisse Art von Aktivitäten prägt, die sich unabhängig von externen Interessen, aber auch relativ unabhängig von den Bedürfnissen und Präferenzen der Empfänger beobachten lassen.

Zweitens produzieren Hilfsorganisationen Projekte für einen Quasimarkt, auf dem die Geber die Konsumenten sind. Das Projekt ist eine Ware, und so werden auch die Begünstigten, die Hilfeempfänger, Teil einer Ware. Das Bemühen um ein gutes Projekt bestärkt die Hilfswerke darin, sich auf kurzfristige Resultate für eine ausgewählte Zielgruppe zu konzentrieren. Darüber hinaus bringt es der Markt für Projekte mit sich, dass die potenziellen Empfänger miteinander darum konkurrieren müssen, Teil eines Projektes zu werden.

Wenn wir humanitäre Hilfe als eine Form der politischen Governance und Koordination betrachten, ist es wichtig zu sehen, dass es neben den Leistungen für die Hilfsbedürftigen, wie sie die liberalen Betrachter hervorheben, und den Formen direkter Beherrschung, wie sie die Kritiker der humanitären Hilfe herausstreichen, auch eine Form der indirekten Beherrschung gibt, die durch den Markt für Projekte bedingt ist.

Häufig lebt die Analyse und Kritik der »humanitären Vernunft« von einer Rekonstruktion, die eine Kohärenz auf der Grundlage von Ideen oder Interessen herstellt. Ich hingegen möchte das Muster einer fragmentierten Vernunft nachweisen. Im Unterschied zu jenen, die internationale Hilfsmaßnahmen für ihr Übermaß an Planung und Rationalisierung kritisieren,6 wird mein Argument lauten, dass die heutige Struktur des Humanitarismus bereits durch den Erfolg solcher Kritiken geprägt ist und die Konsequenzen daraus nicht nur positive sind.

Nicht alle humanitären Hilfswerke sind natürlich gleich, und ich werde im Folgenden die Unterschiede zwischen den Organisationen untersuchen. Wenn ich sage, dass humanitäre Organisationen in einem gemeinsamen Raum angesiedelt sind, bedeutet dies, dass sie sich wechselseitig aneinander orientieren, wenn sie ihre Unterschiede formulieren. Ich werde die Kontroversen über die Frage, was es heißt, ein humanitärer Akteur zu sein, nachzeichnen und die These vertreten, dass die Vielfalt der Agenturen einen Bestandteil des Marktes für Projekte bilden kann und ihn nicht unbedingt schwächt.

Globale Governance und feldspezifische Praktiken

Kaum jemand bestreitet heute noch, dass transnationale Verflechtungen aller Art für unser Verständnis der sozialen Welt und der politischen Ordnung der Gegenwart wesentlich sind. Doch kann sich die Diskussion über die globale politische Ordnung nach dem Ende des Kalten Kriegs immer noch auf abstrakte Ideen kaprizieren, sei es, dass man die neue Macht universeller Werte und Besorgnisse begrüßt oder neue Formen imperialistischer Ideologie anprangert. Optimistische wie kritische Analysen neigen allerdings dazu, die globale Governance als vergleichsweise kohärent und einheitlich zu zeichnen.

Um die neuen, von der Globalisierung hervorgebrachten Formen der Verflechtung voll und ganz zu verstehen, sollten wir unser Wissen auf der Grundlage einer sorgfältigen Beachtung der Praktiken des Verflechtens rekonstruieren. Die Studien, die solche Praktiken untersucht haben, zählen meines Erachtens zu den besten Arbeiten über die Globalisierung. Yves Dezalay und Bryant Garth lenken unsere Aufmerksamkeit auf die Rolle, die internationale Rechtsanwälte in der Politik lateinamerikanischer Länder spielen.7 Saskia Sassen beleuchtet die richterliche Bezugnahme auf internationales Recht in nationalen Kontexten.8 Nicolas Guilhot widmet sich einer Gruppe von Fachleuten, die als »Demokratieförderer« tätig sind.9 David Mosse und Richard Rottenburg untersuchen Netzwerke von Entwicklungsexperten.10

Als Reaktion auf rationalistische Organisationsanalysen haben manche Autoren, vor allem in der Anthropologie und in den Wissenschafts- und Technologiestudien, auf das Chaos und die Heterogenität der Praxis in verschiedenen Feldern gepocht, darunter dem der internationalen Hilfe.11 Ich stimme dieser Betonung der Praxis und empirischen Beobachtung zu, halte es aber für wichtig, nicht nur nach hybriden Formen und kontingenten Aushandlungsprozessen zu fragen, sondern auch nach Mustern und Ordnung. Im Anschluss an die Argumentation Pierre Bourdieus und anderer12 möchte ich in der soziologischen Tradition der Theorie funktionaler Differenzierung die Möglichkeit spezifischer Praxislogiken in spezifischen sozialen Welten – oder Feldern – erforschen.

Aus früheren Untersuchungen wissen wir, dass Organisationen in einem Feld mit anderen Organisationen existieren und von Reaktionen auf eine gemeinsame Umwelt geformt werden können.13 Diese Einsicht über Institutionen in der neoinstitutionalistischen Tradition ergänzt Bourdieu um einen historischen Ansatz, eine spezifische Hypothese über Felder, die um hehre Ideale wie die der Religion, der Kunst oder des Rechts herum organisiert sind, sowie eine Analyse der symbolischen Trennungen zwischen den jeweiligen Akteuren. Beides ist, wie ich zeigen werde, für das Verständnis der humanitären Hilfe von Bedeutung. Ich analysiere die humanitäre Hilfe als Feld, um zu sondieren, ob es einen sozialen Raum geteilter Selbstverständlichkeiten und geteilter Interpretationen gibt – und ob sich dort eine Gruppe von Akteuren findet, die sich noch in ihren Unstimmigkeiten als maßgebliche Gegenspieler anerkennen.

Die nichtstaatlichen humanitären Hilfsorganisationen haben entscheidend dazu beigetragen, eine Verbindung zwischen dem Westen und fernen Weltgegenden sowie insbesondere fernem Leid herzustellen. Auch für die Diskussionen über eine globale Zivilgesellschaft waren sie von zentraler Bedeutung. Wir verfügen über eine Reihe von Sammelbänden zu Themen im Zusammenhang mit humanitären Hilfsorganisationen14 sowie über eine Reihe ausgezeichneter Studien zu einzelnen Organisationen auf diesem Gebiet, vor allem das IKRK und die MSF. Zu den besten Untersuchungen einzelner humanitärer NGOs zählen die Arbeit von Pascal Dauvin und Johanna Siméant über die MSF und MDM (Médecins du Monde), die Werke von Peter Red-field über MSF sowie die Arbeiten von Didier Fassin.15 Im vorliegenden Buch möchte ich keine spezifische Einrichtung, sondern die Gesamtheit der westlichen humanitären NGOs in den Blick nehmen.

Humanitarismus: Praxis – Ideen – Feld

Dieses Buch basiert auf der Unterscheidung zwischen humanitären Ideen, humanitären Praktiken und dem Feld der humanitären Hilfsorganisationen. Humanitäre Ideen – ob sie humanitär sind oder so verstanden werden könnten – blicken auf eine sehr lange Geschichte zurück, wie man beispielsweise an der Parabel vom barmherzigen Samariter im Neuen Testament sehen kann. Humanitäre Praktiken – Praktiken, die humanitär waren oder so beschrieben werden könnten – in Reaktion auf Katastrophen, Krankheiten und Armut sind bis in die Antike gut belegt. Die Bedeutung humanitärer Praktiken aber ist für den längsten Teil der Geschichte entweder in einem weniger ausdifferenzierten sozialen Ganzen aufgegangen oder in anderen Sphären des sozialen Lebens wie der Religion, der Politik oder der Medizin ausgeprägt worden. Humanitäres Handeln als eine von anderen Praxisfeldern unterschiedene Sphäre ist historisch viel jünger – und dieses Feld ist der Gegenstand des vorliegenden Buches.

Ab Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts emanzipierte sich der Humanitarismus von anderen Praxisfeldern und bildete seine eigenen Einsätze und Interessen heraus, mit denen rivalisierende Ansprüche darauf möglich wurden, worin eine wahre humanitäre Identität besteht. Humanitäre NGOs nehmen in dieser Geschichte eine Schlüsselstellung ein. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bemühte sich das IKRK um einen völkerrechtlichen Sonderstatus für humanitäre Akteure. In den 1970er Jahren bezogen die MSF im Namen einer reineren Form von Humanitarismus eine kritische Position gegenüber dem IKRK. Seit den 1980er Jahren hat sich das Feld erweitert und konsolidiert.16 Gemeinsame Einsätze und Interessen haben die Organisationen enger zusammengebracht; viele von ihnen beteiligen sich inzwischen an Gesprächen über ethische Prinzipien und technische Standards sowie gemeinsame Ausbildungsinitiativen. Wo gemeinsame Einsätze auf dem Spiel stehen, hat sich aber auch die Auseinandersetzung darüber verschärft, was es heißt, ein humanitärer Akteur zu sein.

Ich beschäftige mich im Folgenden mit Praktiken in Organisationen, die sich als humanitäre NGOs bezeichnen, und damit, wie humanitäre Ideen in diesen Organisationen verstanden werden. Das soll jedoch nicht heißen, dass meine thematischen Anliegen die humanitäre Praxis oder die humanitären Ideen erschöpfen, auf die nach wie vor auch andere Arten von Organisationen und die private Wohltätigkeit Anspruch erheben.17

Mein Augenmerk liegt in diesem Buch auf westlichen NGOs, wofür es eine gewisse Rechtfertigung in der Geschichte des humanitären Feldes gibt. Natürlich sind Mitgefühl, Großzügigkeit und Wohltätigkeit in einem viel breiteren historischen Rahmen angesiedelt.18 Das Feld der humanitären Hilfsorganisationen jedoch hat seine Ursprünge im Europa des 19. Jahrhunderts, und seine Geschichte umfasst auch die Geschichte der Kolonialisierung und Entkolonialisierung. Die westlichen Organisationen haben das Feld der humanitären Hilfe von den 1970er Jahren bis in die 2000er Jahre beherrscht. Man darf keinesfalls übersehen, dass sich dies heute mit der zunehmenden Finanzierung humanitärer Hilfe aus Asien und dem Nahen Osten zu ändern beginnt.19 Den Auswirkungen dieses Wandels möchte ich mich gerne in künftigen Arbeiten widmen.

Die Länderreferenten

Dieses Buch stützt sich auf eine Reihe von Materialien, darunter archivalische Quellen, Berichte, Beobachtungen bei Lehrgängen für professionelle Helfer und Hintergrundinterviews. Die Methoden, die ich angewandt habe, erörtere ich eingehender im Anhang. Ein besonderer Aspekt meines Forschungsdesigns sollte jedoch jetzt schon angesprochen werden, weil er entscheidend für den analytischen Fokus des Buches ist; auch steht er in engem Zusammenhang mit den spezifischen Fragen, die ich stelle, und den Antworten, die ich geben beziehungsweise nicht geben kann. Um herauszufinden, wie humanitäre Hilfsorganisationen realiter arbeiten, habe ich Menschen mit einer ganz bestimmten Rolle in diversen dieser Einrichtungen interviewt und nach ihrer alltäglichen Arbeitspraxis befragt.

Ich interviewte fünfzig Länderreferenten und Programmleiter in sechzehn der größten Hilfs-NGOs der Welt. Meine Interviewpartner – die Länderreferenten – sind nicht repräsentativ für humanitäre Helfer schlechthin, und mir ging es auch nicht darum, eine repräsentative Stichprobe sämtlicher humanitären Helfer zu erstellen. Ich sprach vielmehr mit dieser speziellen Gruppe von Führungskräften, weil ihre Position von großer praktischer Bedeutung ist. Ihre Büros sind nur ein Schauplatz, den es für eine Soziologie der humanitären Hilfsorganisationen zu untersuchen gilt, aber ein sehr interessanter und strategischer, um das Feld jener NGOs zu erforschen.

Ich interviewte Länderreferenten und Programmleiter, weil sie eine entscheidende Mittlerrolle zwischen der strategischen Planung in den Hauptverwaltungen der Organisationen und der tagtäglichen Einsatzleitung im Feld einnehmen. In der Regel betreut die Programmabteilung in Zusammenarbeit mit den Landesdirektoren vor Ort die weltweiten Tätigkeiten einer Hilfsorganisation. Sie ist das Zentrum der Mittelabflüsse. Die Programmabteilungen humanitärer Hilfswerke sind in verschiedene Regionen oder »Ressorts« unterteilt. Ein Länderreferent ist für die Einsätze in wenigstens einem, in der Regel aber in mehreren Ländern verantwortlich. Hier werden Entscheidungen vorbereitet, und hier, nicht auf der höchsten Stufe der Organisationshierarchie, sind die detailliertesten Kenntnisse über die inneren Strukturen und Vorgänge angesiedelt. Entscheidungen auf dieser Ebene bilden zudem den Rahmen für die Umsetzung vor Ort.

Für meine Interviews wählte ich eine Stichprobe von Organisationen, die es mir ermöglichen würde, mir ein Bild von den größten und einflussreichsten westlichen Hilfsorganisationen zu machen, durch die die meisten Finanzmittel fließen.20 Ich bezog auch Organisationen ein, die mir Aufschluss darüber versprachen, worin sich kleinere Hilfswerke, religiöse Einrichtungen, solche aus unterschiedlichen Ländern oder technisch spezialisierte Hilfswerke unterscheiden könnten.

Ich fragte die Länderreferenten nach ihrer Arbeit, ihren alltäglichen Praktiken, und bemühte mich um möglichst detaillierte Antworten. Ich versuchte, das gemeinsame praktische Wissen und die gemeinsamen Deutungsmuster dieser Gruppe von Managern sichtbar zu machen. Mit dieser Studienanlage stehe ich in einer bestimmten Tradition, nämlich der des Experteninterviews.21 In dieser Tradition wird der Experte nicht befragt, weil sein Wissen irgendwie »besser« ist, sondern deshalb, weil es von großer praktischer Bedeutung und ausgesprochen folgenreich ist, da er über Entscheidungsgewalt verfügt. Man fragt eine Expertin nicht nach Informationen über ein Thema, in dem sie sich als Beobachterin gut auskennt. Ziel der Untersuchung ist vielmehr ihr praktisches Wissen über die Prozesse in der Organisation, an denen sie selbst teilhat.

Die von mir interviewten Personen fanden auf höchst unterschiedlichen Wegen zur humanitären Arbeit. Viele ältere Mitarbeiter kamen ursprünglich aus der Entwicklungszusammenarbeit und waren zur humanitären Hilfe gewechselt, weil sie ihnen unmittelbarer notwendig und nützlich erschien oder weil sich der Schwerpunkt von Gebern verschoben hatte. Einige der jüngeren Mitarbeiter hatten gezielt den Beruf des humanitären Helfers ergreifen wollen. Manche verfügten über spezielle technische Hintergründe als Ärzte, Pflegekräfte, Wasseringenieure oder Ernährungsexperten; manche waren aus leitenden Positionen im Privatsektor in den humanitären Bereich gewechselt, andere aus dem Militär. Als ich sie traf, waren diese Mitarbeiter in New York, Atlanta, London, Paris, Genf oder Brüssel ansässig; sie alle hatten aber Erfahrung mit der Umsetzung von Programmen vor Ort und reisen alle immer noch regelmäßig zu Besuchszwecken in ihr jeweiliges Einsatzgebiet im globalen Süden.

Zum Aufbau des Buches

Thema dieses Buches ist das Feld der humanitären Hilfsorganisationen. Ich lege dar, dass die NGOs auf dem Gebiet der humanitären Hilfe in einem gemeinsamen sozialen Raum angesiedelt sind, und versuche, die Logik der Praxis in diesem geteilten Raum zu beschreiben. Die Kapitel 1 bis 4 erörtern die Elemente dieser Logik und ihre Konsequenzen. Das erste Kapitel führt uns in die Hauptverwaltungen der größten humanitären Hilfswerke der Welt, um weithin geteilte Praktiken des Projektmanagements zu betrachten. Es untersucht, wie Länderreferenten Entscheidungen darüber treffen, wohin ihre NGO geht und wem sie hilft. Auf diese Weise kann ich die Routinen und Prozeduren aufzeigen, die ihre Arbeit prägen. Länderreferenten wollen Menschen helfen, aber sie tun dies, indem sie Projekte produzieren. Ihr professionelles Interesse ist es, gute Projekte zu machen, doch bringt ihr Bemühen um ein gutes Projekt, wie ich nachweisen werde, eine Dynamik hervor, die relativ unabhängig von Werten, Interessen und den Bedürfnissen der Hilfsbedürftigen vor Ort ist.

Kapitel 2 betrachtet, wie sich das Bemühen um ein gutes Projekt in der humanitären Hilfe auf die Wahrnehmung auswirkt, die Länderreferenten von Not leidenden Menschen haben. Die Rolle der Bevölkerungen, die Hilfsleistungen empfangen, wurde von den Ökonomen in ihren Modellen gemeinnütziger Organisationen oft ignoriert und von den Theoretikern der Zivilgesellschaft missverstanden. Statt vornehmlich »Hilfeempfänger«, »Nutznießer« oder »Kunden« zu sein, sind sie gleichermaßen Teil des Produkts, das von Hilfsorganisationen geschnürt und verkauft wird, und arbeiten dafür.

Kapitel 3 beschreibt die Managementwerkzeuge, die das Projekt als eine Einheit der Planung und des Tausches ermöglichen. Der Logframe (Programmplanungsübersicht), ein weitverbreitetes Planungswerkzeug, hat zur Betonung klarer Ziele und Ergebnisnachweise in der Auslandshilfe geführt. Damit hat dieses Instrument jedoch den Nachweis von Resultaten gemäß sehr spezifischen Projektzielen vom Gespräch über die umfassenderen Folgen, die eine Intervention nach sich ziehen könnte, und vom Gespräch über die umfassenderen Folgen, die die Gesamtheit der Interventionen zeitigen könnte, abgekoppelt.

In Kapitel 4 beschreibe ich die symbolischen Trennungen und Differenzen innerhalb des humanitären Feldes. Bei der Ausarbeitung ihrer charakteristischen Positionen zu Fragen der humanitären Vorgehensweise speisen sich die Hilfswerke aus unterschiedlichen Ideen- und Nationalgeschichten, doch ist ihre Vielfalt auch durch die Konkurrenz um einen spezifischen Typ symbolischen Kapitals geprägt: die Autorität in humanitären Fragen. Wenn wir als spendende Öffentlichkeit heute mit fernem Leid konfrontiert sind, ist unsere Reaktion durch die beiden Aspekte der Praxislogik des humanitären Feldes vermittelt: zum einen durch die gemeinsamen Praktiken und Routinen auf dem Feld der humanitären Hilfe, zum anderen durch die reflexive und symbolische Positionierung innerhalb dieses Feldes. Während manche Feldtheorien von einer Unterteilung in ökonomisches und kulturelles Kapital ausgehen, glaube ich, dass wir die Organisationen erstens entlang der Dimensionen des feldspezifischen Kapitals und zweitens entlang verschiedener Arten von Kapital auf anderen Feldern verorten können, etwa dem politischen oder dem religiösen Feld.

Mein Hauptanliegen in diesem Buch ist es, die praktische Logik der humanitären Hilfe und ihre gegenwärtigen Folgen zu beschreiben. Man muss sich klarmachen, dass diese Logik der humanitären Hilfe auf eine sehr spezifische Geschichte zurückgeht und somit nicht einfach aus dem Gehalt humanitärer Ideen oder der Tatsache folgt, dass es Leid, Katastrophen und Bürgerkriege gibt. Ich gehe auf sehr spezielle Weise an die Aufgaben einer Geschichtsschreibung der humanitären Hilfe und einer Rekonstruktion der gegenwärtigen Situation heran. Ich habe nicht vor, wie in gewissen sozialwissenschaftlichen Kreisen üblich, mich auf eine Ursache des Wandels zu kaprizieren und dann den Nachweis zu erbringen, dass diese Ursache wichtiger ist als andere. Auch möchte ich nicht einfach eine Geschichte erzählen, die die gegenwärtige Situation in größere Kontexte und Prozesse einbettet. Mein Ansatz besteht vielmehr darin, die einzelnen Elemente der Logik humanitärer Hilfe und anschließend die Bedingungen der Möglichkeit zu bestimmen, die gegeben sein müssen, damit Hilfsmaßnahmen in der Weise bestehen können, wie sie dies heute tun. In diesem Ansatz fallen analytische Beschreibung und Erklärung in eins. Wenn wir uns fragen, was anders sein müsste, damit die humanitäre Hilfe anders wäre, als sie es heute ist, gehen wir an das Phänomen wie an das fehlende Stück eines Puzzles heran; indem wir die Bedingungen seiner Umwelt ermitteln, die seine Gestalt mitbestimmen, erlangen wir auch ein besseres Verständnis jener Gestalt.

Es ist also möglich, die Geschichte jener Elemente der Logik humanitärer Hilfe und ihrer Ermöglichungsbedingungen nachzuzeichnen. Auf einer allgemeinen Ebene heißt dies, dass man manche der Bedingungen explizit machen muss, die wir üblicherweise für selbstverständlich halten, als ob sie ein unveränderlicher Teil menschlicher Gesellschaften seien und nicht als Ursachen des Humanitarismus in seiner gegenwärtigen Form in Betracht kämen – und damit auch nicht als Ansatzpunkte für die Analyse und das politische Handeln. Die Historiografie der humanitären Hilfe konzentriert sich oft auf die Geschichte der humanitären Ideen, mitunter auch auf die Bedingungen, auf die humanitäre Hilfsmaßnahmen heute reagieren. Wir müssen aber beispielsweise auch in Erwägung ziehen, dass große Teile der Weltbevölkerung keinen Zugang zur Grundversorgung haben und dass dies manchen westlichen Gebern manchmal Anlass zur Sorge zu bieten scheint.

Die historischen Abschnitte der Kapitel 3 und 4 behandeln zwei weitere vernachlässigte Möglichkeitsbedingungen der humanitären Hilfe in ihrer heutigen Form. So hebe ich die Rolle hervor, die Managementwerkzeuge in der Ausgestaltung des Marktes für Projekte spielen. Wenn wir die Geschichte dieser Instrumente nachzeichnen, erkennen wir bei den westlichen Staaten eine Verlagerung von einer Entwicklungspolitik mit breiter Zielsetzung und umfassenden, aber unspezifischen Verantwortlichkeiten, die Menschen gegenüber angenommen wurden, zu einem Regime der Rechenschaftspflicht für spezifische Resultate auf der Ebene einzelner humanitärer Maßnahmen. Die Bemühungen um eine verantwortungsvollere Form der Hilfe haben zum Verzicht der Übernahme von Verantwortung jenseits sehr spezifischer Projektziele geführt. Kapitel 4 geht der Geschichte der dem humanitären Feld eigenen Autorität nach. Ich zeige auf, wie sich der Humanitarismus zu einem Feld entwickelte, auf dem eine symbolische Positionierung sinnvoll ist.

Mit dem Ende von Kapitel 4 ist meine Analyse der verschiedenen Elemente der praktischen Logik des Feldes der humanitären Hilfe und ihrer jeweiligen Geschichte abgeschlossen. Ich erörtere anschließend in den Kapiteln 5 und 6, wie beharrlich diese Logik ist und wie sie mit Ideen und institutionellen Entwicklungen inner- und außerhalb des Feldes interagiert. Kapitel 5 widmet sich den durchdachtesten und am besten ausgestatteten Reformprojekten, die aus dem Feld der humanitären Hilfe selbst heraus entstanden sind. Damit kann ich den Humanitarismus in seiner jüngsten und, wie manche behaupten würden, überzeugendsten Form untersuchen. Ich werde zeigen, dass auch die Auswirkungen dieser Reformprojekte von dem Streben nach dem guten Projekt geprägt und beschränkt werden. Tatsächlich verwandeln sich diese Reforminitiativen am Ende in einen Teil der institutionellen Struktur des Marktes für Projekte – wobei die eine sich einem Standard für Produkte auf diesem Markt annähert, während die andere, ein Standard für faire Arbeitsbedingungen, die extremsten Formen unfairen Wettbewerbs zwischen Hilfswerken einzudämmen versucht.

In Kapitel 6 greife ich auf, was für das Verhältnis zwischen »uns« und »ihnen« oft als wichtigste ideologische Alternative zur humanitären Hilfe angepriesen wird: die Idee der Menschenrechte. Ich diskutiere die Beziehung zwischen Menschenrechten und humanitärer Hilfe und untersuche die Rolle, die Menschenrechte in letzterer gespielt haben. Ich zeige, dass die Idee der Menschenrechte an sich kein Heilmittel für die Mängel der humanitären Hilfe ist, wie manche behaupten. Der Einfluss der Idee der Menschenrechte ist seinerseits durch die Praxis von Organisationen vermittelt, und dies gilt gleichermaßen für das Feld der humanitären Hilfe wie für das der Menschenrechte.

In meiner Schlussfolgerung komme ich auf die Fragen zur globalen Ordnung zurück, die in der vorliegenden Einleitung aus der Perspektive einer Soziologie spezialisierter Praxisfelder aufgeworfen wurden. Nachdem ich die spezifische Vermittlung zwischen westlichen Gebern und fernem Leiden beschrieben habe, die das humanitäre Feld leistet, skizziere ich einige der politischen Schlussfolgerungen, die wir hinsichtlich dieser Vermittlung ziehen können. Mein Argument wird lauten, dass wir eine Politik nicht nur der Ideen oder Ressourcen, sondern auch der organisatorischen Praxis brauchen.

1»Help Stop the Genocide in Darfur«, auf der offiziellen Website von Safe Darfur, http://savedarfur.org/campaign/savedarfurcoalition [31. 1. 2011] (Webseite abgeschaltet).

2Calhoun, »A World of Emergencies«, S. 375; ders., »The Idea of Emergency«.

3Boltanski, Distant Suffering; Cohen, States of Denial; Chouliaraki, Spectatorship of Suffering; sowie Franks, »CARMA Report«.

4Development Initiatives, Global Humanitarian Assistance Report 2013. Die 12,9 Milliarden US-Dollar signalisieren bereits, seit einem Höchstwert von 13,9 Milliarden im Jahr 2012, einen leichten Abwärtstrend.

5Stoddard, »Humanitarian NGOs«. Vgl. auch Walker/Pepper, Follow the Money.

6So z.B. Easterly, Wir retten die Welt zu Tode.

7Dezalay/Garth, Internationalization of Palace Wars.

8Sassen, Paradox des Nationalen.

9Guilhot, Democracy Makers. Vgl. auch die Untersuchungen über Wirtschaftsexperten von Bockman/Eyal, »Eastern Europe as a Laboratory«, sowie Fourcade, Economists and Societies. Eine theoretische Diskussion über die Verwendung der Feldtheorie für die Erforschung transnationaler Formen und eine Anwendung auf Staaten findet sich bei Go, »Global Fields«.

10Mosse (Hg.), Adventures in Aidland; ders., Cultivating Development; sowie Rottenburg, Weit hergeholte Fakten. Vgl. auch Hilhorst, The Real World of NGOs; sowie Atlani-Duault, Au Bonheur des autres.

11Law, After Method. Vgl. z.B. auch Hilhorst/Serrano, »The Humanitarian Arena«.

12Siehe etwa Pierre Bourdieu mit Bezug auf Weber in Bourdieu, Regeln der Kunst; sowie Becker, Art Worlds. Für eine andere Variante dieser Tradition vgl. Luhmann, »Differentiation of Society«; sowie ders., Die Gesellschaft der Gesellschaft.

13DiMaggio/Powell, »The Iron Cage Revisited«; Fligstein, »Social Skill«.

14Vgl. Barnett/Weiss (Hg.), Humanitarianism in Question; Wilson/Brown (Hg.), Humanitarianism and Suffering; Bornstein/Redfield (Hg.), Forces of Compassion; Feldman/Ticktin (Hg.), In the Name of Humanity; Fassin/Pandolfi (Hg.), States of Emergency.

15Vgl. Dauvin/Siméant, Le Travail humanitaire; Redfield, »A Less Modest Witness«; ders., »Doctors, Borders«; ders., »The Impossible Problem«; Fassin, »Humanitarianism as a Politics«, sowie weitere Aufsätze in Fassin, Humanitarian Reason. Zu Organisationen auf benachbarten Feldern vgl. auch Hopgood, Keepers of the Flame; Hilhorst, Real World of NGOs; Barnett, Eyewitness to a Genocide; sowie Atlani-Duault, Au Bonheur des autres.

16Barnett, »Humanitarianism Transformed«; ders., Empire of Humanity; sowie Walker/Russ, Professionalising the Humanitarian Sector.

17Ich konzentriere mich gezielt auf die Praktiken von NGOs auf dem Feld der humanitären Hilfe. Damit ist eine gewisse Dekontextualisierung verbunden, aber in meinen Augen eine, in der sich die empirische Dekontextualisierung dieser Praktiken widerspiegelt. Für die theoretischen Vorzüge der entgegengesetzten Vorgehensweise, nämlich einer Rekontextualisierung der humanitären Praxis nicht nur »vor Ort« in Notsituationen, wie es üblicherweise geschieht, sondern in das ganze komplexe Spektrum von Praktiken, die sich als humanitär bezeichnen ließen, vgl. Bornstein, Disquieting Gifts.

18Vgl. etwa Singer, Charity in Islamic Societies.

19Benthall/Bellion-Jourdan, Charitable Crescent; Benthall, »Financial Worship«; ders., »Islamic Humanitarianism«; Binder/Meier, »Opportunity Knocks«; sowie Smith, Non-DAC Donors.

20Vgl. Walker/Pepper, Follow the Money; sowie Zhao u.a., »Assortativity Patterns«.

21Bogner/Littig/Menz (Hg.), Interviewing Experts; sowie Meuser/Nagel, »ExpertInneninterviews«. Das Experteninterview unterscheidet sich auch vom lebensgeschichtlichen Interview, für diese Art Forschung vgl. Lewis, »Tidy Concepts«.

1

Auf der Suche nach dem guten Projekt

Jeder Fortschritt ist ein Gewinn im Einzelnen und eine Trennung im Ganzen; es ist ein Zuwachs an Macht, der in einen fortschreitenden Zuwachs an Ohnmacht mündet, und man kann nicht davon lassen.

Robert Musil, Der Mann ohne Eigenschaften

Große humanitäre NGOs haben viel mit anderen Großorganisationen gemeinsam. Doch sie widmen sich sehr speziellen Aufgaben und wenden sehr spezielle Verfahren an. Humanitäre Hilfsorganisationen wollen Leben retten, Leid lindern und menschliche Grundbedürfnisse befriedigen. Ihren üblichen Grundsätzen zufolge verschreiben sie sich dem Ziel, Menschen über nationale Grenzen hinweg und ohne Berücksichtigung von Rasse, Ethnie, Geschlecht oder Religion zu versorgen.22

Wenn wir uns dies kurz durch den Kopf gehen lassen, so bedeutet eine solche Verpflichtung in praktischer Hinsicht, dass die besagten Institutionen irgendein Auswahlverfahren finden müssen, um ihre Aufgabe überhaupt durchführen zu können. Es gibt zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine Überzahl an Menschen, die Hilfe gebrauchen könnten, eine Ausgangslage, über die manche Länderreferenten sehr offen sprechen. »Es ist vielleicht der interessanteste Aspekt meiner Arbeit«, schilderte mir ein entsprechender Mitarbeiter eines medizinischen Hilfswerks, »und zugleich der schwierigste. Ich meine, wenn Sie zwei Patienten haben, wie können Sie da wählen? Beide sind krank, und Sie sind Arzt. Und Bedarf ist überall, und Sie werden die Welt nicht retten!«

Diese Organisationen sind mit einer Variante des Problems der Priorisierung konfrontiert.23 Der zitierte Mitarbeiter bedient sich nicht umsonst der Analogie eines Arztes, denn im Bereich der Medizin wurde am offensten über das Problem der Priorisierung nachgedacht und geschrieben. Trifft man als Arzt beispielsweise auf einem Schlachtfeld oder an einem Unglücksort ein, kann man sich auf eine Reihe von Verfahrensregeln stützen, die einem bei der Entscheidung helfen, wen man vorrangig behandelt; man wird zuerst jene versorgen, bei denen es am dringlichsten ist, wird aber ebenfalls versuchen, keine Zeit mit solchen Opfern zu verlieren, die kaum eine Überlebenschance haben.

Für Hilfsorganisationen stellt sich das Problem der Priorisierung jedoch in besonderer Weise. Eine Länderreferentin ist nicht mit einer Ärztin gleichzusetzen, die sich zwischen zwei Patientinnen entscheiden muss: Sie ist vielmehr Teil einer Organisation, die sich zwischen zwei Schlachtfeldern entscheiden muss. Auch ist das Wirken humanitärer NGOs nach allgemeiner Auffassung und nach ihrem Selbstverständnis eine Reaktion auf das Versagen anderer Leistungsträger. Da NGOs im Prinzip über eine globale Reichweite verfügen und beanspruchen, der gesamten Menschheit unabhängig von Rasse, Glauben, Nationalität oder Wohnort zu dienen, stellt das Problem der Priorisierung das humanitäre Selbstverständnis vor eine besondere Herausforderung. Die humanitären Helfer sind scharfe Kritiker einer internationalen Ordnung, die manche Menschenleben für andere opfert. Doch auch sie müssen auswählen, wen sie retten und wen nicht.24

In diesem ersten Kapitel untersuche ich, wie Entscheidungsträger in Hilfsorganisationen mit dieser Herausforderung umgehen. Wie bestimmen Hilfswerke, wohin sie gehen, wo sie was machen und wie viel sie machen? Wie entscheiden sie sich für ein Land? Wie für ein Problem? Wie entscheidet eine beliebige Einrichtung, speziell welche Menschenleben sie rettet? Wie vergleichen Organisationen die Bedürfnisse von HIV/Aids-Patienten mit denen von Malariapatienten? Die Zentralafrikanische Republik mit dem Sudan? Eine Flut mit einem Bürgerkrieg? Und wie befindet man, ob man mit Latrinen oder mit Ärzten helfen soll? Mit Zelten oder mit Lehrern?

Das sind an und für sich wichtige Fragen: Wie humanitäre Hilfsorganisationen sie angehen und wie sie diese Dilemmata lösen, hat wichtige Konsequenzen für die Frage, wer Hilfe bekommt und wer nicht. Im Zusammenhang dieses Buches haben diese Fragen aber noch einen zweiten, strategischeren Zweck: Zu untersuchen, wie Länderreferenten in Hilfsorganisationen ihre Umwelt handhabbar machen und ihre Komplexität reduzieren, ist ein guter Weg, um die interne Struktur und die alltäglichen Praktiken dieser Organisationen zu erforschen. Eine solche Untersuchung bietet zugleich einen guten Anknüpfungspunkt für eine Analyse der Eigenschaften dieser Organisationen und dieses Organisationsfeldes.

Was ich bei der Erörterung derartiger Fragen mit Mitarbeitern ganz unterschiedlicher Hilfswerke herausfand, bildet die Grundlage für meine These von den gemeinsamen Praktiken und Annahmen im Feld der humanitären Hilfsorganisationen. Ich werde zu zeigen versuchen, dass humanitäre Hilfswerke ein Bündel von Praktiken und Selbstverständlichkeiten teilen, die ihnen dabei helfen, die für sie relevanten Informationen herauszufiltern. Solche Routinen entlasten den Bereich bewusster Entscheidungsfindung um gewisse Aspekte und fungieren als Anleitung und Rahmen für die zu treffenden Entscheidungen.

Meine Untersuchung, wie Entscheidungen über Hilfsmaßnahmen getroffen werden, bildet auch die Grundlage für das spezifische Argument über die Form dieser Praxislogik, das ich in diesem und den drei folgenden Kapiteln entfalte. Ich werde die These vertreten, dass humanitäre Hilfe eine Form von Produktion ist, die einige Dinge in andere verwandelt. Die Agenturen produzieren Hilfe in Form von Hilfsprojekten. Da die Produktionseinheit das Projekt ist, versuchen die Verantwortlichen, »gute Projekte« abzuliefern. Der Zweck des guten Projektes gebiert eine Eigenlogik, die die Ressourcenverteilung ebenso beeinflusst wie die Art von Aktivitäten, die wahrscheinlich unternommen werden – und damit zugleich auch, welche Aktivitäten wahrscheinlich unterbleiben werden.

Diese Praktiken und Annahmen haben eine spezifische Geschichte, die ich in den Kapiteln 3 und 4 erörtere. Manche Praktiken und Annahmen werden von allen humanitären Organisationen geteilt, ob sie säkular oder religiös ausgerichtet sind, einen engen oder einen breiten Schwerpunkt haben, unabhängig oder im öffentlichen Auftrag arbeiten. Alle NGOs streben danach, in dem einen oder anderen Sinn gute Projekte durchzuführen, und diese Orientierung sowie ihre Folgen behandelt das vorliegende Kapitel. Worin sich die NGOs unterscheiden, das sind zum einen ihre inhaltlichen Vorstellungen davon, was ein gutes Projekt ist. Es sind aber auch die Bedingungen, unter denen sie zu arbeiten bereit sind – Unterschiede, auf die ich im vierten Kapitel zurückkomme.

Bevor ich mich den Länderreferenten und dem Problem der Priorisierung widme, möchte ich dieses Problem kurz vor dem Hintergrund bestehender Denkansätze zur humanitären Hilfe erörtern und dabei einige der Voraussetzungen entwickeln, um die praxissoziologischen und feldsoziologischen Fragen dieses Buches stellen zu können.

Zwei Auffassungen von internationalen NGOs

Unser Nachdenken über die globale Zivilgesellschaft ist durch ein ständiges Hin und Her zwischen zwei diametral entgegengesetzten Ansätzen geprägt, von denen jeder ganz andere Implikationen für die mutmaßliche Aufgabe und Rolle humanitärer Organisationen hat. Die eine Herangehensweise konzentriert sich auf explizit formulierte Ideen oder Werte, die andere auf verdeckte Interessen. NGOs dienen entweder angeblich der Menschenwürde und verschaffen den Stimmen der Unterdrückten Gehör, oder sie werden als Werkzeuge der Interessen von Geberstaaten respektive imperialistischen Herrschaftssystemen beschrieben.

Ein großer Teil der Forschung zu NGOs geht selbstverständlich davon aus, dass diese sich für ihre erklärten Ziele und Werte einsetzen. Die Neigung, sich auf die erklärten Ziele zu konzentrieren, fällt besonders stark unter den Beobachtern internationaler humanitärer NGOs auf.25 Aus dieser Perspektive sind bezüglich solcher Organisationen lediglich Fragen nach ihrer Geschichte, ihren Ressourcen und Strategien sowie vor allem nach ihrer Erfolgsquote zu stellen.

Der ausschließliche Fokus auf Werte wird sogar dort aufrechterhalten, wo eingeräumt wird, dass es mannigfaltige Werte gibt, die manchmal auch in Spannung zueinander stehen. Jennifer Rubenstein beispielsweise geht auf eine Reihe von Werten ein, die Entscheidungsprozesse beeinflussen: die Ausrichtung an der Bedürftigkeit, aber auch die Verpflichtung, Leid zu minimieren, das Ziel der Partizipation, der Vorrang für die Opfer intentionaler Gewalttaten. Sie zieht jedoch keine weiteren Gesichtspunkte in Betracht, die die Verteilung von Hilfsleistungen beeinflussen könnten, und übergeht somit auch die Frage, wie diese Aspekte mit den genannten Werten zusammenhängen könnten.26

Geisteswissenschaftliche Kritiker teilen oft die Konzentration auf Ideen mit solchen Autoren, behaupten dann aber in ideologiekritischer Weise, dass es sich um die falschen Ideen handele. Giorgio Agamben etwa vertritt die Auffassung, es sei problematisch, wenn die humanitäre Ideologie sich auf die Vorstellung eines nackten Lebens stütze, die Menschen eine Form von Wert zumesse und sie dabei im gleichen Atemzug aus ihrem politischen Kontext herauslöse.27 Sozialwissenschaftliche Kritiker neigen zu der Argumentation, diese Ideen und Werte seien entweder folgenlos oder nur ein Deckmantel tiefer liegender Interessen. Diese Interessen ließen sich als jene der beteiligten Akteure und Organisationen oder als jene einer Regierung auffassen. Auch klassenbasierte oder systemtheoretische Imperialismustheorien werden auf das humanitäre Handeln angewendet.

Ältere Formen des Humanitarismus und der Philanthropie wie insbesondere die Antisklaverei-Bewegung, aber auch die Strafrechtsreform und die Abstinenzbewegung wurden von Forschern hitzig unter diesen Vorzeichen debattiert,28 und diese Debatten haben sich in der Diskussion über die internationalen NGOs niedergeschlagen. So schreibt der Soziologe James Petras mit Blick auf die Rolle der Kirchen im Kolonialismus: »In den vergangenen Jahrzehnten ist eine neue Art sozialer Institution entstanden, die dieselbe Funktion der Kontrolle und ideologischen Irreführung ausübt – die selbsternannte Nichtregierungsorganisation.«29

In der Auseinandersetzung über die humanitäre Hilfe galt es lange als ausgemacht, dass das relevante externe Interesse das der Geberstaaten ist.30 Petras beispielweise fährt fort: »Die NGOs sind bedeutende weltweite politische und soziale Akteure, die in ländlichen und urbanen Gegenden Asiens, Lateinamerikas und Afrikas operieren und deren Verhältnis zu ihren wichtigsten Geberländern in Europa, den USA und Japan häufig eines der Abhängigkeit ist.«31 Diese Art von Kritik ist unter anderem deshalb geläufig geworden, weil westliche Regierungen sich zunehmend mit humanitärer Rhetorik schmücken, manchmal in einer Weise, die tatsächlich unmittelbar ihren Auslandsinteressen zu dienen scheint.32 Besonders befördert wurde eine solche Kritik durch die Rolle westlicher NGOs bei der amerikanisch-britischen Invasion des Iraks und Afghanistans. Sie veranlasste den damaligen US-Außenminister Colin Powell 2001 zu der Feststellung, NGOs seien »ein solcher Kampfkraftverstärker, ein so wichtiger Teil unseres Kampfverbands«.33

Die Trennung von Werten und Interessen basiert auf einer langen und komplexen Ideengeschichte; in der jüngeren Geschichte der Sozialwissenschaften wird diese Trennung noch verschärft durch die Aufwertung einer bestimmten linearen Vorstellung von Kausalität, bei der »Werte« und »Interessen« oder »Kultur« und »politische Ökonomie« als »Variablen« auf Kosten des jeweiligen Gegenpols konstruiert werden.34 Diese Trennung nimmt in der Politik und in den Internationalen Beziehungen eine besondere Form an, und gerade in letzterem Fach wurden viele der Wissenschaftler ausgebildet, die die wichtige Rolle der humanitären NGOs zuerst registrierten. Die Lehrmeinung in den Internationalen Beziehungen, die sich auf dem Höhepunkt des Kalten Kriegs herausbildete, betonte das eigennützige Verhalten der Akteure, sei es als inhärentes Merkmal von Staaten oder infolge des anarchischen Charakters der internationalen Angelegenheiten.35 Als eine neue Generation von Wissenschaftlern in einem anderen politischen Klima für die Bedeutung gemeinsamer Verständnisse und Werte plädieren wollte, zogen sie zu diesem Zweck vor allem Menschenrechte und humanitäre NGOs heran. Dies veranlasste sie dazu, sich in sehr selektiver Weise mit dem Humanitarismus zu befassen: Der Humanitarismus war interessant für diese Disziplin, weil Werte für ihn eine Rolle spielten. Im nächsten Schritt wurde der Humanitarismus dann über seine Werte definiert.36

Die Unbestimmtheit von Ideen und Interessen