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Friederun Pleterski

Dalmatinisches Inselbuch

Von der Kunst, nichts zu tun

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DRAVA VERLAGZALOŽBA DRAVA GMBH

Die Erstausgabe erschien 2009 © Verlag Carinthia in der Verlagsgruppe Styria GmbH & Co KG Wien - Graz - Klagenfurt

ISBN 978-3-85435-821-3

Inhalt

Altweibersommer

Am Postamt

Schäferidylle

Im Rosengarten

Der Mann vom Vorjahr

Ein kleiner Knochen

Zurück zu den Wurzeln

Wassersparen

Dinner für ältere Herren

Der Sohn des Fischers

Fast Food

Tod auf den Inseln

Arbeitsmoral

Es regnet in Linz

Monte Carlo

In der Zisterne

Ugor, der Meeraal

Summertime

Endlich krank

Unternehmungslustig

Tempowechsel

Dorfhochzeit

Gegrillte Sardinen

Können Sie chillen?

Das große Fest

Die Wallfahrt

Lucianos Traum

Platzangst

So fängt man Kalamari

Tramontana räumt auf

Frieden

Schwarzes Risotto

Lust auf eine Zigarette

Alles neu, macht der Mai

Das Boot

Der große Fang

Rezeptverzeichnis

Dalmatinisches Inselbuch

Zur zweiten Auflage

Noch gab es auf der Insel eine Grundschule, noch presste man Olivenöl und erzeugte Käse. Noch gab es betagte Menschen, die von früher erzählten, einige waren nie von der Insel weg gekommen. Es gab die Rentner, die nach Amerika ausgewandert waren und die nun wieder hier sind, in ihren neuen, großen Häusern leben. Man setzt sich zur Ruhe auf Olib. Nur die Neuen, die bosnischen Kroaten, die sich als Maurer und Tausendsassas an der Küste eine bescheidene Existenz aufbauen wollen, suchen nach Arbeit. Es gab viele Pläne, ein jeder hatte einen anderen. Ich durfte mit zum Fischen, zur Jagd und zu den Familienfesten, denn ich hatte mich in einen gut aussehenden amerikanischen Inselmann verliebt. Es faszinierte mich, wie er sich kompromisslos dem Müßiggang hingab, womit er nicht der Einzige war. Wie aber halten es glückliche Müßiggeher mit der Zukunft? Um wen kümmern sie sich? Mit ihnen bleibt alles so, wie es ist. Noch war die Insel mit ihren einsamen, wilden Stränden ein Paradies.

Altweibersommer

Ein eleganter, weißer Katamaran und ein bauchiges Piratenschiff aus Holz ankern in der Bucht. Bikinis flattern an den Wäscheleinen im Wind, das Meer ist blau und die Morgensonne taucht die Landschaft in ein mildes, goldenes Licht. Ein sanftes Lüftchen zeichnet dem Wasser ein Rippenmuster.

An der Mole liegen zwei alte Fischerboote, in jedem sitzt ein Mann. Der eine ist mein Nachbar Vinko, der andere sein Cousin Igor. Ich unterbreche meine morgendliche Jogging-Runde und gehe auf die beiden zu. „Schön, dass du kommst“, sagt Vinko. „Obwohl du mich nicht liebst. Du liebst Stanley.“ Und dann zeigt er auf Igor: „My partner.“ Weiß ich, mein Hirn ist kein Sieb. Ich merke mir die Namen noch gut.

Vinko ist dabei, Fische aus dem Netz zu lösen. Er wirft sie in eine Kiste, ich schätze, dass es mindestens zehn Kilo sind. Kleine Exemplare in allen Farben und Formen. Rote, stachelige Seeteufelchen, schimmernde Goldbrassen, grau gestreifte Wolfsbarsche, blaue Seenadeln. Ein leeres Netz ist zu einem Haufen zusammengerollt. Die beiden Fischer verbreiten Zufriedenheit. „Oooooch …“, sagt Vinko, „lauter Kleinzeug.“ Er müht sich mit dem Netz ab und löst jene Fische heraus, bei denen es leicht geht. Die anderen lässt er in den Maschen hängen. Er sagt: „Jetzt weißt du, wofür ich den ganzen Sommer gearbeitet habe.“ Oh, ja. Ich erinnere mich. Drei Wochen lang saß er Tag für Tag unter der Weinlaube vor seinem Haus im Schatten und flickte die Netze mit den dazu bestimmten Fäden und einer langen Nadel. Seine Frau Maria saß daneben und schaute ihm zu. Manchmal manikürte sie ihre Fingernägel, oder sie nahm ein Fußbad und stöhnte wohlig: „Aaaahhh.“ Ich erinnere mich, was er damals sagte. Er sagte es auf Italienisch, manchmal reden wir neben englisch und kroatisch auch italienisch hier auf der Insel. Er sagte: „La vita e’ un passatempo.“ Das Leben ist dazu da, um sich die Zeit mit angenehmen Dingen zu vertreiben.

„Auf dem Boot dort“, sagt Vinko und dreht sich langsam in die Richtung, in der die Jachten liegen, „sind lauter hübsche Mädchen.“ Seine schwarzen Äuglein blitzen: „I like to look.“ Die Busenhalter und Höschen an der Wäscheleine winken uns zu. „Aber look nur“, denke ich, „es tut dir gut, und Maria hat schon lange nichts mehr dagegen.“

Die Männer in ihren bunt karierten Hemden und dem gelben Ölzeug, in ihren weißblau gestrichenen Booten, das Netz voller Fische, die Morgensonne in den braun gebrannten, von Falten zerfurchten Gesichtern – ein Bild für Götter. Und Götter sind sie, die Herren auf Mali Otok und ich bin die Götterbotin. Gott Vinko trägt mir einen Dienst auf: „Sag Maria bitte, dass wir einen großen Fang nach Hause bringen, wenn du heimkommst.“ Ich übermittle gern.

„Na gut“, antworte ich und laufe den Weg wieder zurück. Ach, wie ich ihn genieße, diesen Morgenlauf. Wenn ich laufe, entspanne ich mich. Wenn ich laufe, fliegen mir die Gedanken zu. Ich laufe vorbei an Myrten und Lorbeer, an Wacholder und Oliven. Ich schaue genau auf den Weg, beachte jeden Stein, ich will nicht mehr stolpern und auf einer Steinkante landen, zwischen Knie und Schienbein. Fast ein Jahr war ich außer Gefecht, das Bein geschwollen, das Knie war nur unter Schmerzen biegsam. Ein Jahr Therapie. Nein, keine Operation. „Blöd gefallen, gell? Vielleicht sollten Sie jetzt walken?“ Am nettesten war noch der Arzt, der sagte: „Es braucht seine Zeit. Es wird schon.“ Er zeigte mir eine Unterwasser-Übung. Ich übte im Meer bis in den November hinein, dann waren die Beschwerden vorbei.

Den Weg zwischen den Natursteinmauern kenne ich beinahe auswendig. Die Senke, in der das Moos auf den Steinen wächst, die Baumkronen der Steineichen, die aussehen, als hätte sie jemand zu Kegeln und Kugeln getrimmt. Ein wenig wie am Friedhof sieht es hier aus. Der Weg schlängelt sich hoch, bis zum Gedenkkreuz, dann geht es wieder hinunter. Sie stellen hier gerne Kreuze auf, Kapellen, Kirchen, weil sie hier katholischer sind als der Papst. Zwischen den Ästen der Eichen lauern fette Spinnen in ihren riesigen Netzen. Ein Fasan fliegt auf. Ein schwarz-weiß geschecktes Schaf hat sich verlaufen und flüchtet, als es mich sieht. Endspurt. Ich dehne meine Gelenke. Ein paar Minuten später bringe ich Maria die Frohbotschaft: „Vinko hat ein paar Kilo Fische im Netz. Er kommt bald. Das gibt Arbeit für dich: Fische putzen!“ Das macht Maria nichts aus, im Gegenteil. Sie ist so stolz auf ihren Ehemann, sie freut sich und krächzt: „Very good!“

Vor meinem Haus wuchern die Rosmarinstauden, die beiden Zypressen am Eingang sind uralt. Die Wiese ist saftig grün, wie England im Sommer. Hier war es im Sommer staubtrocken. Der Tau am Morgen und die Feuchte der Nacht hat die Landschaft wieder grün gemacht, ganz ohne Bewässerung. Lässt man die Dinge, so wie sie sind, werden sie sich von selbst ändern, wenn die Zeit dazu gekommen ist.

Ich ziehe den ausgeleierten Badeanzug an, ein neuer wäre längst fällig, doch wozu? Es ist Altweibersommer und niemand außer mir schwimmt im türkisblauen Meer. Zum Frühstück gibt es frisches, warmes Brot, Kaffee, Feigenmarmelade und Obst. Alleine zu frühstücken macht mir nichts aus. Es ist ein Ritual, das ich sogar mag. Was mir beim Laufen einfiel, Ideen, Geschichten, Pläne, leistet mir nun Gesellschaft.

„Ach, Stanley.“ Für Vinko und all die anderen ist es klar: Stanley und ich sind ein Paar. Wenn sie wüssten! Gar nichts ist klar. Stanley, der Mann mit den schlanken Händen, dem gewinnenden Blick und dem verschmitzten Lächeln hatte nie mehr als „I like you“ gesagt, weil er das Meer mehr als jede Frau liebt. Es ist schon länger her, dass wir uns begegneten, auf so einer kleinen Insel läuft man sich über den Weg. Es war eine Sommerliebe, und nachdem wir drei Tage und Nächte sehr zusammen waren, flog er zurück nach Amerika. Die Frauen sagten: „Es ist schade, dass er weg ist. You are such a quuuuuuite couple.“ Die Frauen sagten: „Fahr ihm nach.“ Sie wissen nur allzu gut, wie man mit Inselmännern umgeht. Nachdem er wieder drüben war, telefonierten wir miteinander und sagten: „I miss you.“

In ein paar Tagen werde ich die Läden dicht machen und die Stecker aus der Dose ziehen, ich werde Reis und Nudeln in Schachteln packen, damit die Mäuse im Haus nichts Essbares finden. Angelo, der Mann, der auf mein Haus aufpasst, wenn ich nicht da bin, wird meine Koffer mit seinem neuen Quad abholen und im Gepäcksraum der Fähre verstauen. „Bis bald, Sijora“, wird er sagen. „Sijora“ sagen sie hier, nicht Signora. Ich werde wie immer auf das Oberdeck der „Maraskino“ steigen und in die Hauptstadt an der Küste fahren. Es braucht über eine Stunde, um die Insel aus den Augen zu verlieren. Jedes Mal, wenn ich die Insel verlasse, gibt es meinem Herzen einen Stich. Jedes Mal ist es wie ein Abschied für immer. Es ist, als ließe ich ein Stück von mir auf der Insel zurück. Dabei fahre ich doch nur aufs Festland und von dort auf der Autobahn nach Wien. Was wohl die Menschen fühlten, die von hier aufbrachen, um in Übersee Arbeit zu finden?

Inselfrühstück

Mein Inselfrühstück besteht aus Tee von Zitronenverbenen, Brot aus der Inselbäckerei, Butter und Topfen, Marmelade oder Honig, wenn mir nach Süßem ist. Mag ich es salzig, dann tunke ich das Brot in Olivenöl, esse Hartkäse vom Schaf, dazu Tomaten und im Ofen gebackene Oliven. Obst gibt es immer nach Saison und aus der Gegend, eine Ausnahme sind nur die Bananen. Auf der Insel wachsen: Weintrauben, Passionsfrucht, Feigen oder Weingartenpfirsich, Magunje, Zwetschken und Kriecherln, Äpfel und Birnen.

Insel-Rezept

Feigenmarmelade ohne Konservierungsmittel, so, wie man sie früher gemacht hat. Man braucht dazu Feigen, Zitronen und Zucker.

Feigen mitsamt den Schalen und Zitronen mitsamt den Schalen werden klein geschnitten und durch den Wolf gedreht oder auf eine andere Art faschiert. Das Verhältnis ist ungefähr 70% zu 30% (z. B. 70 dag Feigen und 30 dag Zitronen). Das Mus kocht man mit Zucker 1:½ fünf Minuten lang und füllt die Marmelade in Gläser ab.

Am Postamt

Diese Insel ist flach wie ein Fladen, und hätte es je eine Sturmflut im Adriatischen Meer gegeben, so hätte sie uns mit einer einzigen Welle weggespült. Und wer hätte uns nachgeweint, uns, den letzten Überlebenden einer Kultur, die im Aussterben begriffen ist, der Kultur des Müßigganges, des „Dolcefarniente“? Vielleicht hätte sich einer unserer Nachfahren an uns erinnert, an unbeschwerte Sommertage, an Tage, die er sich mühsam freischaufeln musste aus seinem mit Arbeit vollgestopften Alltag? Arbeit, mit der er das Mobiltelefon kauft, das auch fotografieren kann, ein Drittauto oder auch nur eine vollautomatische Espressomaschine.

Was und wo er denn arbeite, fragte ich den jungen Niko, einen zwanzigjährigen, prächtig gewachsenen Knaben. Wir saßen schon seit einiger Zeit regungslos nebeneinander unter der Dorflinde, trugen Stiefel, wattierte Jacken und Mützen und starrten aufs Meer. Niko zuckte mit den Schultern. Ob er denn studiere? Er schaute mich groß an. „Nein!“ Er arbeite auch nicht und gehe in keine höhere Schule. Er sagte: „Ich lebe doch auf Mali Otok“, vom Volksmund auch liebevoll Mali genannt. Sie ist die kleinste der dreizehn bewohnten Kalamari-Inseln in der nördlichen Adria.

Mali hat nur einhundert ständige Bewohner, und auch von diesen war zu dieser Jahreszeit nur die Hälfte hier, die anderen waren in ihren Appartements am Festland. Angelo hatte zwei Tage vor meiner Ankunft die Radiatoren eingeschaltet und den Küchenherd in Betrieb genommen, im Haus war es gemütlich warm. Es war Ende Februar. Das Gebirge an der Küste war schneebedeckt, der Himmel strahlend blau. Es war eisig kalt.

Die Telefonleitung war tot. Klar, ich hatte die Rechnungen nicht bezahlt, ich war vier Monate lang weg gewesen. Ich hatte nach meiner Abreise vergessen, den Abbuchungsauftrag am Hauptpostamt in der Stadt auszufüllen. Ich hatte so viel anderes zu tun. Um ehrlich zu sein: gar nichts. Ich war schon ein halber Inselmensch, zog alles, was zu tun ist, hinaus, in der Hoffnung, dass es sich von selbst erledigt. Wer fährt schon wegen einer Unterschrift auf das Festland? Oder wegen einer fälligen Zahlung? Angelo sagte, er bezahle im Winter, wenn sie nicht da sind, die Telefon- und Stromrechnungen aller seiner Verwandten, und ein Zahlschein mehr oder weniger sei auch schon egal. „Machen Sie nur ja keinen Abbuchungsauftrag“, sagte er. „Weil man nie weiß, was die Banken mit dem Geld tun.“

Ich ging aufs Postamt. Es war neun Uhr fünf. Die Uhrzeit weiß ich deshalb, weil die große Uhr an der Wand auf die Sekunde genau geht, damit der Postbeamte auf die Sekunde genau die Amtstür schließen kann. Unser Postamt hat täglich außer Samstag und Sonntag von acht Uhr bis zwölf Uhr offen. Es besitzt einen Zentralraum mit einem Schalter und einen Schalterbeamten, Ivo. Er hat ein Moped mit einem Körbchen und einen Yorkshireterrier. Den setzt er, fährt er zur Fähre, um die Post abzuholen oder hinzubringen, auf die Briefe obenauf. Er arbeitet auf diesem Postamt zehn Monate im Jahr. Von September bis Ende Juni. Im Sommer, genau dann, wenn viel zu tun ist, macht er Urlaub. Die Aushilfe ist eine flinke Dame aus der Stadt. Wohin er im Urlaub fährt? Nirgendwohin! Er bleibt hier. Er spielt Boccia, er spielt Karten und er geht fischen, obwohl im Sommer im Wasser nichts los ist, er macht mal Pause von der Pause und sagt: „I take a break from the break.“

Ivo ist diskret. Er liest sie alle, die Ansichtskarten und die Briefe, die er ins Licht hält, ihren Inhalt behält er für sich. Man sagt, dass er es schon vor dreißig Jahren so gemacht hat, was damals nicht ganz harmlos war. Ivo ist Vertrauensmann. Er spricht einigermaßen gut Englisch und überlegt lange, um das richtige Wort zu finden. „Hi“, sagte er, als ich eintrat. „Where have you been? There is plenty of mail since you last came.“ Nun, viel war es nicht, außer den Telefonrechnungen, die nicht bezahlt waren: Werbung, ein Zahlschein für den Blindenverband und Neujahrswünsche von der Bank.

Sie hatten mir das Telefon gesperrt. Ivo meinte, ich solle die Rechnungen gleich bezahlen, denn sonst würden sie mir den Vertrag kündigen. Er sagte: „I give you a number you must call post office in Zagreb.“ Ja aber, wie? Ich hab keine Verbindung mehr. „Can you do that for me?”, bat ich. Er wählte eine Nummer und erreichte eine Stimme, die ihm sagte, dass ich den ausstehenden Betrag bezahlen soll, und wenn ich die Zahlscheine nach Zagreb faxe, werde die Telefonleitung wieder aufgemacht. Ich unterschrieb die Zahlscheine, denn Ivo ist ja auch Bankbeamter. Er stempelte sie ab und schob den ersten der drei Zahlscheine in das Faxgerät. Dort ließ er ihn drin, denn in der Zwischenzeit war eine Frau mit einem Sack Geld durch die Tür hereingekommen. Ivo zählte es ab. Mit der Hand und zweimal. Ich setzte mich hin, es sah aus, als müsste ich länger warten. Der Yorkshire lag eingerollt in einem Körbchen hinter dem Ölofen. Der war nicht in Betrieb, obwohl es feucht und saukalt war. Ich blickte an die Decke. Zwischen den Ritzen der Bretter quoll flaumiges, weißes Isoliermaterial hervor, wie ein quellender Schimmelpilz. Ich blickte an die Wand. An ihr waren feuchte Flecken. Unter den Fensterbänken blätterte der Verputz ab und zwischen den Fenstern lagen hunderte, tote Fliegen. Ob Ivo keine von der Post bezahlte Putzfrau für das Postamt hat? Irgendetwas hatte mit dem Faxen des Zahlscheines noch nicht geklappt. Er versuchte es nochmals. Die junge Frau war wieder gegangen, da läutete das Telefon. Ivo wandte sich zu mir, um sich kurz zu entschuldigen, bevor er den Kopf neigte und tief in das Gespräch versank. Ich sah die kleine Glatze am Hinterkopf, den schnurgeraden Mittelscheitel am Vorderkopf, von dem aus er die schwarzen Haare nach links und nach rechts zu den Ohren kämmt.

Auf der abgeschabten gelblichen Holztüre der Telefonzelle Nummer eins hing der Postkalender von diesem Jahr, mit lustigen Zeichnungen im Stil der fünfziger Jahre. Auf der Tür von Zelle Nummer zwei klebte ein Reklamezeichen für Visa-Card, was dem Postamt einen globalen Touch verlieh. Niemand auf Mali Otok, auch nicht die Post, nimmt Plastikgeld. Das Plakat ist nichts als eine freundliche Täuschung für Touristen. So bekommen sie vom Inselleben gleich einen falschen Eindruck. „I am sorry“, sagte der Postmann, nachdem zum dritten Mal das Telefon klingelte. Er hob ab. Es war dienstlich. Jemand wollte eine Auskunft über die Abfahrtszeiten der staatlichen Schifffahrtslinie, die er alle auswendig weiß. Dann schob er zum dritten Mal den Zahlschein ins Faxgerät aus den späten achtziger Jahren und sagte: „Sorry, it does not work.“ Nun hatte auch ich schon einmal so einen Fall in meinem Büro, vor nicht allzu langer Zeit, als ich noch ein Büro hatte, und wusste, wie es geht. Ich sagte: „Der Zahlschein ist zu klein, du musst die drei Zahlscheine ganz einfach auf ein Blatt Papier im A4-Format kleben.“ Er sagte: „Aha!“, reckte den Zeigefinger in die Luft, zeigte auf ein Klebeband, klebte die Scheine mit dem Band zusammen und schob die Scheine ins Faxgerät. Er strahlte: „Es geht!“

Mittlerweile war es zehn Uhr dreiundvierzig. Als ich nach Hause kam, funktionierte mein Telefon wieder. Die Welt war wieder mit mir verbunden. Ja, das dachte ich damals tatsächlich noch. Ich dachte, die Welt braucht mich. Falsch gedacht. Denn kaum bist du auf der Insel, scheinst du irgendwie unerreichbar. Bleibst du länger, gehst du bald niemandem ab.

Am Küchentisch stand ein Sack voller frisch gepflückter Orangen aus Angelos Garten. Und ein kleinerer mit Zitronen. Die schenkt er mir jedes Jahr. Sie sind ein Schatz. Erstens sind sie ungespritzt und zweitens schmecken sie süß und drittens denkt wer an mich.

Daheim war es klamm, obwohl die Radiatoren schon seit zwei Tagen eingeschaltet waren und der Herd glühte. Die Fenster und Türen waren nicht dicht. In einer alten Daunenjacke, wattierten Hosen, Stiefeln und Schafwoll-Socken ging ich im Haus herum. Stanleys Foto stand am Regal neben dem Telefon. Ohne Bild wäre die Erinnerung an ihn vielleicht verblasst. Durch das Foto aber bekam ich Sehnsucht nach seiner Stimme, nach diesem leichten Überschlag, wenn er vom rauen Timbre in ein höheres, helleres wechselte. Ich wollte ihn hören. Jetzt. Ich wählte seine amerikanische Telefonnummer. Eine Frauenstimme antwortete ungehalten: „Stanley ist nicht da.“ Gegen die Eiseskälte, die sich nun in mir breitmachte, half keine zusätzliche Wollunterwäsche und auch keine heiße Lammsuppe. Ich reiste früher ab als geplant.

Schäferidylle

Erst im April kam ich wieder. In fünf Inseltagen hatte ich die Reste vom Vorjahr, garniert mit frischem Wildgemüse, mit Eiern von glücklichen Inselhühnern und Haltbarmilch aus dem Genossenschaftskaufhaus, aufgegessen. Das Tiefkühlfach war nun leer, frei für ein Lamm, das mir ein rüstiger Frühpensionist versprochen hatte. Wann er es bringen werde, wusste er aber nicht, er musste seine Lämmer erst suchen. Er sagte, sie würden im Norden der Insel weiden, wo er sie nicht unter Kontrolle habe. Er hatte mal welche, die fand er erst nach einem Jahr. Ach, keiner ist hier so wie Angelo, der seine Tiere auf der eigenen, mit einem Steinwall umgebenen Weide hält, der zu gegebener Zeit täglich zu seinen Schafen fährt, um sie sogar zu melken. All die anderen sind nur am Fleisch interessiert, weil melken zu viel Arbeit macht.

„Eehh“, sagte der Frührentner, als ich ihn auf die versprochene Lamm-Lieferung ansprach, zu seiner Frau, einer quirligen Kindergärtnerin aus der Stadt, die die Hosen in der Ehe anhat, wenn sie am Wochenende bei ihrem vorzeitig pensionierten Insel-Ehemann wohnt. „Eehh, wo sind die Schafe?“ – „Wie soll ich das wissen?“, antwortete sie, „und wir werden auch keins mehr verkaufen, weil wir es selber brauchen.“ Punkt, aus. Er widersprach ihr nicht, unser Geschäft war geplatzt. Was der Herdenlose sonst macht, außer nach Lust und Laune Schafe zu suchen? Ich fragte einmal seinen Bruder, der schon ein fortgeschrittener Rentner ist. „Nichts“, war die Antwort. Er vermietet zwei Wohnungen in der Stadt und davon lebt er. Das geht sich auf der Insel locker aus.

In diesen Tagen wachte ich um sechs Uhr auf, machte mir einen Tee von den frischen Blättern der Zitronenverbenen, die hier in jedem Garten wachsen. Kein Einheimischer macht Tee aus ihnen, weil man nie Tee aus ihnen gemacht hat. Früher hat man sich vor dem Kirchgang ein Büschel davon in den Ausschnitt oder ins Knopfloch gesteckt, weil es kein Parfum gab. Jetzt kauft man sich den Duft im Drogeriesupermarkt der nahen Stadt oder am Flughafen im Duty-free-Shop. Ich tat ein wenig Tee zum morgendlichen Wasser, das sich dadurch leichter trinken ließ. Ich hatte mir das Wassertrinken auf einer Kur angewöhnt und halte mich seither, wenn möglich, daran. Und dann halte ich mich auch an die Anweisungen von Laufpapst Strunz, den ich vor Jahren in einem Laufseminar erlebte. Er sagte: „Raus aus dem Bett und rein in die Laufschuhe. Nicht zögern. Wer nicht am frühen Morgen läuft, läuft gar nicht.“

Es war der erste warme Frühlingstag, und die Sonne ging gerade auf, als ich loslief. Sie stand noch tief und blendete mich und so konnte ich die Steine und Gräser unter meinen Füßen nicht scharf genug sehen. Das machte mich ein wenig unsicher, weiß ich doch, dass die ersten, schrägen Sonnenstrahlen die Schlangen aus ihren Mauerlöchern hervorlocken. Sie kriechen, noch ein wenig steif von der kühlen Nacht, zum Sonnenbaden auf den Weg heraus. Ich musste mich auf meine Ohren verlassen. Ich konnte hören, wie sie vor meinen Schritten flüchteten. Ein kurzes Rauschen, das sich entfernte, das war es. Und danach das Gefühl, dass sie einen aus den Ritzen der Mauern mit ihren Schlangenaugen beobachten.

Angelo ritt auf seinem Quad vorbei, weil er seine Schafe melken musste. Ein paar Kurven weiter, schon im Gebiet der Weideplätze, lehnte er an einer Mauer. Ich machte halt. Er legte den Finger an seine Lippen, bat um Ruhe, bog seine rechte Ohrmuschel mit einer Hand vor und lauschte. Ich machte es ihm nach und lauschte auch. Wer seine Schafe nicht sieht, muss versuchen, sie zu hören. Und tatsächlich, nach einer Weile vernahm ich den Klang eines Glöckchens. Angelo strahlte vor Besitzerstolz.

Ich lief bis zu dem Kirchlein in der Bucht. Der Vorplatz war übersät mit einem Teppich aus duftenden Veilchen, die Myrten standen in voller Blüte, es blökte rund um mich her. In ausgehöhlten Baumstämmen blühten dort, wo sich ein wenig Erde einnistet, lila Zyklamen.

Auf dem Heimweg lief ich, wie immer, an Vinkos Haus vorbei. Ich wünschte ihm einen guten Morgen. Er sagte: „Du hast einen Gesundheitsfimmel. Lauf nicht zu schnell. Halte inne! Genieße! Every day can be the last. Wenn du tot bist, nützt dir das ganze gesunde Leben nichts.“

Später besuchte ich Angelo in seiner Käsekammer, dem Ort, an dem er täglich seine Käselaibe streichelt, was sein muss, damit sie reifen. Sie lagen nebeneinander auf der Stellage in, sagen wir, natürlichem Ambiente. Angelo kümmerte sich um seine Käselaibe wie um eine Kinderschar. Täglich machte er drei neue, bürstete die jungen mit Meerwasser und rieb die älteren mit Öl und Essig ein. Die Kühlung der Kammer kommt nur von der dicken Steinmauer und die Bakterien in diesem Raum hatten Jahrhunderte überlebt. Angelos Käseküche ist museumsreif, so wie die ganze Methode, mit der der Zwei-Meter-Mann Käse macht und sich dabei den Rücken ruiniert: Zuerst rumpelt er über Stock und Stein mit seinem Quad auf die Weiden, dann melkt er die Schafe, wobei er sich bücken muss. „Noch nie was gehört oder gesehen von einem modernen Melkstand, auf dem man mit einer Maschine Tiere bequem melken kann?“ Nein, hat er nicht. Und schon dreimal hatte ich ihn nach Österreich eingeladen und einen Besuchstag in einer modernen Biokäserei reserviert. Da wollte er doch so gerne hin. Aber er fand dazu keine Zeit. Er sagte: „Ich kann nicht. Ich kann nicht weg von der Insel. Bin ich weg, bricht hier alles zusammen.“

Er schenkte mir ein paar Petersilienpflanzen, Salatpflanzen, Paprika und Paradeiser. Die setzte ich am nächsten Tag im Garten ein, als die verwirrte Violetta um die Ecke bog. Sie trug ein Lämmchen im Arm. Das wollte sie mir schenken. Sie sagte: „Du bist jetzt seine Mama. Ich habe was anderes zu tun.“ Aus einer Wasserflasche und einem Gummihandschuh hatte sie ein Fläschchen mit Schnuller gemacht. Das Lämmchen lief in die Küche, sprang durch das Wohnzimmer und schaute neugierig in die offenen Kästen. Ich hatte Mühe, es einzufangen. Violetta sagte, es sei drei Tage alt. Ich nahm das Lämmchen auf, es war winzig. Oohh, war das kuschelig und fein und es drückte sein Köpfchen ganz von selbst dicht an mich. Es duftete wie ein Wollpullover und adoptierte mich sofort, und fast wäre ich schwach geworden. Aber ich fing mich und sagte mit fester Stimme zu mir: „Nein.“ Noch bin ich nur Gast auf dieser Insel, noch kann ich nicht täglich hier sein, und dieses Tier wird mir sofort ans Herz wachsen. Aber schön war es doch, so einen kleinen warmen Körper ganz nah zu spüren. Schön war es, jemanden zu streicheln, Zärtlichkeit zu erfahren. Ich drückte das Kleine noch fester an mich und sog seinen warmen, heimeligen Duft tief ein.

Als ich meine Nase wieder aus dem weichen Fell zog, war Violetta schon verschwunden. Nein, du entkommst mir nicht. Auf dieser Insel muss man nie lange suchen, um jemanden zu finden. Ich wusste, wo sie war. Sie stand bei ihrer Herde unter den Pinien. Sie lässt ihre Schafe frei herumlaufen, weil sie kein eigenes Grundstück hat. Violetta ist eine Zugereiste, deren Mann verstarb, nachdem sie drei Jahre auf Mali Otok gelebt hatten.

Das Lämmchen in meinem Arm schien ihr völlig fremd. Ich radebrechte auf Kroatisch, sagte, dass ich das Lämmchen zurückgeben wolle. Sie strahlte und erzählte mir eine Menge. Das Lamm kam in der Menge auch vor, und zwar als Braten. Ich gab ihr zu verstehen, dass ich dieses Lämmchen nie essen würde, überhaupt kein Lamm essen könne nach so einem Tag, und legte ihr das Kleine zu Füßen.

Inselkäse

„Welchen Käse produzieren Sie auf dieser Insel?“ Das werden wir oft gefragt. Die Leute möchten gerne wissen, um welche Sorte es sich handelt. Sorte? Es ist ganz einfach Inselkäse, aus einhundert Prozent Schafmilch. Je nachdem, was die Schafe gefressen haben, je nachdem wie die Temperatur in der Käserei ist und welche Bakterien sich in der Luft befinden, reift dieser Käse heran. Er schmeckt jedes Jahr anders, mal scharf, mal mild, weil es eben ein Inselprodukt ist und als solches unberechenbar.

Angelo schüttet die frisch gemolkene Milch in einen großen Topf, erhitzt sie und gibt das Labpulver dazu, damit die Milch stockt. Danach kommt die Prozedur, die seit Jahrhunderten dieselbe ist: Topfen in Tücher füllen, aufhängen, abtropfen, in Formen pressen, auf ein Regal legen, bis sich die Rinde bildet, täglich abwaschen, bürsten, einölen, reifen lassen. Der Käse, der daraus entsteht, ist ein naturgereiftes Produkt. Reif für einen Verkauf nach EU-Kriterien ist er nicht.

Im Sommer wird, statt eines warmen Mittagessens, oft grüner Pflücksalat „Radic“, Brot und Käse aufgetischt.

Ein Festtag auf Mali Otok

Ein Festessen auf der Insel besteht nicht aus Fisch, sondern aus Fleisch, meist ist es Lamm. Es wird gekocht und gebraten. Zuerst gibt es Lammsuppe mit Nudeln, danach das in der Suppe gekochte Fleisch, als dritten Gang das gebratene Fleisch, dazu grünen Blattsalat, Radic. Als Nachtisch wird Obst serviert, zu besonderen Festen Strauben „Krostule“.

Lamm/Fleischsuppe

Eine klare Suppe wird auf der Insel aus Fleisch, Knochen und Wurzelgemüse zubereitet, wie z. B. Sellerie, Karotten, Petersilienwurzeln, Portulak. Man gibt auch gerne Kohlblätter und Lorbeerblatt dazu, vielleicht eine Tomate oder, bevor man die Suppe mit Einlage aufträgt, Tomatenmark. Dies geschieht nicht nur wegen der Farbe, sondern auch wegen eines Hauchs von süß-saurem Geschmack.

Statt Suppennudeln verwendet man gerne Nudeln, die wie Reiskörner geformt sind. Man kocht sie vor dem Auftragen nur wenige Minuten, damit sie noch „al dente“ sind.

Lamm

Gebratenes Lamm und mitgebratene Erdäpfel (Bauernbratl): Dazu wird das Lamm in Stücke geteilt, mit Olivenöl, Zitronenschalen, frischem Rosmarin, etwas Knoblauch und Salz gewürzt. In eine Kasserolle, die einen Deckel hat, gibt man ausreichend Olivenöl und Rosmarin, worin man die rohen, in dicke Scheiben geschnittenen Erdäpfel legt und gut schüttelt, sodass sie von allen Seiten mit Öl bedeckt sind. Darauf legt man die gewürzten Lammstücke und schiebt das Ganze bei niedriger Temperatur in den Ofen, wo es, gut zugedeckt, langsam gar werden soll.

Im Rosengarten

Ich kann tun und lassen, was ich will. Ich stehe auf, wann ich will, setze mich an den Schreibtisch, wann ich will. Schreibe, was ich will. Ich bin nicht die Einzige hier, die frei über ihre Zeit verfügt. Die meisten tun es, sogar die Wirte. Wenn sie keine Lust zum Servieren haben, machen sie den Laden zu. Da können die Touristen noch so ihre Köpfe schütteln. Ja, manche regen sich sogar auf. Sie haben noch nicht kapiert, dass eine Insel eine Insel ist, und wir hier in einer eigenen Welt mit eigenen Regeln leben. In der ziehen wir uns am Sonntag schön an, und gehen in die Kirche. Wir halten unser Mittagsschläfchen und essen um Punkt zwölf. Wir feiern Feste, dass die Bäuche platzen, und schreien, wann und wie es uns passt. Auch das ist erlaubt. Türen werden geknallt und danach ist man miteinander wieder gut. Der Mann will daheim eine nette Hausfrau, die ihm sein Essen richtet. Er will seine Ruhe, wann es ihm beliebt, und fischen gehen, wann es ihm passt. So einen Mann hat meine Freundin Diana. Ihr Mann heißt Edi. Er hatte in Las Vegas mal ein florierendes Lokal, aber das war lange her. Jetzt können die beiden recht gut vom Ersparten leben. Einmal sagte ich zu Diana: „Ich habe Edi noch nie arbeiten gesehen.“ Sie sagte: „Ich auch nicht.“ Sie haben noch ein Haus in Florida, wo sie im Winter wohnen. Im Sommer sind sie auf Mali Otok. Manchmal holen sie ihr weinrotes Mercedes 370 SL Cabrio aus den siebziger Jahren, ein Modell mit glänzenden Alu-Kanten und Alu-Felgen und cremefarbenen Ledersitzen, aus der Insel-Garage, um damit herumzufahren. Weil man auf der Insel aber nicht mit Autos fahren darf, bringen sie das Cabrio an die Küste. Dort gondeln sie durch die Gegend, parken vor den Cafés an einer von Palmen gesäumten Riva, steigen aus. Edi im grünen Ralph-Lauren-Shirt, Diana mit einer riesigen Sonnenbrille auf der Nase. Seit sie überall Fußgängerzonen machen, macht das Herumfahren keinen Spaß mehr. Darum bleibt das Cabrio zu Hause auf der Insel.

Auch die Jacht ruht in einer fernen Marina. Wozu herumfahren und sich mit gecharterten Booten um Anlegeplätze raufen? Es ist doch auf Mali Otok viel schöner und Edi ist müde, Tag und Nacht. Nur zum Essen wird er munter. Diana kocht vorzüglich. Sie kocht noch so wie früher: immer frisch das Gemüse, vom Fleisch das Beste. Und eine Nachspeise gibt es auch. Diana fragte: „Und was wirst du den ganzen Sommer auf der Insel tun?“ Ich sagte: „Nichts.“ Das hatte ich mir vorgenommen, aber das konnte sie nicht glauben. „Nichts, wirklich ‘nichts’?“ Sie kannte mich nun schon ein bisschen vom Spazierengehen und schaute skeptisch. Sie glaubte mir nicht und lag nicht falsch damit. Schon oft hatte ich mir das Nichtstun ausgemalt und war auf keinen grünen Zweig gekommen. Ich muss immer was tun, egal was. Sie sagte: „Schreib doch Tagebuch. Schreib einfach darüber, über das Nichtstun. Damit hast du Arbeit genug.“

Die Dämmerung senkte sich über den Waldrand, wilde Bienen summten. Sie ernteten die Blüten des Efeus ab, der so kräftig und süß duftet. Wir saßen still auf einer Mauer und lauschten ihnen. Es wurde langsam Nacht. Am Waldrand erhob sich ein riesiger Vogel. Langsam bewegte er seine Schwingen auf und ab, ein Rauschen in der Stille. Eine Eule flog in die Nacht.

Wir konnten stundenlang miteinander durch die Gegend schlendern, die Wildrosen bewundern, die an den Wegrändern wuchern, von den Steinmauern hängen, von denen es auf der ganzen Insel viele Hunderte Kilometer gibt. Es sind wunderschöne alte Steinmauern. Einst wurden sie von Menschenhand aufgetürmt, in Zeiten, in denen man auf den Inseln hart gearbeitet hat, nur um zu überleben.

Wir blieben vor der winzigen Bleibe stehen, in der Stanleys Mutter einmal wohnte und sich für ihre Familie abgerackert hat. Sie liebte Rosen, und den Strauch mit den kleinen champagnerfarbenen Rosen, der in voller Blüte stand, den hatte sie gepflanzt. Ich brach eine Blüte und steckte sie Diana an.