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H. G. Wells

Der Unsichtbare

Ein grotesker Roman

H. G. Wells

Der Unsichtbare

Ein grotesker Roman

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
Übersetzung: Alfred Winternitz
2. Auflage, ISBN 978-3-954189-16-8

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Inhaltsverzeichnis

1. Ka­pi­tel – Die An­kunft des Frem­den

2. Ka­pi­tel – Mr. Ted­dy Hen­freys ers­te Ein­drücke

3. Ka­pi­tel – Tau­send­und­ei­ne Fla­sche

4. Ka­pi­tel – Mr. Cuss in­ter­viewt den Frem­den

5. Ka­pi­tel – Der Ein­bruch im Pfarr­haus

6. Ka­pi­tel – Das ver­hex­te Zim­mer

7. Ka­pi­tel – Die De­mas­kie­rung des Frem­den

8. Ka­pi­tel – Auf dem Wege

9. Ka­pi­tel – Mr. Tho­mas Mar­vel

10. Ka­pi­tel – Mr. Mar­vels Be­such in Iping

11. Ka­pi­tel – Im »Fuhr­mann«

12. Ka­pi­tel – Der Un­sicht­ba­re ver­liert die Ge­duld

13. Ka­pi­tel – Mr. Mar­vel will ab­dan­ken

14. Ka­pi­tel – In Port Sto­we

15. Ka­pi­tel – Der Flücht­ling

16. Ka­pi­tel – Im Wirts­haus »Zu den lus­ti­gen Cricke­tern«

17. Ka­pi­tel – Dr. Kemps Gast

18. Ka­pi­tel – Der Un­sicht­ba­re schläft

19. Ka­pi­tel – Op­ti­sche Grund­prin­zi­pi­en

20. Ka­pi­tel – Im Hau­se in Gre­at Port­land Street

21. Ka­pi­tel – In Ox­ford Street

22. Ka­pi­tel – Im Wa­ren­haus

23. Ka­pi­tel – In Dr­u­ry Lane

24. Ka­pi­tel – Der Plan miss­lingt

25. Ka­pi­tel – Die Ver­fol­gung des Un­sicht­ba­ren

26. Ka­pi­tel – Der Mord im Dickicht

27. Ka­pi­tel – Die Be­la­ge­rung von Kemps Haus

28. Ka­pi­tel – Der Jä­ger wird ge­jagt

Nach­schrift

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie die­ses E-Book aus mei­nem Ver­lag er­wor­ben ha­ben.

Soll­ten Sie Feh­ler fin­den oder An­re­gun­gen ha­ben, so mel­den Sie sich bit­te bei mir.

Ihr
Jür­gen Schul­ze, Ver­le­ger, js@­null-pa­pier.de

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1. Kapitel – Die Ankunft des Fremden

An ei­nem win­ter­lich kal­ten Fe­bruar­ta­ge, bei schnei­den­dem Wind und Schnee­ge­stö­ber – dem letz­ten Schnee des Jah­res – kam der Frem­de von der Bahn­sta­ti­on Bramb­le­hurst zu Fuß über die Düne, einen klei­nen, schwar­zen Man­tel­sack in der warm ver­wahr­ten Hand. Er war von Kopf bis zu Fuß ein­gehüllt, und der Rand des wei­chen Filz­hu­tes ver­barg sein Ge­sicht bis auf die glän­zen­de Na­sen­spit­ze voll­kom­men. Der Schnee hat­te sich auf sei­nen Schul­tern und sei­ner Brust fest­ge­setzt und den Sack, den er trug, mit ei­ner wei­ßen Krus­te be­deckt. Mehr tot als le­ben­dig wank­te er in den Gast­hof »Zum Fuhr­mann« und warf sein Ge­päck auf den Bo­den. »Ein Feu­er!«, rief er. »Um der Barm­her­zig­keit wil­len! Ein Zim­mer und ein Feu­er!« In der Schank­stu­be schüt­tel­te er den Schnee von sei­nen Klei­dern und folg­te Mrs. Hall in das Gast­zim­mer, um we­gen sei­ner Un­ter­kunft zu ver­han­deln. Ohne dort noch ein wei­te­res Wort zu ver­lie­ren, warf er nach­läs­sig zwei Gold­stücke auf den Tisch und schlug in die­ser form­lo­sen Wei­se sein Quar­tier in dem Gast­ho­fe auf.

Mrs. Hall mach­te Feu­er im Ka­min und ließ ihn dann al­lein, um ihm in der Kü­che ei­gen­hän­dig eine Mahl­zeit zu be­rei­ten. In Iping zur Win­ters­zeit einen Rei­sen­den zu be­her­ber­gen, der über­dies nicht knau­se­rig zu sein schi­en, war ein un­er­hör­ter Glücks­fall, und die Wir­tin war ent­schlos­sen, sich ih­res gu­ten Sterns wür­dig zu er­wei­sen.

So­bald der Speck am Feu­er, und Mil­lie, das Haus­mäd­chen, von ihr durch ei­ni­ge wohl­ge­ziel­te Schelt­wor­te auf­ge­mun­tert wor­den war, trug sie Tisch­tuch, Tel­ler und Glä­ser ins Gast­zim­mer und be­gann mit der größ­ten Auf­merk­sam­keit den Tisch zu de­cken. Sie war er­staunt, zu se­hen, dass der Gast ihr den Rücken wen­de­te, trotz des lus­tig fla­ckern­den Feu­ers Hut und Über­rock an­be­hal­ten hat­te und auf das Schnee­trei­ben im Hof hin­aus­sah.

Er hat­te die be­hand­schuh­ten Hän­de auf dem Rücken ge­fal­tet und war an­schei­nend in Ge­dan­ken ver­sun­ken. Sie be­merk­te, dass der Schnee auf sei­nen Klei­dern zu Was­ser wur­de und auf ih­ren Tep­pich her­ab­tropf­te.

»Kann ich Ih­nen Hut und Rock ab­neh­men, mein Herr, und sie in der Kü­che trock­nen?«, frag­te sie.

»Nein«, ant­wor­te­te er, ohne sich um­zu­wen­den.

Sie war nicht si­cher, ob er sie ver­stan­den hät­te, und woll­te schon ihre Fra­ge wie­der­ho­len.

Da wand­te er den Kopf und sah sie über die Schul­ter hin­weg an. »Ich zie­he es vor, sie an­zu­be­hal­ten«, er­klär­te er mit Nach­druck, und sie konn­te be­mer­ken, dass er eine große, blaue Bril­le trug und ein bu­schi­ger Ba­cken­bart sei­ne Wan­gen voll­kom­men be­deck­te.

»Gut, mein Herr«, sag­te sie, »wie’s ge­fäl­lig ist. Das Zim­mer wird gleich warm wer­den.«

Er hat­te sich wie­der ab­ge­wandt und ant­wor­te­te nicht. Da Mrs. Hall fühl­te, dass die Zeit zur An­knüp­fung ei­nes Ge­sprä­ches nicht gut ge­wählt sei, vollen­de­te sie rasch und ge­räusch­los das De­cken des Ti­sches und husch­te hin­aus. Als sie zu­rück­kehr­te, stand er noch an der­sel­ben Stel­le, wie aus Stein ge­hau­en, mit ge­krümm­tem Rücken, auf­ge­schla­ge­nem Rock­kra­gen und trie­fen­der, ab­wärts ge­bo­ge­ner Hut­krem­pe, die Ge­sicht und Ohren voll­stän­dig ver­barg. Wür­de­voll setz­te sie die Schüs­sel mit Ei­ern und Speck nie­der und rief ihm zu:

»Ihr Früh­stück ist fer­tig, mein Herr.«

»Dan­ke«, er­wi­der­te er dar­auf, ohne sich zu rüh­ren, be­vor sie die Tür hin­ter sich ge­schlos­sen hat­te. Dann aber dreh­te er sich schnell um und wand­te sich mit Heiß­hun­ger dem Tisch zu.

Als Mrs. Hall in die Kü­che hin­ter der Schank­stu­be ging, hör­te sie einen Ton, der sich in re­gel­mä­ßi­gen Zwi­schen­räu­men wie­der­hol­te. Klick, klick, klick ging es, der Klang ei­nes Löf­fels, der in ei­nem Ge­fäß klap­pert. »Die­ses Mäd­chen!«, rief sie. »Ich hat­te es ganz ver­ges­sen. Das kommt von ih­rer Lang­sam­keit.« Und wäh­rend sie das Mi­schen des Senfs selbst be­sorg­te, be­kam Mil­lie ei­ni­ge saf­ti­ge Be­mer­kun­gen über ihre Lang­sam­keit zu hö­ren. Sie (Mrs. Hall) hat­te Schin­ken und Eier ge­kocht, den Tisch ge­deckt, kurz al­les ge­tan, wäh­rend Mil­lie – wahr­lich eine schö­ne Hil­fe – nicht ein­mal mit dem Sen­früh­ren zu­stan­de kam. Und ein neu­er Gast im Hau­se, der hof­fent­lich lan­ge blei­ben wür­de! Dann füll­te sie das Senf­glas, setz­te es voll Selbst­be­wusst­sein auf ein schwarz-gol­de­nes Ser­vier­brett und trug es ins Frem­den­zim­mer.

Sie klopf­te an die Türe und trat so­fort ein. Als der Gast sie ge­wahr­te, mach­te er eine ra­sche Be­we­gung, und einen flüch­ti­gen Au­gen­blick sah sie et­was Wei­ßes hin­ter dem Tisch ver­schwin­den, als ob der Frem­de et­was vom Bo­den auf­he­ben wol­le. Mrs. Hall setz­te das Senf­glas auf den Tisch; da­bei be­merk­te sie, dass der Über­rock ab­ge­nom­men und über einen Stuhl am Feu­er aus­ge­brei­tet war, und ein Paar nas­se Stie­fel ihr Ka­min­git­ter mit Rost be­droh­ten. Sie ging ent­schlos­sen dar­auf zu: »Jetzt kann ich sie doch wohl zum Trock­nen neh­men?«, sag­te sie in ei­nem Ton, der kei­nen Wi­der­spruch dul­de­te.

»Las­sen Sie den Hut da«, sag­te der Frem­de mit dump­fer Stim­me, und als sie sich um­wand­te, be­merk­te sie, dass er den Kopf er­ho­ben hat­te und sie an­blick­te.

Ei­nen Au­gen­blick lang starr­te sie ihn an, zu über­rascht, um spre­chen zu kön­nen.

Er hielt ein wei­ßes Tuch – eine Ser­vi­et­te, die er mit­ge­bracht hat­te – vor den un­te­ren Teil sei­nes Ge­sichts, so­dass es Mund und Kinn­ba­cken ganz be­deck­te und die Stim­me nur halb er­stickt dar­aus her­vor­drang. Aber nicht das er­schreck­te Mrs. Hall, son­dern der Um­stand, dass ein wei­ßer Ver­band sei­ne gan­ze Stirn über den blau­en Glä­sern ver­hüll­te, wäh­rend ein zwei­ter die Ohren ver­barg und von sei­nem gan­zen Ge­sicht nichts als die spit­ze, rote Nase frei ließ. Die­se war leuch­tend rot und glänz­te wie bei sei­ner An­kunft. Er trug eine dun­kel­brau­ne Samt­ja­cke mit ei­nem ho­hen, schwar­zen, lei­nen­ge­füt­ter­ten Kra­gen, der in die Höhe ge­schla­gen war. Das dich­te schwar­ze Haar, das hie und da zwi­schen dem Kreuz­ver­band vor­lug­te, bil­de­te selt­sam ge­form­te Schwän­ze und Hör­ner und ver­lieh ihm das denk­bar merk­wür­digs­te Aus­se­hen … Die­ser ver­hüll­te und ver­bun­de­ne Kopf war dem, was sie er­war­tet hat­te, so un­ähn­lich, dass sie einen Au­gen­blick lang wie er­starrt da­stand. Er leg­te die Ser­vi­et­te nicht weg, son­dern hielt sie in der mit ei­nem brau­nen Hand­schuh be­klei­de­ten Hand fest, wo­bei er sei­ne Wir­tin durch die un­er­gründ­li­chen Au­genglä­ser hin­durch un­ver­wandt an­blick­te. »Las­sen Sie den Hut da«, wie­der­hol­te er un­deut­lich durch das wei­ße Tuch hin­durch.

Ihre Ner­ven be­gan­nen sich von dem Schre­cken zu er­ho­len. Sie leg­te den Hut auf den Stuhl ne­ben dem Feu­er zu­rück. »Ich wuss­te nicht, mein Herr«, be­gann sie, »dass –« und sie schwieg ver­wirrt still.

»Dan­ke«, sag­te er kurz, von ihr zur Tür und dann wie­der auf sie bli­ckend.

»Ich will sie gleich schön trock­nen, mein Herr«, sag­te sie und trug sei­ne Klei­der aus dem Zim­mer. Wäh­rend sie zur Tür schritt, warf sie noch einen Blick nach dem weiß­ver­hüll­ten Kopf und den un­durch­sich­ti­gen Au­genglä­sern, aber er hielt sein Tuch noch im­mer vor das Ge­sicht. Es durch­schau­er­te sie ein we­nig, als sie die Tür hin­ter sich schloss, und in ih­rem Ge­sicht spie­gel­ten sich Über­ra­schung und Be­stür­zung wie­der. »Du mei­ne Güte«, flüs­ter­te sie. »So et­was!« Ganz sach­te ging sie in die Kü­che und war zu sehr mit ih­ren Ge­dan­ken be­schäf­tigt, um Mil­lie zu fra­gen, was sie jetzt wie­der in Un­ord­nung brin­ge.

Der Gast saß ganz still und lausch­te auf die ver­hal­len­den Fuß­trit­te. Er warf einen for­schen­den Blick nach dem Fens­ter, ehe er die Ser­vi­et­te ent­fern­te und wie­der zu es­sen an­fing. Er nahm einen Bis­sen, blick­te miss­trau­isch nach dem Fens­ter – aß einen zwei­ten Bis­sen. Dann er­hob er sich, ging mit der Ser­vi­et­te in der Hand quer durchs Zim­mer und ver­hüll­te den obe­ren Teil der Fens­ter bis da­hin, wo wei­ße Vor­hän­ge über das Glas ge­spannt wa­ren, wor­auf das Zim­mer in Däm­mer­licht ge­taucht schi­en, und er mit er­leich­ter­ter Mie­ne zum Tisch und sei­nem Mahl zu­rück­kehr­te.

»Der arme Mensch hat einen Un­fall er­lit­ten oder eine Ope­ra­ti­on oder so et­was durch­ge­macht«, dach­te Mrs. Hall. »Nein, wie mich die­ser Ver­band er­schreckt hat.«

Sie leg­te fri­sche Koh­len auf, mach­te den Klei­der­stock frei und brei­te­te den Rock des Rei­sen­den dar­über. »Und die­se Bril­le! Er sieht gar nicht wie ein leib­haf­ti­ger Mensch aus.« Sie häng­te sein Hals­tuch auf den Klei­der­stän­der. »Und die gan­ze Zeit hat­te er das Tuch vor dem Mun­de und sprach durch das Tuch durch! – – Vi­el­leicht hat er auch am Mun­de Ver­let­zun­gen. Wahr­schein­lich so­gar!«

Sie wand­te sich um, wie je­mand, der sich plötz­lich an et­was er­in­nert. »Gott sei mei­ner See­le gnä­dig!«, rief sie. »Bist du mit den Kar­tof­feln noch nicht fer­tig, Mil­lie?«

Als Mrs. Hall das Früh­stück des Frem­den weg­räum­te, wur­de sie in ih­rer Ver­mu­tung, dass auch sein Mund durch einen Un­fall ver­letzt oder ent­stellt wor­den war, be­stärkt. Denn, ob­wohl er sei­ne Pfei­fe rauch­te, ent­fern­te er doch wäh­rend der gan­zen Zeit, die sie im Zim­mer zu­brach­te, auch nicht ein ein­zi­ges Mal das sei­de­ne Hals­tuch, wel­ches er um den un­te­ren Teil des Ge­sich­tes ge­schlun­gen hat­te, um das Mund­stück der Pfei­fe an die Lip­pen zu füh­ren. Doch ge­sch­ah dies nicht aus Ver­ge­ss­lich­keit, denn sie sah ihn nach der Pfei­fe schie­len, aus der der Rauch im­mer schwä­cher em­por­stieg. Er saß in der Ecke, mit dem Rücken ge­gen das ver­dun­kel­te Fens­ter, und sprach nun, nach­dem er ge­ges­sen und ge­trun­ken hat­te und be­hag­lich durch­wärmt war, in we­ni­ger ver­let­zen­der Kür­ze als zu­vor. Der Wi­der­schein des Feu­ers ver­lieh sei­ner un­ge­heu­ren Bril­le ein ge­wis­ses Le­ben, das ihr bis­her ge­fehlt hat­te.

»Ich habe et­was Ge­päck auf der Sta­ti­on in Bramb­le­hurst«, sag­te er und frag­te sie, wie er es ho­len las­sen kön­ne. Ganz höf­lich neig­te er das ver­bun­de­ne Haupt zum Dan­ke für ihre Er­klä­rung. »Mor­gen!«, sag­te er. »Kann es nicht frü­her sein?«, und schi­en ent­täuscht, als sie ver­nein­te. »Ob sie des­sen ganz si­cher sei? Könn­te es nicht je­mand mit ei­nem Hand­wa­gen ab­ho­len?«

Be­reit­wil­lig be­ant­wor­te­te Mrs. Hall sei­ne Fra­gen und such­te hier­auf ein Ge­spräch in Gang zu brin­gen. »An der Düne läuft die Stra­ße steil hin­ab, mein Herr«, er­klär­te sie in Beant­wor­tung sei­ner Fra­ge be­züg­lich des Hand­wa­gens. Dann füg­te sie, froh einen An­knüp­fungs­punkt ge­fun­den zu ha­ben, hin­zu: »Vor ei­nem Jahr oder noch län­ger warf dort ein Wa­gen um, ein Rei­sen­der und der Kut­scher blie­ben tot. Ein Un­glück ge­schieht oft im Handum­dre­hen, nicht wahr?«

Aus dem Frem­den war je­doch nicht so leicht et­was her­aus­zu­brin­gen. »Das stimmt«, sag­te er hin­ter dem Tuch her­vor, Mrs. Hall durch die un­durch­dring­li­chen Au­genglä­ser un­ver­wandt be­trach­tend.

»Aber die Hei­lung dau­ert zu­wei­len gar lang, nicht wahr? Mein Schwes­ter­sohn schnitt sich mit der Sen­se in den Arm – er stol­per­te näm­lich im Heu über sie – und muss­te wahr­haf­tig vol­le drei Mo­na­te in ei­nem Gips­ver­band lie­gen. Sie wer­den es kaum glau­ben. Seit­her habe ich einen hei­li­gen Schreck, wenn ich eine Sen­se zu Ge­sicht be­kom­me.«

»Das kann ich ganz gut ver­ste­hen«, sag­te der Frem­de.

»Wir fürch­te­ten eine Zeit lang, dass er ope­riert wer­den müs­se, so schlimm stand es mit ihm.«

Der Gast lach­te kurz auf – ein bel­len­des La­chen, das er im Mun­de zu kau­en schi­en. »Wirk­lich?«, frag­te er.

»Ganz ge­wiss, mein Herr. Und für die­je­ni­gen, die ihn pfle­gen muss­ten, wie ich – mei­ne Schwes­ter hat­te mit ih­ren Klei­nen so viel zu tun – war nichts zu la­chen da­bei. Ver­bän­de an­le­gen und Ver­bän­de ab­neh­men – so, wenn ich mir die Frei­heit neh­men darf, es zu sa­gen, mein Herr –.«

»Wol­len Sie mir Zünd­hölz­chen brin­gen«, un­ter­brach sie der Frem­de un­ver­mit­telt. »Mei­ne Pfei­fe ist aus­ge­gan­gen.«

Mrs. Hall ver­stumm­te. Eine sol­che Takt­lo­sig­keit, wäh­rend sie ihm so­eben er­zähl­te, was sie al­les ge­tan hat­te. Sie hat­te schon den Mund zu ei­ner schar­fen Ent­geg­nung ge­öff­net, als sie sich noch recht­zei­tig der bei­den Gold­stücke er­in­ner­te und nach den Zünd­höl­zern ging.

»Dan­ke«, sag­te er mit un­höf­li­cher Kür­ze, als sie die Schach­tel nie­der­stell­te, dreh­te ihr den Rücken und starr­te wie­der zum Fens­ter hin­aus. Das Ge­spräch über Ope­ra­tio­nen und Ver­bän­de war ihm sicht­lich un­an­ge­nehm. So kam sie schließ­lich da­von ab, sich »die Frei­heit zu neh­men, zu sa­gen –« Aber sein ab­wei­sen­des Be­neh­men hat­te sie in eine ge­reiz­te Stim­mung ver­setzt und Mil­lie muss­te das an je­nem Nach­mit­tag bü­ßen.

Bis 4 Uhr blieb der Frem­de im Gast­zim­mer, ohne Mrs. Hall auch nur den Schat­ten ei­nes Vor­wan­des zum Hin­ein­ge­hen an die Hand zu ge­ben. Wäh­rend die­ser Zeit ver­hielt er sich meist ganz still: er schi­en in der zu­neh­men­den Dun­kel­heit rau­chend, viel­leicht schlum­mernd, beim Feu­er zu sit­zen. Ein- oder zwei­mal hät­te ihn ein neu­gie­ri­ger Hor­cher beim Koh­len­kes­sel hö­ren kön­nen, und fünf Mi­nu­ten lang ging er im Zim­mer auf und ab. Er schi­en mit sich selbst zu spre­chen. Dann hör­te man den Lehn­stuhl kra­chen, als er sich wie­der nie­der­ließ.

2. Kapitel – Mr. Teddy Henfreys erste Eindrücke

Um 4 Uhr – es war schon ziem­lich dun­kel, und Mrs. Hall nahm eben ih­ren Mut zu­sam­men, um ins Gast­zim­mer zu ge­hen und den Frem­den zu fra­gen, ob er Tee wün­sche – kam Ted­dy Hen­frey, der Uhr­ma­cher, ins Wirts­haus.

»Bei Gott, Mrs. Hall«, sag­te er, »ein bö­ses Wet­ter für dün­ne Stie­felsoh­len!«

Der Schnee fiel drau­ßen im­mer dich­ter.

Mrs. Hall war der­sel­ben An­sicht und be­merk­te dann, dass er sei­nen Werk­zeug­kas­ten bei sich hat­te. »Da Sie ein­mal da sind, Mr. Hen­frey«, mein­te sie, »wäre es mir lieb, wenn Sie sich die alte Uhr im Gast­zim­mer ein we­nig an­se­hen woll­ten. Sie geht zwar gut und schlägt auch laut und rich­tig, aber der Stun­den­zei­ger zeigt im­mer auf sechs.«

Und sie ging vor­an zur Gast­zim­mer­tür, poch­te und trat ein.

Als sie die Tür öff­ne­te, sah sie ih­ren Gast im Lehn­stuhl vor dem Feu­er sit­zen; den ver­bun­de­nen Kopf zur Sei­te ge­neigt, schi­en er zu schlum­mern. Das Licht im Zim­mer ging von der ro­ten Glut des Feu­ers aus. Al­les er­schi­en ihr röt­lich, schat­ten­haft und un­deut­lich, be­son­ders da sie kurz vor­her die Lam­pe in der Schank­stu­be an­ge­zün­det hat­te und ihre Au­gen noch ge­blen­det wa­ren. Aber eine Se­kun­de lang schi­en es ihr, als ob der Mann, den sie vor sich sah, einen un­ge­heu­ren, weit ge­öff­ne­ten Mund habe, einen un­glaub­lich großen Mund, der den gan­zen un­te­ren Teil sei­nes Ge­sichts weg­nahm. Es war der Ein­druck ei­nes Au­gen­blicks: der weiß­ver­bun­de­ne Kopf, die rie­si­ge Schutz­bril­le und die­se un­ge­heu­re, gäh­nen­de Lee­re dar­un­ter. Dann mach­te er eine Be­we­gung, fuhr von sei­nem Stuhl auf und hob die Hand em­por. Sie riss die Tür weit auf, so­dass das Licht von au­ßen ins Zim­mer drang und dann sah sie ihn deut­lich, mit dem Hals­tuch vor dem Ge­sicht, ge­ra­de wie er vor­her die Ser­vi­et­te ge­hal­ten hat­te. Sie dach­te, die Schat­ten müss­ten ihr Spiel mit ihr ge­trie­ben ha­ben.

»Wäre es Ih­nen un­an­ge­nehm, mein Herr, wenn der Mann hier die Uhr an­se­hen wür­de?«, frag­te sie, sich von ih­rer au­gen­blick­li­chen Ver­wir­rung er­ho­lend.

»Die Uhr an­se­hen?«, wie­der­hol­te er, ver­schla­fen um sich bli­ckend, hin­ter der Hand her­vor. Dann wur­de er vollends wach und sag­te: »Mei­net­hal­ben!«

Mrs. Hall hol­te die Lam­pe und er stand auf und reck­te sich. Dann kam das Licht, Mr. Ted­dy Hen­frey trat ein und stand der ver­mumm­ten Ge­stalt ge­gen­über. Er war, wie er spä­ter sag­te, ganz be­trof­fen.

»Gu­ten Abend!«, sag­te der Frem­de, in­dem er Mr. Hen­frey, wie die­ser in An­spie­lung auf die un­ge­heu­ren Bril­lenglä­ser an­gibt, »wie ein Hum­mer« anglotz­te.

»Ich hof­fe, ich stö­re nicht«, sag­te Mr. Hen­frey.

»Durchaus nicht«, ver­setz­te der Frem­de. »Ob­gleich ich an­neh­me«, fuhr er zu Mrs. Hall ge­wen­det fort, »dass die­ses Zim­mer aus­schließ­lich für mei­nen Pri­vat­ge­brauch be­stimmt ist.«

»Ich dach­te, mein Herr«, ent­geg­ne­te Mrs. Hall, »es wür­de Ih­nen lie­ber sein, wenn die Uhr –«

»Ge­wiss«, sag­te der Frem­de, »ganz ge­wiss. In der Re­gel zie­he ich es aber vor, al­lein und un­ge­stört zu sein.«

Er lehn­te sich an den Ka­min und leg­te die Hän­de auf den Rücken. »Und dann, wenn die Uhr in Ord­nung ist, hät­te ich gern eine Tas­se Tee. Aber nicht frü­her.«

Mrs. Hall woll­te hier­auf das Zim­mer ver­las­sen – dies­mal mach­te sie kei­nen Ver­such, ein Ge­spräch an­zu­knüp­fen, weil sie sich in Mr. Hen­freys Ge­gen­wart nicht ei­ner Ab­wei­sung aus­set­zen woll­te – als ihr Gast sie frag­te, ob sie we­gen sei­nes Ge­päcks in Bramb­le­hurst et­was ver­an­lasst hät­te. Sie er­wi­der­te, sie hät­te mit dem Post­meis­ter dar­über ge­spro­chen und der Fuhr­mann wür­de es am nächs­ten Mor­gen brin­gen.

»Ist es be­stimmt frü­her nicht mög­lich?«, sag­te er.

Es sei un­mög­lich, lau­te­te die küh­le Ant­wort.

»Ich muss Ih­nen noch et­was mit­tei­len«, füg­te er hin­zu, »frü­her war ich zu durch­käl­tet und zu müde dazu: ich be­schäf­ti­ge mich mit wis­sen­schaft­li­chen Ex­pe­ri­men­ten.«

»Wirk­lich, mein Herr!«, sag­te Mrs. Hall sehr ge­spannt.

»Und mein Ge­päck ent­hält die er­for­der­li­chen Ap­pa­ra­te und Hilfs­mit­tel.«

»Ge­wiss sehr nütz­li­che Din­ge«, mein­te Mrs. Hall.

»Es liegt mir na­tür­lich dar­an, in mei­nen For­schun­gen fort­zu­fah­ren.«

»Na­tür­lich, mein Herr.«

»Der Grund mei­ner Rei­se nach Iping«, fuhr er mit ei­ner ge­wis­sen Über­le­gung fort, »war – der Wunsch nach Ein­sam­keit. Ich wün­sche nicht in mei­ner Ar­beit ge­stört zu wer­den. Au­ßer die­sen Ar­bei­ten zwingt mich ein Un­fall –«

»Ich dach­te es mir gleich«, sprach Mrs. Hall zu sich selbst.

»Zu­rück­ge­zo­gen zu le­ben. Ich habe ziem­lich schwa­che Au­gen, die mir oft so star­ke Schmer­zen ver­ur­sa­chen, dass ich mich für Stun­den bei ge­schlos­se­nen Tü­ren im Dun­keln ein­schlie­ßen muss. Hie und da, nicht jetzt ge­ra­de. Zu sol­chen Zei­ten ist mir die lei­ses­te Stö­rung, der Ein­tritt ei­nes Frem­den, eine au­ßer­or­dent­li­che Qual. Ich möch­te, dass wir uns ein für al­le­mal ver­ste­hen.«

»Ge­wiss, mein Herr«, er­wi­der­te Mrs. Hall. »Nur wenn ich mir die Frei­heit neh­men dürf­te, zu fra­gen –«

»Das ist al­les, glau­be ich«, sag­te der Frem­de in je­ner ru­hig ab­wei­sen­den Art, der man nichts ent­ge­gen­set­zen, und die er nach Be­lie­ben an­neh­men konn­te. Mrs. Hall spar­te also ihre teil­neh­men­den Fra­gen für eine bes­se­re Ge­le­gen­heit auf.

Nach­dem sie das Zim­mer ver­las­sen hat­te, blieb der Frem­de vor dem Feu­er ste­hen, um, wie Mr. Hen­frey be­haup­tet, ihn bei sei­ner Ar­beit an­zu­star­ren. Mr. Hen­frey hat­te die Lam­pe dicht ne­ben sich ste­hen und der grü­ne Schirm warf, wäh­rend er ar­bei­te­te, ein blen­den­des Licht auf das Ge­häu­se und die Rä­der der Uhr. Sonst blieb das Zim­mer im Schat­ten. Wenn er auf­blick­te, flim­mer­te es ihm vor den Au­gen. Er war von Na­tur aus neu­gie­rig, und so hat­te er ganz un­nö­ti­ger­wei­se das Werk aus­ein­an­der ge­nom­men, in der Ab­sicht, sein Fort­ge­hen da­durch hin­aus­zu­schie­ben und viel­leicht mit dem Frem­den ein Ge­spräch an­zu­knüp­fen. Aber die­ser stand un­be­weg­lich und still auf sei­nem Platz, so still, dass es Hen­frey ner­vös mach­te. Er hat­te das Ge­fühl, al­lein im Zim­mer zu sein, und blick­te auf. In schat­ten­haf­ten Um­ris­sen, wie durch einen grü­nen Ne­bel­schlei­er, sah er den weiß­ver­bun­de­nen Kopf und die rie­si­gen, dun­keln, starr auf sich ge­hef­te­ten Glä­ser. Es war Hen­frey so un­heim­lich, dass er den an­de­ren eine Mi­nu­te lang wort­los an­blick­te. Dann sah er wie­der auf sei­ne Ar­beit. Eine un­ge­müt­li­che Lage! Wenn er we­nigs­tens ein paar Wor­te hät­te spre­chen kön­nen! Vi­el­leicht, dass das Wet­ter für die­se Jah­res­zeit sehr kalt sei?

Er blick­te auf, be­vor er die ein­lei­ten­den Wor­te her­aus­brach­te. »Das Wet­ter –« be­gann er.

»Wa­rum be­ei­len Sie sich nicht, fort­zu­kom­men?«, frag­te die un­be­weg­li­che Ge­stalt des Frem­den, au­gen­schein­lich in ei­nem Zu­stand müh­sam un­ter­drück­ter Wut. »Sie ha­ben hier nichts Wei­te­res zu tun als den Stun­den­zei­ger zu be­fes­ti­gen. Was Sie da mit der Uhr ma­chen, ist der rei­ne Schwin­del!«

»So­fort, mein Herr – nur eine Mi­nu­te. Ich über­sah –« Und Mr. Hen­frey mach­te, dass er fort­kam.

Aber er ging mit dem Ge­füh­le au­ßer­or­dent­li­cher Ver­drieß­lich­keit fort. »Hol’s der Teu­fel!«, brumm­te er vor sich hin, als er im Schnee durch das Dorf stampf­te, »man muss doch eine Uhr zu­wei­len re­pa­rie­ren, nicht?«

Und dann: »Darf man dich nicht ein­mal an­schau­en, du häss­li­cher Kerl?«

Und wie­der nach ei­ner Wei­le: »Es scheint dir nicht an­ge­nehm zu sein. Wenn die Po­li­zei dich such­te, könn­test du nicht mehr ver­mummt und ver­bun­den sein!«

An ei­ner Ecke kam ihm Hall ent­ge­gen, der vor kur­z­em die Wir­tin des Frem­den im Gast­hof »Zum Fuhr­mann« ge­hei­ra­tet hat­te, und der eben von Si­der­bridge kam, wo­hin er zu­wei­len, wenn Rei­sen­de an­lang­ten, den Ipin­ger Post­wa­gen kut­schier­te. Nach sei­nem Fah­ren zu schlie­ßen, moch­te er in Si­der­bridge et­was über den Durst ge­trun­ken ha­ben. »Wie geht’s, Ted­dy?«, frag­te er im Vor­bei­fah­ren.

»Ei­nen wun­der­li­chen Kauz habt ihr da­heim bei euch!«, sag­te Ted­dy.

Hall war gleich be­reit an­zu­hal­ten. »Was heißt das?«, frag­te er.

»Merk­wür­di­ger Kun­de da im ›Fuhr­mann‹«, er­klär­te Ted­dy. »Mei­ner Treu!«

Und er be­gann eine le­ben­di­ge Schil­de­rung des son­der­li­chen Gas­tes zu ge­ben. »Sieht fast nach ei­ner Ver­klei­dung aus, glaubst du nicht auch? Ich möch­te doch das Ge­sicht ei­nes Men­schen se­hen, wenn ich ihn in mei­nem Hau­se hät­te«, er­klär­te Ted­dy Hen­frey. »Aber die Wei­ber sind so ver­trau­ens­se­lig, wenn es sich um Frem­de han­delt. Er hat dei­ne Zim­mer ge­mie­tet und nicht ein­mal sei­nen Na­men ge­nannt, Hall.«

»Nicht mög­lich«, sag­te Hall, ein Mensch, der nur sehr lang­sam be­griff.

»Doch«, ent­geg­ne­te Ted­dy, »mit wö­chent­li­cher Kün­di­gung. Wer er auch sein mag, vor ei­ner Wo­che könnt ihr ihn nicht los wer­den. Und mor­gen kommt ein Hau­fen Ge­päck für ihn, sagt er. Wir wol­len hof­fen, dass sei­ne Kof­fer nicht mit Stei­nen an­ge­füllt sind, Hall.«

Und er er­zähl­te, wie sei­ne Tan­te in Has­tings von ei­nem Man­ne mit lee­ren Rei­se­ta­schen be­tro­gen wor­den war. Im großen und gan­zen er­weck­te er in dem Freun­de einen lei­sen Ver­dacht. »Los, Schim­mel«, sag­te Hall, »ich muss mir die Ge­schich­te doch mal an­se­hen.«

Mit be­deu­tend er­leich­ter­tem Ge­müt stampf­te Ted­dy wei­ter.

An­statt sich die Ge­schich­te »mal an­zu­se­hen«, wur­de aber Hall bei sei­ner Rück­kehr von sei­ner Frau we­gen sei­nes lan­gen Auf­ent­hal­tes in Si­der­bridge tüch­tig ge­schol­ten und sei­ne ziem­lich schüch­ter­nen und zag­haf­ten Fra­gen schnip­pisch und aus­wei­chend be­ant­wor­tet. Doch der Sa­men des Ver­dachts, wel­chen Ted­dy ge­sät hat­te, schlug trotz die­ser Ent­mu­ti­gung in Mr. Halls See­le Wur­zel. »Ihr Wei­ber wisst auch nicht al­les«, sag­te er, ent­schlos­sen, bei der ers­ten pas­sen­den Ge­le­gen­heit Nä­he­res über sei­nen Gast in Er­fah­rung zu brin­gen. Und nach­dem der Frem­de zu Bett ge­gan­gen war, was ge­gen neun­ein­halb Uhr ge­sch­ah, ging Mr. Hall sehr un­ter­neh­mend ins Gast­zim­mer, sah sich die Mö­bel sei­ner Frau sehr ge­nau an, um zu zei­gen, dass nicht der Frem­de dort Herr sei, und maß ein Blatt Pa­pier voll ma­the­ma­ti­scher Be­rech­nun­gen, das der Frem­de lie­gen ge­las­sen hat­te, mit ver­ächt­li­chen Bli­cken. Als er zur Ruhe ging, er­mahn­te er Mrs. Hall, sich das Ge­päck des Frem­den, wenn es am Mor­gen käme, sehr ge­nau an­zu­se­hen.

»Kümm­re dich um dei­ne Sa­chen, Mann«, er­wi­der­te die­se, »und mi­sche dich nicht in mei­ne An­ge­le­gen­hei­ten.«

Sie war umso eher ge­neigt, Hall kurz ab­zu­fer­ti­gen, als der Frem­de ohne Zwei­fel et­was Un­ge­wöhn­li­ches an sich hat­te und sie selbst über ihn durch­aus nicht be­ru­higt war. Mit­ten in der Nacht schreck­te sie ein Traum von un­ge­heu­ren, wei­ßen Köp­fen, die wie Rü­ben aus­sa­hen, auf un­end­lich lan­gen Häl­sen sa­ßen und sie mit rie­si­gen schwar­zen Au­gen ver­folg­ten, aus dem Schla­fe. Aber als ver­nünf­ti­ge Frau über­wand sie ih­ren Schre­cken, dreh­te sich auf die an­de­re Sei­te und schlief gleich wie­der ein.

3. Kapitel – Tausendundeine Flasche

So ge­sch­ah es, dass am 29. Fe­bru­ar, bei be­gin­nen­dem Tau­wet­ter, die­ser merk­wür­di­ge Mensch wie aus den Wol­ken nach Iping her­ab­fiel. Am nächs­ten Tage traf sein Ge­päck ein – und auch die­ses war ei­gen­tüm­lich ge­nug. Es wa­ren al­ler­dings zwei Kof­fer da, wie je­der ver­nünf­ti­ge Mensch sie ha­ben konn­te, aber au­ßer­dem noch eine Bü­cher­kis­te – große, di­cke Bü­cher, man­che in un­ver­ständ­li­cher Schrift – und über ein Dut­zend Kör­be, Kis­ten und Kas­ten, wel­che in Stroh ver­pack­te Ge­gen­stän­de ent­hiel­ten, welch letz­te­re Hall, der in ge­recht­fer­tig­ter Neu­gier­de das Stroh un­ter­such­te, für Glas­fla­schen hielt. Der Frem­de, mit Hut, Stock, Hand­schu­hen und Hals­tuch ver­se­hen, er­schi­en vol­ler Un­ge­duld, als Fea­ren­si­des, des Fuhr­manns, Kar­ren vor dem Hau­se hielt, wäh­rend Hall mit Fea­ren­si­de ein kur­z­es Ge­spräch an­knüpf­te, be­vor er beim Ab­la­den der Kis­ten be­hilf­lich war. Ohne des Fuhr­manns Hund, der freund­lich Halls Bei­ne be­schnüf­fel­te, zu be­ach­ten, trat der Frem­de vor die Tür.

»Be­eilt euch mit den Kis­ten!«, rief er. »Ich habe lan­ge ge­nug war­ten müs­sen!« Und er kam die Stu­fen her­ab auf den Kar­ren zu, als ob er selbst mit Hand an­le­gen woll­te.

Kaum hat­te ihn Fea­ren­si­des Hund je­doch er­blickt, als er un­ru­hig wur­de und zu knur­ren be­gann; als der Frem­de un­ten an­ge­langt war, tat der Hund einen Satz und sprang dann ge­ra­de auf sei­ne Hand los. »Wupp!«, schrie Hall zu­rück­wei­chend, denn er war Hun­den ge­gen­über ge­ra­de kein Held, und Fea­ren­si­de brüll­te: »Nie­der!«, und lang­te rasch nach sei­ner Peit­sche.

Sie sa­hen, wie die Zäh­ne des Hun­des die Hand fah­ren lie­ßen, hör­ten einen Schlag, sa­hen den Hund zur Sei­te sprin­gen, sich in das Bein des Frem­den ver­bei­ßen und hör­ten deut­lich den Riss, der durch des­sen Bein­klei­der ging. Dann fiel Fea­ren­si­des Peit­sche auf den Hund nie­der, der sich un­ter wü­ten­dem Bel­len un­ter die Rä­der des Kar­rens ver­kroch. All dies ge­sch­ah in dem kur­z­en Zeit­raum ei­ner hal­b­en Mi­nu­te. Nie­mand sprach, alle schri­en. Der Frem­de warf einen schnel­len Blick auf sei­ne zer­ris­se­nen Hand­schu­he und auf sein Bein, schi­en sich zu dem letz­te­ren nie­der­beu­gen zu wol­len, wen­de­te sich dann aber um und eil­te über die Stu­fen in den Gast­hof zu­rück. Man hör­te ihn den Gang durch­ei­len und die Holz­trep­pen zu sei­nem Schlaf­zim­mer em­por­stei­gen.

»Du Vieh, du!«, schrie Fea­ren­si­de, mit der Peit­sche in der Hand vom Wa­gen stei­gend, wäh­rend der Hund durch die Rä­der hin­durch jede sei­ner Be­we­gun­gen be­ob­ach­te­te.

»Komm her! Wirst du wohl!«, füg­te er hin­zu.

Hall war atem­los da­ge­stan­den. »Er ist ge­bis­sen wor­den«, sag­te er end­lich, »ich will nach ihm se­hen.« Und er folg­te dem Frem­den. Im Haus­flur traf er sei­ne Frau. »Des Fuhr­manns Hund hat ihn ge­bis­sen«, teil­te er ihr beim Vor­über­ge­hen mit.

Er ging, ohne zu zau­dern, die Stie­gen hin­auf, öff­ne­te die an­ge­lehn­te Tür zu des Frem­den Schlaf­zim­mer und trat ohne Um­stän­de, nur von sei­nem Mit­ge­fühl ge­lei­tet, ein.

Die Vor­hän­ge wa­ren zu­ge­zo­gen und das Zim­mer dun­kel. Se­kun­den­lang hat­te er eine merk­wür­di­ge Er­schei­nung: er glaub­te zu se­hen, dass ihm ein Arm ohne Hand zu­win­ke und er­blick­te ein Ge­sicht mit drei rie­si­gen Fle­cken von un­be­stimm­ter Far­be auf weißem Grun­de, ei­nem hell­far­bi­gen Stief­müt­ter­chen nicht un­ähn­lich. Dann er­hielt er einen hef­ti­gen Schlag vor die Brust und wur­de zu­rück­ge­sto­ßen, wor­auf die Tür hin­ter ihm zu­ge­schla­gen und ver­rie­gelt wur­de. All das ge­sch­ah so schnell, dass es ihm an Zeit fehl­te, wei­te­re Beo­b­ach­tun­gen an­zu­stel­len: ein In­ein­an­der­flie­ßen von rät­sel­haf­ten Schat­ten, ein Schlag und ein Zu­sam­men­stoß. Da stand er auf dem dunklen klei­nen Flur und dach­te nach, was er da wohl ge­se­hen ha­ben könn­te.

Schon nach we­ni­gen Mi­nu­ten schloss er sich wie­der der klei­nen Grup­pe an, die sich vor dem »Fuhr­mann« an­ge­sam­melt hat­te. Dort stand Fea­ren­si­de, der die gan­ze Ge­schich­te schon zum zwei­ten Male er­zähl­te; Mrs. Hall, die fort­wäh­rend er­klär­te, sein Hund habe kein Recht ihre Gäs­te zu bei­ßen; Hux­ter, der Krä­mer von jen­seits der Stra­ße, wel­cher un­ver­dros­sen Fra­gen stell­te, und San­dy Wad­gers, der Schmied, der für al­les Ant­wor­ten be­reit hat­te. Au­ßer­dem Frau­en und Kin­der, die alle gleich­zei­tig spra­chen: »Mir soll­te er nur kom­men!« – »Sol­che Hun­de soll­te man nicht hal­ten dür­fen!« – »Wa­rum hat er ihn denn ei­gent­lich ge­bis­sen?«, und so fort.

Mr. Hall, der auf den Stu­fen stand und zu­hör­te, hielt es be­reits für un­mög­lich, dass er die merk­wür­di­gen Din­ge im obe­ren Stock­wer­ke wirk­lich er­lebt habe. Üb­ri­gens war auch sein Wort­schatz zu klein, um sei­nen Emp­fin­dun­gen Aus­druck zu ver­lei­hen.

»Er braucht kei­ne Hil­fe«, er­wi­der­te er auf die Fra­ge sei­ner Frau. »Wir schaf­fen am bes­ten gleich das Ge­päck hin­ein.«

»Man soll­te die Wun­de gleich aus­bren­nen«, sag­te Mr. Hux­ter, »be­son­ders wenn sie ent­zün­det ist.«

»Ich wür­de den Hund ein­fach nie­der­schie­ßen, er ver­dient es«, mein­te eine Frau in der Grup­pe.

Plötz­lich be­gann der Hund von neu­em zu knur­ren.

»Nun! wird’s?«, rief eine är­ger­li­che Stim­me im Haus­flur und dort stand der ver­mumm­te Frem­de, wie im­mer den Rock­kra­gen in die Höhe ge­schla­gen und den Rand sei­nes Hu­tes nach ab­wärts ge­bo­gen. »Je frü­her Sie mei­ne Sa­chen hin­ein­tra­gen, de­sto lie­ber ist es mir.« Von ei­nem un­be­kann­ten Zuschau­er wur­de bei die­ser Ge­le­gen­heit kon­sta­tiert, dass der Frem­de Bein­klei­der und Hand­schu­he ge­wech­selt hat­te.

»Sind Sie ge­bis­sen wor­den, Herr?«, frag­te Fea­ren­si­de. »Es tut mir wirk­lich leid, dass der Hund – –«

»Durchaus nicht«, ver­setz­te der Frem­de. »Be­ei­len Sie sich mit dem Ab­la­den.«

Dann fluch­te er vor sich hin, wie Mr. Hall be­haup­tet. Kaum war der ers­te Korb nach sei­nen An­ga­ben in das Gast­zim­mer ge­schafft, als er sich mit au­ßer­or­dent­li­chem Ei­fer dar­auf­stürz­te und aus­zu­pa­cken an­fing. Ohne die ge­rings­te Rück­sicht auf Mrs. Halls Tep­pich zu neh­men, warf er das Stroh her­aus und be­gann Fla­schen ans Ta­ges­licht zu för­dern. Klei­ne­re, di­cke Fla­schen mit Pul­vern, klei­ne, schlan­ke Fla­schen mit ge­färb­ten und farb­lo­sen Flüs­sig­kei­ten, lang­hal­si­ge, blaue Fla­schen mit der Auf­schrift: »Gift«, dick­bau­chi­ge grü­ne Glas­fla­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­