David Whish-Wilson

DIE RATTEN
VON PERTH

Thriller

Aus dem australischen Englisch
von Sven Koch

Herausgegeben von
Thomas Wörtche

Suhrkamp

Lasciata, insomma, alla letteratura la verità, la verità – quando dura e tragica apparve nello spazio quotidiano e non fu più possibile ignorarla o travisarla – sembrò generata dalla letteratura.

Leonardo Sciascia, L’affaire Moro, 1978

Die Babysitterin hatte Ruby Devine noch nie so schick gesehen. »Das Kleid ist von einem Freund«, sagte Ruby. »Der ist einer der besten Modemacher in Perth.« Sie begrüßte das Mädchen mit einem Küsschen. »Komm rein. Rebecca ist oben und guckt fern. Sie wird dich in Ruhe lassen, sie hat ja morgen Schule.«

Ruby führte die Babysitterin in die Küche, wo sie für das Mädchen etwas zu essen vorbereitet hatte. »Mach’s dir einfach warm, wenn du Hunger hast. Heute Abend läuft im Fernsehen noch ein Bogart-Film. Also dann, ich geh schon mal raus und warte beim Auto. Wird auch nicht spät werden.«

Die Babysitterin war schon im Bikini, als es an der Tür läutete. Schnell schlüpfte sie wieder in Jeans und Bluse und öffnete. Ruby. Sie kramte beim Eintreten in ihrer silbernen Kettenhandtasche.

»Ich hab die falschen Schlüssel mit«, sagte sie, nun etwas nervös.

Ein Mann stand neben Rubys Dodge Phoenix und blickte über den Fluss. Auf dem Kopf hatte er einen Fedora. Ruby zog die Babysitterin von der Tür weg, ehe sie nach oben lief. Als sie wieder runtergekommen war, gab sie dem Mädchen einen weiteren Kuss auf die Wange.

Nun konnte das Mädchen in dem großen Haus tun und lassen, was es wollte. Und im beheizten Pool schwimmen. Das Haus war das schönste, das sie kannte. Als sie die Tür verriegelte, hörte sie, wie der Motor röhrend angelassen wurde.

Dienstag, 25. November 1975. Vor sechs Monaten war Ruby Devine mit einem abgesägten Gewehr Kaliber .22 vier Mal in den Kopf geschossen worden. Aber damit hatten Swanns Probleme nicht angefangen. Losgegangen war es schon ein paar Wochen vorher, als seine Tochter von daheim weggelaufen war. Als er vom Mord an der Königin des Lasters erfuhr, war er unten im Süden gewesen und hatte die Städtchen von Great Southern nach Louise abgesucht.

Auf allen Kanälen wurde darüber berichtet: Ruby Devine tot in ihrem Dodge Phoenix auf dem Fairway des South Perth Golf Club. Ermordet und zur öffentlichen Beschau freigegeben. Man hatte keinerlei Anstalten gemacht, die Leiche zu verstecken. Sogar die Australian Broadcasting Corporation, sonst immer nichtssagend staatstragend, bezeichnete die Tat als einen Unterweltmord, und Fernsehexperten faselten von Perths verlorener Unschuld. Auf der langen Fahrt zurück fragte ihn jeder Tankwart und jeder Lastwagenfahrer, ob er’s schon gehört habe. Natürlich wussten sie nicht, dass er Polizist war. Sonst hätten sie auch kaum gefragt.

Die Nachricht war keine Woche alt, und schon kursierte das Gerücht, Ruby sei von der Polizei umgebracht worden. Überall in der Stadt hörte Swann dazu zynische Kommentare.

»Den Täter kriegen die nie«, sagte ein Zeitungsverkäufer mit Gefängnistätowierungen auf den Unterarmen. »Diese Schweine wissen doch genau, wie’s geht. Zuschlagen, ohne dass hinterher was zu sehen ist.«

»Irgendwen kassieren sie schon«, wandte der Mann hinter Swann ein. »Drauf kannst du einen lassen. Ist halt nur nicht der, der’s war.«

Recht behalten sollte der Zeitungsverkäufer, denn selbst nach sechs Monaten hatte die Polizei nichts vorzuweisen. Der Criminal Investigation Branch hatte keinerlei Anhaltspunkte. Nicht den Hauch einer Spur.

Aber was sollte man vom CIB groß erwarten, hatte Swann laut gefragt, wenn Ruby Devines Mörder die Ermittlungen leiteten?

Die Supreme Court Gardens waren vom Glockenläuten erfüllt. Die Verspätung betrug nun schon eine Stunde. Swann wartete im vollbesetzten Gerichtssaal an seinem Tisch. An der Decke schnurrten Ventilatoren. Das Geplauder auf den Rängen hallte vom blanken Boden und den holzgetäfelten Wänden wider. Der einzige freie Platz war der Lederstuhl für den Vorsitzenden der Royal Commission.

Swanns Anzug war frisch gebügelt, seine Haare gekämmt, die Schuhe geputzt und die Krawatte korrekt geknotet. Er saß über den Tisch gebeugt und trommelte mit den Fingern auf die Platte, damit sie nicht zitterten. Jeder Gedanke an seine Tochter war wie ein Stich ins Herz. Im Gerichtssaal waren viele Journalisten und Besucher, aber er wollte niemanden sehen. Viele waren zu seiner Unterstützung gekommen, doch aus einigen Gesichtern sprach auch blanke Sensationsgier.

Swann hatte sich öffentlich über den sogenannten Purple Circle geäußert, eine Gruppe von Polizisten, die über die Verbrecherbosse in Western Australia ihre schützende Hand hielten, und es war ein offenes Geheimnis, dass sie Swann im Visier hatten. Vielleicht war sogar ein Attentäter hier im Saal und wartete auf eine günstige Gelegenheit.

Bei seiner Rückkehr nach Perth und der Nachricht vom Mord an Ruby Devine war er sofort zum Tatort gefahren. Die Polizei hatte den siebten Fairway von der schmalen Straße abgesperrt, die parallel zum Kwinana Freeway verlief; dort standen die Pendler im Stau und glotzten durch den Regen herüber. Am Tatort waren keine Detectives, nur zwei Uniformierte, denen er seine Marke zeigte. Sie hoben für ihn das Absperrband an und führten ihn in das Zelt, das man über Rubys Dodge errichtet hatte. Sie erklärten ihm, was bisher geschehen war, leuchteten mit einer Taschenlampe auf die Blutspritzer am Wagenhimmel und berichteten, dass man auf der Fußmatte, ein Stück weit unter den Beifahrersitz gerutscht, eine einzelne Patronenhülse gefunden hatte.

Nach den Blutspuren im Wageninnern zu schließen, hatte der Mörder vom Beifahrersitz aus einmal auf Ruby geschossen, war dann in aller Ruhe ausgestiegen, auf die Fahrerseite gegangen und hatte drei weitere Schüsse auf sie abgefeuert, ehe er sich davongemacht hatte. Der Todeszeitpunkt war noch nicht bekannt.

Swann verließ den Golfplatz und fuhr nach East Perth zu den CIB-Büros in der Central Police Station. Weil er schon ein paar Jahre nicht mehr in der Stadt arbeitete, kannten ihn die beiden jungen Officers an der Pforte nicht, und er musste sich erst ausweisen, ehe Casey kam.

Schon vom ersten Augenblick an hatte Swann einen Verdacht. Detective Inspector Donald Casey, als Leiter der Consorting Squad zuständig für Bandenwesen und organisierte Kriminalität, hatte eigentlich keinen Grund, wegen Swanns Interesse an dem Mord misstrauisch zu sein, und dennoch war er abweisend und brüsk und wich den Fragen aus unerfindlichen Gründen aus. Vor gut zehn Jahren hatten sie in Kalgoorlie zusammengearbeitet, und beide kannten Ruby Devine recht gut. Aber das schien Casey egal zu sein, vielmehr schnauzte er Swann vor den anderen Polizisten an, er solle abschieben und sich um seinen eigenen Mist kümmern.

Um fünf nach zehn betrat der Right Honourable Justice Partridge schließlich den Gerichtssaal. Der Richter war ein kleiner Mann mit aufrechter Haltung und undurchdringlicher Miene. Er stellte sich neben den Richterstuhl, hob den Hammer und ließ seine wachen blauen Augen durch den Saal schweifen. Dass Partridge aus Victoria stammte und bereits pensioniert war, war das einzige, was Swann über den älteren Mann wusste, der nun mit dem Hammer auf das Bänkchen schlug.

»Auf Geheiß des Gouverneurs erkläre ich die Royal Commission zur Untersuchung über die Durchsetzung des Gesetzes zur Regelung der Prostitution im Bundesstaat Western Australia mit dem heutigen Tag im Monat November im Jahre des Herrn neunzehnhundert und fünfundsiebzig für eröffnet.«

Partridge nickte dem unter ihm sitzenden beigeordneten Anwalt zu. Adrian Wallace, Queen’s Counsel in schwarzer, im Sonnenlicht schimmernder Seidenrobe, drückte die Brust heraus und legte eine Hand auf seinen Rücken. Dann räusperte er sich und nickte Swann zu, dessen Hände aufgehört hatten zu zittern. Nun war er bereit.

»Ich beantrage, dass zur Eröffnung des Verfahrens Superintendent Keith Barlow von der Kommission angehört wird.«

Ein Stöhnen ging durch die Besucherränge. Am meisten enttäuscht waren die Journalisten, die mit gezückten Stiften in der ersten Reihe saßen. Auch Swann sackte zusammen. Kein guter Anfang.

Barlow ging nah an Swann vorbei, und am Zeugenstand setzte er ein Lächeln auf. Er war in vollem Ornat gekommen und hielt seine Ausgehmütze gut sichtbar in beiden Händen. Das Abzeichen darauf glänzte, auch seine Manschettenknöpfe waren auf Hochglanz poliert. Bei der Vereidigung glitzerten seine grünen Augen wie Fischschuppen.

QC Wallace wartete, bis die Bibel wieder an ihrem Platz neben dem Gerichtsstenographen lag. »Superintendent Barlow, nennen Sie uns doch bitte den Dienstgrad, den Sie bei der Western Australia Police bekleiden.«

»Ich wurde unlängst zum Superintendent der uniformierten Polizei an der Central Perth Police Station ernannt.«

Wallace nickte. »Danke, Superintendent. Meine nächste Frage zielt auf den Grund unserer Zusammenkunft hier, nämlich die Anschuldigungen Ihres Kollegen Superintendent Frank Swann. Diese dürften jedem hinlänglich bekannt sein, der in letzter Zeit Zeitung gelesen, Radio gehört oder ferngesehen hat. Wie stehen Sie, als Superintendent der uniformierten Polizei im selben Dienstgrad wie Swann, zu dessen Behauptung, es gebe in den Reihen der Polizeikräfte von Western Australia eine Gruppe korrupter Officers und diese ungenannten Personen stünden mit dem tragischen Tod von Mrs. Devine in Verbindung?«

»Nun, ich will gleich zu Beginn deutlich machen, dass diese Anschuldigungen vollkommen aus der Luft gegriffen sind. In meiner jetzigen Funktion habe ich selbstverständlich eine gründliche Untersuchung …«

Swann beobachtete Barlow bei der Ausführung seiner Antwort. Intern hieß der Mann nur der lächelnde Hinterhalt, er galt als jemand, der schmutzige Wäsche wusch und Kollegen bei Vorgesetzten anschwärzte, um die eigenen Karriereaussichten zu verbessern.

»Es ist natürlich eine Grundregel der Polizeiarbeit, dass man die Stichhaltigkeit der vorhandenen Informationen prüft, ehe man über die Motive einer Tat spekuliert. In dieser Hinsicht hat Superintendent Swann in letzter Zeit einige, nun ja, doch problematische …«

Swann blickte zu Partridge, weil er hoffte, der Richter würde einschreiten, und stellte überrascht fest, dass dessen Miene unverkennbar Missbilligung ausdrückte. Sein Gesicht war so bleich wie seine Perücke, die Stirn lag in Falten, und seine Augen starrten angestrengt auf Wallace.

»Superintendent Barlow, können Sie uns vielleicht erklären, warum sich Superintendent Swann in die Mordermittlungen im Fall Ruby Devine eingeschaltet hat, obwohl er zu jener Zeit eigentlich …« – QC Wallace blickte in seine Unterlagen – »obwohl er Superintendent in Albany war, also einem kleinen Bezirk mit etwa zwanzigtausend Einwohnern gut fünfhundert Kilometer von Perth entfernt?«

Swann sah Partridges Gesichtszüge versteinern, obwohl er die Frage zuließ. Barlow allerdings sprach mit größter Zufriedenheit weiter. Er straffte die Schultern und legte beide Hände auf die Oberschenkel.

»Mr. Wallace, ich hatte keinerlei Kenntnis davon, dass sich Superintendent Swann mit dem Mord an Ruby Devine befasste, ehe mich einer der mit dem Fall betrauten Ermittler des Criminal Investigation Branch, Detective Inspector Donald Casey, erbost anrief. Der Superintendent war mit der Verstorbenen schon seit geraumer Zeit bekannt, ich kann allerdings nichts Genaues über die Art ihrer Bekanntschaft sagen …« Barlow ließ die Andeutung kurz im Raum stehen. »Ich weiß nur, dass Superintendent Swann früher als Detective die Vice Squad geleitet hat und daher mit dem Gewerbe vertraut war.«

Ein kurzer Blick zum Richter genügte Barlow, um zu sehen, dass er es übertrieb. Er holte Luft, um sich zu sammeln. »Ich war natürlich sofort besorgt. Superintendent Swann hatte zu jener Zeit wegen seiner vermissten Tochter Sonderurlaub. Man nahm an, er würde eine Auszeit nehmen wollen, nicht sich in eine Mordermittlung einmischen, die mit ihrem Verschwinden in keiner Beziehung stand.«

Wallace nickte geduldig, während Barlow innehielt und einen Schluck Wasser trank.

»Meine Besorgnis wuchs jedoch weiter, als ich erfuhr, Superintendent Swann habe sich wegen des Gerüchts eingeschaltet, seine Tochter sei einige Tage vor Mrs. Devines Ableben mit ihr zusammen gesehen worden. Detective Inspector Casey hat mir aber versichert, dass dies jeder Grundlage entbehrt und bloßes Gerede ist.«

Barlows Stimme wurde immer lauter, während er sich in den rechtschaffenen Ärger eines geplagten Verwaltungsbeamten hineinsteigerte.

»Daraufhin habe ich Superintendent Swann angewiesen, seine Nachforschungen einzustellen und sich seinen eigentlichen Pflichten zu widmen, aber das hat er rundweg abgelehnt. Deswegen habe ich beantragt, dass er Sonderurlaub nimmt und sich für ein psychiatrisches Gutachten bereithält.«

Swann bemerkte, dass die Augen des Richters im grellen Vormittagslicht zu tränen begannen. Er ließ den Blick durch den Gerichtssaal schweifen, aber niemand außer ihm schien davon Notiz zu nehmen. Alle Augen waren auf Barlow gerichtet.

»… um die guten Beziehungen zwischen uniformierter Polizei und dem CIB wiederherzu …«

Partridge schien sich nur mit Mühe zu zügeln. Seine wachen hellen Augen erfassten Swanns Blick. Sie sahen sich an, dann räusperte sich Partridge und klopfte mit einem knochigen Finger auf das Mikrofon. »Danke, Superintendent Barlow.« Seine Stimme war überraschend kräftig. »Wir haben Ihre Aussage zu Protokoll genommen. Das Gericht vertagt sich nun bis –«

Ein erneutes Stöhnen ging durch die Besucherreihen, als sich Partridge von seinem Stuhl erhob, nach dem Richterhammer griff und erst ein Mal, dann ein zweites Mal damit zuschlug und sich schließlich mit dem Rascheln roter Seide entfernte.

Swann saß im Liegestuhl am Pool und wartete auf Marions Anruf. Seit einem Monat lebte er im Hotel, und seine Frau rief meist um halb sechs an. Heute sah es jedoch nicht danach aus.

Der Nachmittag hatte sich in die Länge gezogen, weil er nichts hatte tun können, als dem abgekarteten Spiel zuzusehen. Seit Bekanntgabe des Untersuchungsauftrags der Kommission hatte er sich auf so etwas gefasst gemacht, aber dass der Purple Circle so ungeniert vorgehen würde, hatte er nicht erwartet. Sie wollten dem Richter weismachen, er sei labil und unzuverlässig oder charakterschwach, seine Zeugenaussage nicht glaubhaft. Ein Zeuge nach dem anderen, jeder ein hochrangiger Polizist, war sofort auf seinen wunden Punkt zu sprechen gekommen – das Gerücht, er habe nach Louises Verschwinden, dem Bekanntwerden seiner Affäre mit einer jüngeren Kollegin und der Trennung von seiner Frau einen Nervenzusammenbruch gehabt.

Wenn es so weiterging, würde es eine kurze Kommission werden.

Er schwenkte den Bodensatz aus matschigem Eis in seinem Glas und trank einen Schluck Whiskey and Dry. Ausnutzen wollte man offensichtlich auch, dass der Kommissionsvorsitzende von außen kam. In der Öffentlichkeit erzeugte die Ernennung eines Richters aus dem Osten den Anschein von Unvoreingenommenheit, aber darauf fiel Swann nicht rein.

Der dröge Queen’s Counsel Adrian Wallace war Swann bekannt. In der Stadt war es ein offenes Geheimnis, dass er spielte und trank, und hinter vorgehaltener Hand wurde auch noch anderes geflüstert. Vor gut einem Jahrzehnt hatte er als aufstrebender junger Staatsanwalt für einen sprunghaften Anstieg der Verurteilungen von Schwerverbrechern gesorgt, und das hatte ihm eine rasche Beförderung zum Crown Law’s Chief Prosecutor eingebracht. Man munkelte, er habe seit einigen Gerichtsprozessen mit dünner Beweislage, bei denen wohl mit kleinen Stupsern und Schubsern nachgeholfen worden war, wenn Worte allein nicht ausgereicht hatten, gute Kontakte zu mehreren Detectives des CIB mit ähnlich steilen Karrieren. Swann hatte gehört, dass der Purple Circle mit Wallace’ Hilfe jeden über die Klinge springen lassen konnte, der ihm nicht genehm war.

Als Swann von Wallace’ Berufung in die Kommission erfahren hatte, hatte er sofort gewusst, was ihn erwartete.

Er nahm die Flasche Jameson, die neben dem von der Sonne ausgebleichten Liegestuhl stand, und füllte sein Glas wieder auf. Das Ginger Ale war aus, aber über solche Feinheiten war er nun schon hinweg. Er blickte auf seine Armbanduhr, stand auf und fingerte in der Hosentasche nach einer Zehn-Cent-Münze. Um fünf war Schichtwechsel in der Central Police Station, aber er ließ Terry immer Zeit, sich ein bisschen umzusehen. Sechs Uhr war der verabredete Zeitpunkt für die Abende, an denen Terry nicht auf Streife war.

Swann kam es albern vor, von einer Telefonzelle anzurufen, aber angeblich war jemand auf ihn angesetzt. Das hieß, sein Telefon wurde wahrscheinlich angezapft. Er hatte einen Freund bei Telecom Australia gebeten, den Anschluss in seinem Hotelzimmer zu überprüfen, und er hatte herausgefunden, dass Swanns Apparat ein Funksignal abgab, obwohl keine richterliche Verfügung zur Überwachung seines Telefons vorlag. Aber das hieß gar nichts. Mit richterlichen Verfügungen hielten sich Caseys Leute nicht auf.

Swann ließ die Münze in den Schlitz fallen und wählte. Seine Hände waren schweißig. Er ließ es drei Mal klingeln und hängte ein. Er nahm die Münze aus dem Schacht, wischte sich die Hände an der Hose ab, blickte auf seine Armbanduhr und ließ eine Minute verstreichen. Er musste aufpassen, wenn er das Telefon in seinem Hotelzimmer benutzte, aber er durfte auch nicht übervorsichtig erscheinen, jetzt da er ihren Schlachtplan kannte. Dass sie seine Glaubwürdigkeit als Zeuge untergraben wollten, passte sowohl zu den Morddrohungen, die er erhalten hatte, als auch zu den beiden Einbrüchen in sein Hotelzimmer – es war verwüstet worden, Unterlagen daraus verschwunden. Und es erklärte die Flut von Anrufen, bei denen eingehängt wurde, sobald er abnahm, die Beschädigungen an seinem alten Kombi auf dem Parkplatz, die spätnachts in der Straße abgefeuerten Pistolenschüsse. Swann wusste, je mehr er sich beschwerte, desto mehr würde er wie der kranke Spinner erscheinen, als den sie ihn hinstellen wollten.

Ganz so leicht würde er es ihnen aber nicht machen. Zeugen einschüchtern war ein alter Trick, das hatte er selbst schon getan. Man setzte sie unter Druck, jagte ihnen Angst ein, machte sie langsam mürbe. Man verfolgte sie, kippte ihre Mülltonnen um, brach in ihre Häuser ein und ließ sie wissen, dass man ihnen jederzeit etwas unterschieben konnte, ohne dass etwas nachzuweisen war.

Swann wählte erneut. Wie erwartet, nahm Terry beim dritten Klingeln ab. Swann sah ihn vor sich, im winzigen fensterlosen Aufenthaltsraum der Verkehrspolizei, das Schwarze Brett an der Wand zugepflastert, dreckige Kaffeebecher im angeschlagenen Emaille-Waschbecken, wie er auf dem zerkratzten Linoleumboden stand, eine Zigarette rauchte und mit einem Stiefel die Tür zudrückte. Dass Leute wie Terry Accardi noch zu Swann hielten, gab ihm Kraft. Terry war einer von mehreren Jungs aus seinem Viertel, die durch Swann zur Polizei gekommen waren. Sie alle waren sich ähnlich – rau, aber schlau.

Swann erkannte das Potenzial, das in ihnen steckte – er war früher genauso gewesen.

»Im Funk nichts zur Untersuchungskommission«, sagte Terry knapp. Er sprach schon so kurz angebunden wie ein Polizist, ein Zeichen, wie gut er zur Truppe passte und die Eigenheiten der älteren Kollegen aufgriff. Terry war zweiundzwanzig und hatte drei der fünf Jahre in Uniform absolviert, die notwendig waren, um Detective zu werden. Und erst dann würde die echte Bewährungsprobe kommen.

»Da wird auch nichts kommen. So wie’s aussieht, halten die da hübsch den Deckel drauf. Was Neues aus der Ballistik?«

»Angeblich kam noch ne Lieferung Gewehre rein, aber bislang keine Ergebnisse.«

»Was sagt der Flurfunk?«

»Großes Rauschen. Weil die Untersuchung jetzt läuft, ist angeblich jeder dran, der mit dir spricht. Wenn’s rauskommt, Versetzung in die Wüste. Und wenn’s auch noch nachweislich ist, Rausschmiss.«

Swann konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. Mit welchem Vergnügen der junge Terry »nachweislich« sagte.

»Soll von ganz oben kommen, von Barlow und Konsorten. Aber natürlich nichts schriftlich.«

»Und was sagen die andren dazu?«

Eine unangenehme Pause entstand, bis Terry antwortete. »Die kennen dich nicht so wie ich.«

»Alles klar. Sag nichts, aber halt die Ohren auf.«

»Keine Sorge. Keiner weiß, dass wir befreundet sind.«

Das hätte Terry nicht extra betonen müssen. Es gab viele gute, anständige Männer, bei den Uniformierten wie beim CIB, es galt jedoch auch ein ungeschriebenes Gesetz, das jedem Rekruten ab Tag eins eingebläut wurde, und zwar dass ein grundlegender Unterschied zwischen Polizei und Verbrechern bestand. Für Terrys junge Kollegen musste es so aussehen, als habe Swann gegen dieses Gesetz verstoßen, habe sich hervortun wollen, indem er sich gegen die anderen gestellt hatte, und mit dem Heraufbeschwören der Untersuchungskommission alle geschwächt. Swann konnte nur auf Terrys Verständnis hoffen, dass er kaum eine andere Wahl gehabt hatte.

»Wie lang hast du noch Nachtschicht?«, fragte er Terry.

»Zwei Wochen, danach weiß ich nicht. Wenn sie heut Nacht zum Einsatz rausmüssen, geh ich mal hoch. Irgendwann müssen sie ja nen Fehler machen.«

Das Gerücht, die Polizei habe beim Mord an Ruby Devine die Finger im Spiel gehabt, kam auf, als bekannt wurde, dass sie regelrecht hingerichtet worden war; und der Verdacht erhärtete sich, als sich rumsprach, dass sie Steuerschulden gehabt und mit Enthüllungen gedroht habe. Die Geheimniskrämereien, von denen die Ermittlungen begleitet waren, befeuerten das Gerücht von der Verwicklung des CIB weiter. Von offizieller Seite hieß es zwar, Swanns Nachforschungen seien schuld an dem Gerede – aber er wusste, das war nur ein Vorwand, um ihn abzuservieren.

Gleich nachdem er seine Erkundigungen begonnen hatte, ging auch das Gerede über ihn los – dass er einen Nervenzusammenbruch gehabt habe, eine Affäre mit einer jüngeren Kollegin, dass Marion ihn rausgeworfen habe …

Nur eine dieser Geschichten stimmte.

»Ich bin die gestrigen Vermisstenanzeigen durchgegangen«, sagte Terry. »Nichts dabei.«

»Die Vorfälle der Tagschicht?«

»Vergewaltigung in East Victoria Park. In Rockingham haben zwei Skinheads einen jungen Prolo zusammengeschlagen, mit nem Zaunpfosten – Schädeltrauma. In der Hay Street hat ein Trupp Prolos ein paar Skinheads angegriffen, ein gebrochener Arm und eine Schädelfraktur. Ziemlich viel häusliche Gewalt. Ne Messerstecherei im Schwarzen-Camp in Coolbellup. Irgendein Osteuropäer in Spearwood hat die Brieftauben seines Sohnes geschlachtet, gebraten und sich schmecken lassen, aber die Anzeige ist schon zurückgezogen. Das Übliche.«

»Danke, Terry. Bis morgen.«

Swann legte auf, und auf dem Weg zurück zum Pool bemerkte er erstmals, dass auf dessen Grund ein alter Grill lag. Auch zerstochene Luftmatratzen und zerbrochene Flaschen lagen da, und ein einzelner regloser schwarzäugiger Kugelfisch blickte empört aus diesem vermüllten Aquarium zu ihm empor.

Er zündete sich eine Zigarette an und sah auf die Uhr. Um sechs Uhr dreißig war er mit Reggie Mansell verabredet, und so, wie es um Reggies Nervenkostüm bestellt war, würde er nicht eine Sekunde warten, wenn Swann sich verspätete. Reggie sah grundsätzlich schwarz, was vermutlich der Hauptgrund war, warum er noch lebte. Er hatte sich angewöhnt, immer seinen Pass und genug Bargeld bei sich zu haben, um einen Monat auf Bali, in Hongkong oder Kuala Lumpur verbringen zu können.

Swann wusste das, weil Reggie ihn dazu gedrängt hatte, dasselbe zu tun, falls mal was schiefging.

Dafür war es jetzt aber zu spät.

Harold Partridge ließ sich tief in den weichen Ledersessel sinken und lockerte den Krawattenknoten. Während der Tee in der Kanne zog, wanderte sein Blick durch das Büro. Dunkelgrüne Wände mit schweren Samtvorhängen. Das Landschaftsgemälde in gedeckten Farben zeigte, so hatte man ihm erklärt, den Bluff Knoll, einen Bergstock in der Stirling Range südlich von Perth; er erinnerte ihn an die Felsmassive der schottischen Highlands, die Margret und er auf der Hochzeitsreise 1925 kennen gelernt hatten. In einer Vitrine lag ein kleiner Kampfstock, ähnlich geformt wie ein irischer Shilleleagh, den der erste Gouverneur der Swan-River-Kolonie, James Stirling, 1830 von den hiesigen Aborigines geschenkt bekommen hatte. Dazu afghanische Teppiche auf dem gewienerten Holzboden und eine cremefarbene Ledercouch, auf der Wallace saß und unaufhörlich rauchte.

Partridge putzte seine Brillengläser mit einem Taschentuch, als seine Assistentin drei Tassen Tee eingoss.

»Zwei Stück Zucker, bitte, Carol«, sagte er leise.

»Das weiß ich noch, Euer Ehren«, sagte sie. »Obwohl Sie früher ja lieber Kaffee mit Milch getrunken haben.«

»Hat mir der Arzt leider verboten. Wegen des Blutdrucks.«

»Und was machen Ihre Kopfschmerzen? Sind sie vorbei?«

Partridge nickte lächelnd. »Alles bestens, danke, Carol.«

Sie gab zwei gehäufte Teelöffel Zucker in seine Tasse, einen in ihre und reichte ihm seine. »Wenn Sie mich fragen, ist das hier sowieso das beste Mittel gegen Kopfschmerz.«

Wallace blickte sie erstaunt an. »Sie beide kennen sich?«

»Carol war Gerichtsstenographin am Victorian Supreme Court, als ich dorthin kam«, sagte Partridge. »Das ist – wie lange? – fünfzehn Jahren her, oder, Carol?«

»Ihr Gedächtnis ist immer noch fabelhaft.«

Er lachte kurz auf. »Sie haben uns sehr gefehlt«, fuhr er fort. »Von heute auf morgen waren Sie verschwunden.«

»Ja, das kam wirklich überraschend. Genau wie Sie sagen, war ich von heute auf morgen nicht mehr Carol Bleaney, sondern Carol O’Halloran. Abends noch anglikanisch und am nächsten Tag katholisch. Über Nacht wurde aus einem Mädchen aus Doncaster eine verheiratete Frau aus Doubleview.«

Am Wochenende hatte Carol ihn vom Flughafen abgeholt und sich dafür entschuldigt, dass sie mit dem Taxi gekommen war – sein Chauffeur hatte sich krank gemeldet. Er erinnerte sich an sie als eine mitteilsame junge Frau, doch das Älterwerden und Muttersein schien ihre Züge sanfter gemacht zu haben, ihr Wesen ruhiger. Er hatte sie auf seine angeschlagene Gesundheit hingewiesen – eine einfache, durch sein Alter jedoch schon beschwerliche Erkältung – und hatte es danach ihr überlassen, sich im Hotel um alles zu kümmern. Sie war sehr hilfsbereit gewesen, hatte für ihn Anrufe entgegengenommen, sich um die Formalitäten gekümmert und sogar Schmerztabletten besorgt, als seine aufgebraucht waren.

Als er die Tasse zum Mund führte, musste er der Versuchung widerstehen, die Augen zu schließen. Seine Arme waren schwer, der Nacken tat ihm weh, aber noch schlimmer war der Kopf. Trotz der Tabletten, die ihm Carol beim Mittagessen gegeben hatte, fühlte er sich schlechter als gestern. Er war froh, dass ihr das Schweigen, das sich im Raum ausbreitete und nach dem Tag bei Gericht Balsam für seine Nerven war, anscheinend nichts ausmachte. Es war schmeichelhaft, dass ihm für die Dauer der Kommission von der Regierung von Western Australia die Nutzung des großen Saals des Supreme Court überlassen worden war, aber akustisch waren die hohen Wände und harten Oberflächen ein Alptraum. Jedes Knarren und Knarzen des Bodens hallte laut, und dazu kamen die bombastischen Ausführungen von Wallace. Der Mann hörte sich offenkundig gern reden, und in der jetzigen Stille fühlte er sich sichtlich unwohl.

Der Queen’s Counsel wirkte erleichtert, als es an der Tür klopfte und er aufstehen konnte. Von seinem Anwaltsassistenten nahm er eine maschinenschriftliche Liste entgegen und reichte sie an den Richter weiter.

Partridge überflog die Namen der Zeugen für den morgigen Tag. Es waren ausschließlich hochrangige Polizisten sowohl der uniformierten Kräfte wie des CIB, darunter sogar Pensionäre.

»Ich sehe, dass Superintendent Swann morgen nicht aussagen wird«, bemerkte er.

»Nein, Euer Ehren. Ich wollte erst den gesamten Kontext klar darlegen –«

»Wer vertritt eigentlich Superintendent Swann, Mr. Wallace? Kennen Sie seinen Rechtsbeistand?«

»Der Superintendent vertritt sich selber.«

»Darf ich erfahren, warum? Heute stand jedem Zeugen ein Anwalt der Polizeigewerkschaft zur Seite.«

Wallace strich sich bedächtig über den Bart. »Euer Ehren … die Gewerkschaft hat abgelehnt, Superintendent Swann in dieser Sache zu vertreten.«

»Ach so? Und mit welcher Begründung? Er ist doch auch im Polizeidienst, oder? Beurlaubt zwar, aber noch aktiv.«

»Ja, das stimmt.« Wallace trank schlürfend von seinem Tee und wischte sich mit einem Taschentuch über den Mund. Vermied es, seinem Gegenüber in die Augen zu sehen.

Partridge wartete, bis die Stille Wallace zum Blickkontakt zwang.

»Nun?«

Der Anwalt verzog das Gesicht und zündete sich eine neue Zigarette an. Er wartete mit der Antwort, bis er den Rauch ausgestoßen hatte.

»Euer Ehren, Ihnen wird inzwischen aufgefallen sein, dass Superintendent Swann von seinen Kollegen mit einer Mischung aus Mitleid und Verachtung betrachtet wird. Er hat keinerlei Beweise, die seine Anschuldigungen stützen könnten. Hätte er welche, dann wären sie schon an die Öffentlichkeit gedrungen, die ja nur zu gern Gerüchte aufgreift und für bare Münze nimmt.«

»Welche Gerüchte denn, Mr. Wallace?«

»Sollen wir uns hier wirklich mit Gerüchten befassen?«

»Das klingt doch nach guter Unterhaltung.«

Carol, die auf ihre Teetasse gestarrt hatte, erhob sich mit unschuldiger Miene. »Ich geh kurz nach draußen, neues Wasser aufsetzen«, sagte sie und nahm das Silbertablett.

»Sehr gut. Vielen Dank, Carol.«

Wallace wartete mit der Antwort, bis sie den Raum verlassen hatte. Und dann begann er sehr zögerlich. »Es wird ziemlich viel geredet, müssen Sie wissen.«

Kein Anwalt in Melbourne, dem nur das Geringste an seiner Karriere gelegen war, würde ein solches Benehmen an den Tag legen, dessen war sich Partridge sicher. Und genauso sicher war, dass sich kein Anwalt in Melbourne in Gerichtsräumen so nachlässig kleiden würde. Wallace hatte die Robe des Queen’s Counsel aus dem Gerichtssaal abgelegt und trug nun Schlaghosen und ein Hemd mit breitem Kragen, offen bis zur Brust.

»Wie Sie wissen, Mr. Wallace, bin ich eben erst in Ihrem Bundesstaat angekommen. Mich würde durchaus interessieren, wie die Leute hier Ihrer Meinung nach die Stichhaltigkeit von Superintendent Swanns Behauptungen über die Prostitution in Western Australia beurteilen.«

Tee trinkend lauschte Partridge den unwillig vorgebrachten Ausführungen von Wallace über die »allgemeinen Kenntnisse« der Bürger Perths über Prostitution, die auf eine lange Geschichte der Korruption schließen ließen. Dabei ruhte der Blick des Queen’s Counsel immer auf einem Punkt über dem Kopf des Richters, und Partridge betrachtete im Gegenzug dessen abgelegte Robe, die wie eine Marionette an der Tür hing.

Wallace hörte auf zu reden, drückte seine Zigarette aus, sah dann demonstrativ auf seine goldene Armbanduhr und strich sich über Bart und Koteletten. Die Reserviertheit des Mannes bestätigte nur, was Partridge schon vermutet hatte – dass der Queen’s Counsel nicht nur fremden Weisungen folgte, sondern auch Protektion genoss.

Er kam mit dem Abendflug aus Sydney. In seiner Erinnerung war der November ein Monat mit heißen Vormittagen, kühlen Nächten und starkem, vom Ozean kommendem Südwind, doch draußen war es noch immer heiß, die Luft raucherfüllt. Er sah die brennenden Hügel hinter Kelmscott. Dort hatte er als Kind gelebt, und gemeinsam mit seinem älteren Bruder hatte er damals auch ein paar Mal gezündelt. Er steckte sich eine Zigarette an und trat ans Ende der Schlange vor dem Taxistand.

Er schätzte, dass er höchstens eine Woche bleiben würde. Seiner Frau hatte er gesagt, er würde einen Monat weg sein, denn nach dem Auftrag wollte er mit einem Freund, den er seit Jahren nicht gesehen hatte, noch nach Norden zum Fischen. Sie wollten sich in Dongara ein Boot mieten und an der Küste bis zu den Abrolhos Islands hochfahren, wo es um diese Jahreszeit Unmengen von Spanischen Makrelen gab.

Durch den Zigarettenrauch betrachtete er die Rauchschwaden des Buschfeuers und dachte an ein Feuer seiner Kindheit, das außer Kontrolle geraten war – überlebt hatten sie nur dank der Höhle, die er und sein Bruder als Unterschlupf eingerichtet hatten. Sie war niedrig und eng, aber sie hatten sich sogar Regale für Konserven, Brennholz und Pornohefte eingebaut. Die Öffnung lag versteckt hinter einem Wachsblumenstrauch, der im Feuer verbrannte. Sie verbargen sich in der Höhle, während das Feuer bis an den Fuß der Hügel hinabraste, und hörten zu, wie die geparkten Autos in der Hitze explodierten.

Sie beschlossen, so lange versteckt zu bleiben, bis sie gefahrlos nach Hause konnten. In der Zwischenzeit aßen sie kalte Bohnen aus der Dose und onanierten, bis ihr Versteck vom Schein von Taschenlampen erfasst wurde und man ihnen befahl, vom Hügel runterzukommen und die Fragen der Feuerwehr zu beantworten. Nicht zum ersten Mal hatte sein Bruder sie aus der Sache herausgeredet. Er starb später in Vietnam durch eine Claymore-Mine, die der Vietcong erbeutet und dann gegen seinen Zug eingesetzt hatte. Seine Leiche wurde nie geborgen, weil er sich in roten Nebel verwandelt hatte.

Die Taxischlange bewegte sich nicht vorwärts. Er sah auf die Uhr. Er wollte auf dem Boot wohnen, vor der Küste kreuzen und Makrelen und Riffbarsche angeln und vielleicht auch Haie harpunieren, falls sie welche ans Boot locken konnten. Er hatte schon seit Jahren keinen Urlaub mehr gemacht, da waren zwei, drei Wochen Fischen genau das Richtige. Außerdem ging es bei seiner Sache hier ebenfalls um einen dicken Fisch, und wenn er nach dessen Tod zu schnell zurückflog, würde das nicht gut aussehen.

Bei der Ausführung der Tat rechnete er eigentlich nicht mit Schwierigkeiten; er kannte die Person, um die es ging. Das einzige Problem war der wenige Schlaf, solange er seinen Mann beobachtete. Aber er hatte sich in den letzten Wochen darauf vorbereitet und kam nun mit wenigen Stunden pro Nacht aus. Um nicht bequem zu werden, beschloss er, die Schlange Schlange sein zu lassen, zu Fuß in die Stadt zu gehen und sich unterwegs ein Auto zu besorgen.

Das Bistro Gregorio lag an einer stillen Ecke gegenüber der Esplanade. Wie als Kind schon blieb Swann kurz stehen und sah den Möwen zu, die um die Straßenlampen kreisten und, von einer Korona aus Staub und violetter Nacht umgeben, Motten jagten.

Nach dem Eintreten hielt er sich im dunkleren Bereich des Lokals. Reggie saß auf seinem üblichen Platz neben der Toilettentür, fern von den Fenstern, aber nah genug an der Bar, um Greg zunicken zu können. Der Barkeeper hatte Swann schon ein ordentliches Glas Jameson eingeschenkt und ließ es ironisch über die Theke schliddern.

Swann deutete mit dem Kinn auf den Plattenspieler hinter der Bar. »Hab ich noch nie gehört.«

Greg zuckte zusammen. »Mann, das ist Herbie Hancock. Kennt man doch. Fusion.«

Swann führte sein Glas an den Mund, damit ihn der Barkeeper nicht grinsen sah. Er zog Greg gerne auf, aber man musste aufpassen, der Kerl war empfindlich. Greg spielte Klavier und griff in ruhigen Momenten auch selbst in die Tasten. Bislang hatte er meist Oscar Peterson, Nat King Cole und Duke Ellington gespielt, aber in jüngster Zeit waren immer mehr neue Sachen dazugekommen, weswegen er offenbar meinte, sich rechtfertigen und verteidigen zu müssen. Das letzte Mal, als Swann hier gewesen war, hatte ein Betrunkener Greg dieselbe Frage gestellt – »Wer spielt denn da?« –, und als Greg »Chick Corea« geantwortet hatte, hatte der Mann laut gefragt, ob sie auf den Instrumenten spielten oder sich damit verprügelten. Daraufhin hatte sich Greg geweigert, ihm noch etwas zu trinken zu geben.

Swann und Reggie aßen nie in dem Bistro, aber sie waren dort ungestört, und Greg war der letzte Barkeeper Perths, der noch direkt aus der Flasche ausschenkte und die Gläser großzügig füllte. Swann ging mit seinem Whiskey zu Reggie, der einen Stuhl so hinstellte, damit Swann mit ihm zusammen die Eingangstür im Auge behalten konnte.

Reggie hatte seine Eigenheiten, aber Swann hatte sich daran gewöhnt. Das hellrote Haar, das wie tropisches Gestrüpp aus dem großen runden Schädel spross, fiel ihm inzwischen genauso wenig auf wie die großen blauen Augen, deren Tränensäcke stets kurz vorm Überlaufen schienen. Reggies Haut war hell wie die eines Kindes, und an heißen Sommertagen sah man ihn in langen Ärmeln und mit einem breitkrempigen Damenhut durch die Stadt schleichen. Er war der Sohn reicher Eltern aus einem besseren Vorort, Dalkeith, und aus seiner Zeit als Anwalt hatte er sich eine Vorliebe für englische Fliegen mit schrecklichen Streifen und irrwitzigen Punkten bewahrt. Seine Hemden waren in der Regel bekleckert, die Gürtel verdreht und verkehrt, die Hosen zu kurz oder zu eng oder beides und die Schuhe abgetragen und schief, aber die Seidenfliegen unter seinem dritten Kinn waren immer makellos.

»Und? Ausgeschlafen, Reggie?«, begrüßte ihn Swann wie immer.

»Zum letzten Mal am Samstag, nach einer Flasche Kochsherry auf Mutters Couch.«

»Wie geht’s ihr denn? Hat das mit dem Führerschein geklappt?«

»Ja, hat es. Besten Dank.«

Nachdem Swann bei einem Sachbearbeiter der Verkehrspolizei ein gutes Wort für sie eingelegt hatte, hatte eine Dreiundneunzigjährige mit einem PS-starken Holden Brougham ihren Führerschein wiederbekommen. Swann war froh, dass er zurzeit nicht so viel mit dem Auto unterwegs war.

»Großer Auftritt von Barlow heute«, sagte Reggie. »Ich hätte gedacht, dass sie’s dezenter angehen. Aber jetzt auch das noch.« Er ließ die Abendzeitung auf den Tisch fallen. Die Schlagzeile lautete: KOMMISSION PRÜFT SWANNS GEISTESZUSTAND.

Swann hielt eine Hand vor sich, Handrücken nach oben. Sie zitterte nur leicht.

»Sieht gut aus«, sagte Reggie. Doch in der Stimme schwang Zweifel mit.

Nach Louises Verschwinden, nach dem Mord an Ruby und nach dem Abbruch jeglichen Kontakts zu Helen war es Reggie gewesen, der Nacht für Nacht bei Swann gesessen und ihm zugehört hatte. Und als er sich, enttäuscht über das Ausbleiben jeglicher Ermittlungen, an die Medien gewandt hatte, um eine Reaktion von Rubys Mörder zu provozieren, fassten er und Reggie den Entschluss, eine Kampagne zu starten und die Affäre weiter am Köcheln zu halten.

Eine Zeitlang hatte das auch gut funktioniert. Wenn ein Superintendent der Polizei von Western Australia öffentlich von Polizeikorruption sprach, erzeugte das so einen Aufruhr, dass sich die Regierung schließlich gezwungen sah, eine Untersuchungskommission einzurichten. Zeugen, die sich anfangs bedeckt gehalten hatten, begannen zu reden, andere schlossen sich an und behaupteten, Polizisten hätten ihnen nahegelegt zu schweigen. Doch Reggies und Swanns Hoffnung auf Gerechtigkeit schwand, als der Untersuchungsauftrag der Royal Commission bekannt gegeben wurde.

Swann drehte die Zeitung um. »Ist ja nicht ganz bei den Haaren herbeigezogen. Hast du sie angerufen?«

»Klar. Ich hab den Redakteur angerufen und gefragt, was aus dem hehren Grundsatz von ›unbestechlich und neutral‹ geworden ist. Der mächtigen vierten Gewalt.«

»Und?«

»Er meinte, der neue Chefredakteur – der Typ, den sie aus Victoria geholt haben – hat ihn genötigt, diese Linie zu fahren. Er vermutet, dass es vom Premierminister und vom Polizeiminister und sogar von Barlow einen Anschiss gab – samt Androhung von Liebesentzug. Wenn sie darüber noch mal was anderes bringen als die Verlautbarungen der Kommission, und zwar wortwörtlich, ist es aus mit den Exklusivstorys aus gut informierten Kreisen.«

»Keine Märchen mehr von gerechten Strafen für böse Buben? Na, so was. Dabei schreibt Barlow doch jetzt schon die halbe Zeitung.«

»Und jede zweite Überschrift.«

Greg hatte die Musik lauter gestellt. Swann dankte ihm mit einem Nicken, aber der Barkeeper sah ihn skeptisch an.

»Langsam komm ich mir vor wie ne Voodoo-Puppe.«

»Beim Selbstmitleid kannst du nicht gegen mich anstinken, Swann.«

Nun folgte die unvermeidliche Pause, die bei jedem ihrer Treffen im Bistro eintrat. Die beiden Männer waren eigentlich keine Freunde, und Swann hatte keine Ahnung, was Reggie von ihm persönlich hielt – fand ihn vielleicht etwas ungehobelt, etwas maulfaul, etwas zu sehr ein Bulle. Aber Swann empfand Hochachtung für den ehemaligen Anwalt, weil er zweifellos die auf verrückteste Art mutige Person war, der er je begegnet war – und das waren nicht wenige.

Reggies Geheimnis war ein weitverzweigtes Netz an Kontakten in jeder erdenklichen Institution. Swann hatte selbst seine verlässlichen Informanten, aber sein Verhältnis zu ihnen war völlig anders. Er hatte vor langer Zeit begriffen, dass sich manche Menschen fast zwanghaft Mächtigeren andienten. Es war ein klassisches Herr-Knecht-Verhältnis. Wenn sie Swann etwas zuflüsterten, dann legten sie auch ihr Leben in seine Hände und befriedigten ein Bedürfnis, das weit über Eigeninteresse hinausging.

Reggies Leute waren von ganz anderem Kaliber. Um sie zu schützen, war er ins Gefängnis gegangen, hatte Prügel bezogen und Bestechungsgelder abgelehnt, und alle wussten davon. Alle wussten, wer etwas mitzuteilen hatte – etwas Wichtiges, egal ob offiziell oder vertraulich –, für den war der stille, mutige, verrückte Reggie der richtige Mann.

»Weißt du was über den Richter?«, fragte Swann.

»Er ist sauber, soweit ich sehe. Die Gradlinigkeit in Person, schon seit seiner Studienzeit.«

»Und was heißt das für uns?«

»Keine Spielchen. Der Vater und Schwiegervater waren ebenfalls Richter. Bei ihm läuft alles nach Vorschrift, er besteht praktisch daraus. Macht keine Welle, will keinen Ärger, tanzt nicht aus der Reihe.«

»Fällt dir vielleicht noch eine Phrase ein?«

»Klar. Ein gut geöltes Rädchen im Betrieb.«

»Okay, verstehe. Aber was ist mit der Kombi Partridge und Swann …?

»Gleich und gleich?« Reggie vergaß sich für einen Moment und zeigte beim Lächeln seine schlechten Zähne. Gleich darauf versiegelte er das Loch mit einem Mundvoll Whiskey. »Er war Richter am Victoria Supreme Court. Ist erst vor kurzem pensioniert worden, und jetzt war er als Einziger zur Hand.«

Swann zuckte mit den Schultern. Ein Nicken zu Greg, zwei Striche mehr auf seinem Deckel.

»Was Neues von deinem Jungen im Dienst?«, fragte Reggie.

Swann schüttelte den Kopf. »In Australien sind zweitausend Anschütz-Gewehre registriert. Von gut zweihundert weiß man, wo sie sind. Da hat’s offenbar keiner eilig.«

»Wurde schon wer vernommen?«

»Niemand.«

»Also ist Jacky immer noch die einzige Verdächtige? Das ist doch ein Witz.«

Jacky White war Ruby Devines Geliebte gewesen. Die Einundzwanzigjährige war nach dem Mord verhört worden, wurde dann aber ohne weitere Verdachtsmomente entlassen, jedenfalls laut Terry, und war danach sofort verschwunden. Ein gefundenes Fressen für Casey und seine Leute, um sich auf sie als Hauptverdächtige zu stürzen. Es ging das Gerücht, sie sei ebenfalls ermordet und im Kiefernwald von Gnangara verscharrt worden.

Das Einziehen der Anschütz-Gewehre war nichts anderes als Beschäftigungstherapie; die Waffe, mit der Ruby erschossen worden war, war höchstwahrscheinlich nicht registriert gewesen und inzwischen zerstört worden. Die Zeugenbefragungen konzentrierten sich auf alle, die Rubys Dodge im Vorbeifahren gesehen hatten. Die finanzielle Situation der Verstorbenen und die angedrohten Enthüllungen hatte man nicht untersucht.

Swann hatte es längst aufgegeben, vom CIB Aufschlüsse zu erwarten. Wer auch immer Ruby umgebracht hatte, er hatte sich vollkommen sicher gefühlt. Auch der Tatort sprach Bände. Sie war kaltblütig erschossen worden, und ihr Körper war einfach liegen gelassen worden, als Warnung für andere. Für andere, die wussten, was Ruby Devine gewusst hatte.

Und das wollten Swann und Reggie nun herausfinden.

Reggie nahm eine Craven A aus Swanns Päckchen. Die Zähne taten ihm wieder weh – Swann erkannte es an der Art, wie er von seinem Whiskey trank, aber nicht schluckte, sondern sich damit den Mund spülte. Und noch etwas beunruhigte ihn.

»Was ist los, Reggie?«

Statt einer Antwort verzog Reggie das Gesicht. Er holte tief Luft, den Blick zur Decke gerichtet. »Leider schlechte Nachrichten. Es könnte eine weitere Falschinformation des CIB sein, aber es sieht so aus, als würde Helen vor der Kommission erscheinen. Wie gesagt –«

Swann hob eine Hand. »Schon gut. Das hab ich erwartet.«

Das war gelogen, und beide wussten es. Wider alle Vernunft hatte er gehofft, dass sich die Kommission nicht für Helen interessieren würde, aber angesichts des bisherigen Vorgehens war das blauäugig gewesen. Obwohl er nervös wurde – er spürte seinen Puls in Nacken, Handgelenken, Schläfen –, betrachtete er Reggie gleichmütig und versuchte, es auf die leichte Schulter zu nehmen. »Dann hatte ich eben eine Affäre mit ihr. Sie will’s alle Welt wissen lassen, aber das ist ihre Sache.«