cover
F.W.G. Transchel

Vergessen

Es reicht nicht, unsterblich zu sein...





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Vergessen

 





 

 

Vergessen


F.W.G. Transchel

 

 

Copyright © F.W.G. Transchel 2017

 

 

Rechtliche Hinweise am Ende des Buches.


Bookrix Edition

Kostenloser Download

Mehr Lesestoff

 

Trage Dich für die exklusive E-Mail-Liste des Autors ein und erhalte Dein

Gratis-Exemplar von Misa Vebilettis erstem Abenteuer: BURST (Teil I)

 

Hier geht’s zur Anmeldung:

www.fwgt.de

Prolog

 

Weißer Kies lag auf der aschgrauen Marmorplatte. Die Krähen hatten ganze Arbeit geleistet, denn die Platanen an den schmalen Mauern des Stöckener Friedhofs spiegelten sich nur zum geringsten Teil in der makellos glatten, doch hoffnungslos von aufgewirbelten Steinchen befleckten Oberfläche – unruhig, genau wie ihre Gedanken. Ines Schultheiss trat noch ein Stück näher, seufzte und nahm die vertrockneten Blumen aus der silberfarbenen Vase.

»Michel Hansen, 25. November 2038 - 7. Mai 2082« stand in ebenso silberfarbenen Lettern auf der Platte. Achteinhalb Jahre war es her. Achteinhalb Jahre, in denen sie den Sinn nicht hatte finden können. Sich wieder und wieder gefragt hatte, ob sie es hätte verhindern können. Verhindern müssen. Sie hätte ihn nicht bitten dürfen, über die DNA-Samples zu sehen. Dann könnte er noch am Leben sein.

Sorgsam nahm sie den frischen Friedhofsstrauß aus dem Papier und stellte ihn in die Vase. Nein, das war noch nicht richtig.

Sie trat ein paar Schritte zurück, gab das Wasser dem trockenen, leicht frostigen Boden und sah sich nach den Wasserhähnen um. Ein seltsames Gefühl der Spannung überkam sie. Die jugendlichen Rückenwirbel kribbelten, ehe ihr genetisch jung gehaltenes Gehirn endlich die Störung fand, die es stach.

Mit zielsicherem Blick lugte sie in die Blumenvase in ihrer Hand und sah das kleine Schächtelchen auf deren Boden, das dort nicht hingehörte. Ein Schütteln der Vase half nicht, es war sicher und fest verklebt. Versuchsweise griff sie mit den Fingern danach, doch sie konnte das Schächtelchen nicht erreichen - die Vase war zu schmal und zu lang.

Unruhig drehte sie die Vase um ihre Achsen. Wehmütig dachte sie daran, wie sie die Vase, verwirrt und vom frischen Eindruck der Unsterblichkeit übermannt, in dem kleinen Lädchen an der Fuhsestraße gekauft hatte, unfähig ihre Trauer - nein, die Ungerechtigkeit der Welt - zu kanalisieren, geschweige denn zu verarbeiten. Wie also kam eine Schachtel jetzt dort hinein, noch dazu eine zunächst unerreichbare? Neugier schwang um in Ungeduld, und Ines ertappte sich, dass sie die Vase einfach zu Boden werfen oder gegen eine Wand schlagen wollte. Doch das wäre nicht die Ines Schultheiss gewesen, die sie zu sein hatte. Unbeherrscht und leidenschaftlich – darüber war sie hinaus. Sie war eine Alte. Allein ihre körperliche Anwesenheit an diesem Ort der Sterblichen war nonkonform genug, um erhobene Augenbrauen bei all denjenigen Alten zu erzeugen, die man mit etwas Wohlwollen als Freunde hätte bezeichnen können. Noch einmal drehte sie die Vase um ihre Achse. Unter dem Boden indes gab es einen winzigen Kratzer in der sonst fehlerfrei eloxierten Oberfläche. Nachdenklich fuhr sie mit dem Zeigefinger darüber, als die Vase kurz vibrierte und ein hochfrequentes Fiepen von sich gab. Einen geisterhaften Augenblick später war es wieder still in Stöcken, ehe ein knirschendes Geräusch Ines ihren spontanen Triumph verdeutlichte. Irritiert nahm sie das kleine Kästchen auf, das sich von der Vase gelöst hatte und zu Boden gefallen war.

Starr blickte sie die winzige Pillendose an, die auf ihrer Hand lag. Es war ihre eigene. Seit Jahren hatte sie sie nicht mehr verwendet, denn Alte brauchten keine Medikamente. Alle Stoffe, sogar noch so exotische Antikörper, konnte die angepasste DNA selbst herstellen. Früher hatte sie Schmerztabletten für ihren nur von Titanplatten zusammengehaltenen Rücken in diesem Döschen aufbewahrt. Wann immer der Stress des Kriminalpolizeialltags es erforderte, hatte sie mehr oder weniger ungeniert zugegriffen. Wenn der Kaffee nicht ausgereicht hatte. Ines schloss die Augen und dachte nach, wann sie die Dose das letzte Mal bewusst gesehen hatte. Bedauerlich, dass die strengen Regeln des Programms keine Verbesserungen wie gutes Gedächtnis erlaubten, denn dann hätte sie nicht in Gedanken die letzten Jahre durchgehen müssen, nur um sich dann doch einzugestehen, dass es keine Erklärung für das Kästchen gab. Wie lange lebte sie jetzt schon in der großen Wohnung an der Ihme? Sie blickte erneut auf das Datum auf dem Grabstein. Der seltsam drohend scheinende Schatten der Vergangenheit wiederholte die nüchterne faktische Erkenntnis: achteinhalb Jahre.

Ines musterte die kleine Dose nochmals. Sah die selbst eingravierten Initialen auf der Rückseite an und war wie benommen vor Wehmut. Seltsam. Sie dachte eigentlich niemals an die Zeit vor der Unsterblichkeit. Es war nicht so, dass alle Erinnerungen verblasst wären … Dies war nur einfach nicht die Art, mit dem Leben vor dem Leben umzugehen. Es war selbstverordnete Abstinenz von der Erinnerung an den Gedanken, dass alle, die sie kannte, irgendwann tot sein würden, während ihr nicht einmal ein einziges Haar ausgefallen sein würde. Mit der Präzision eines Herzchirurgen nahm sie die Dose zwischen Zeigefinger und Daumen. Motorisches Gedächtnis konnte erstaunlich sein, und in diesem Fall bedeutete es, dass sie noch immer in der Lage war, das Kästchen so elegant zu öffnen wie viele Jahre zuvor.

Ihre Fingerkuppen kribbelten vor Spannung, doch als die Augen das Innere absuchten, war augenblickliche Enttäuschung die Folge. Die Dose war leer. Hier gab es keine Abenteuer. Nur verschwendete Neugier.

Melancholisch blickte Ines zurück auf die von forsttechnischer Meisterhand geformten Äste der Friedhofsbäume, die regelmäßig angeordnet den breiten Weg zum Mausoleum einrahmten.

»Hallo Ines.«

Sie erstarrte, als Eis ihre Glieder gefrieren ließ und ihr Herz in den Würgegriff nahm. Die Dose hatte offenbar eine akustische Projektion geladen. Doch das allein war nicht der Grund für den Schock.

Die Stimme gehörte ihr selbst und schien nicht aus der Dose, sondern aus ihrem Verstand zu kommen. Atemlos, unfähig zu denken oder sich zu bewegen, starrte sie auf die Pillendose, der schließlich ein Geist der Vergangenheit entstieg.

 

»Was ich zu sagen habe, wirst du mir nicht glauben, schließlich kenne ich mich selbst ganz gut. Wenn meine Vermutungen richtig sind, wirst du dich nicht an das erinnern, was ich weiß. Was du wusstest, doch vergessen hast. Aber es gibt eine Möglichkeit, dies einwandfrei zu beweisen. Nicht, indem du es liest oder hörst oder erzählt bekommst. Sondern, indem du es erlebst.«

 

Mit dem letzten Wort schloss sich die Schachtel selbsttätig und gab Ines einen winzigen Stromstoß. Neu Hamburg verschwamm vor ihren Augen.

 

Es begann.

1.

 

Sie saß auf der großen Terrasse ihres Penthouse in der obersten Etage des hypermodernen Ihmepalastes. Beinahe lautlos legte die Postdrohne, die sie ihrerseits bereits selten genug zu Gesicht bekam, eine Nachricht direkt auf den kleinen Tisch neben der Liege, auf der sie zu jener Zeit Charles Dickens’ frühe Werke zu studieren pflegte.

Unruhig brummte das Technikwunder, bis Ines endlich erkannte, dass es auf eine DNA-Bestätigung des Erhalts wartete. Gelangweilt zog sie den Daumen über die dafür vorgesehene Sensoraussparung am Kopfteil des Schweberoboters, der daraufhin die seltsam gefaltete, auf altmodischem Papier abgefasste Nachricht zu Boden sinken ließ, ehe er wieder in die Weite des Neu Hamburger Himmels verschwand.

Nachdenklich musterte Ines Schultheiss das Papier. Der Umschlag war edel, doch abgegriffen. Außerdem waren Fingerabdrücke in Tinte darauf zu sehen. Wer immer den Brief geschrieben hatte, musste in großer Aufregung gewesen sein. Ihre kriminalistische Ausbildung tadelte sie dafür, das Papier mit den Fingern berührt zu haben, doch sie beruhigte sich damit, dass es keinen Grund gab, Beweise zu sichern. Sie war immerhin seit Jahren nicht mehr im Dienst. Alte arbeiteten nicht.

Der Umschlag war sorgsam gefaltet und nur ganz leicht zerknittert. Nachdem der schreckliche Gedanke an verschwendete Fingerabdrücke überwunden war, konnte sie sich dazu aufraffen, das Kuvert einfach aufzureißen. Es fühlte sich gut an, ein altmodisches Medium altmodisch zu behandeln. Ungläubig starrte sie auf das Papier, das zum Vorschein kam. Es war noch hochwertiger und schwerer als der Umschlag, und die Schrift, die sie ansah, war nicht anders als perfekt zu klassifizieren. In vollendeter Kunstfertigkeit lagen Kringel, Serifen und Schnörkel vor ihr, die sie in aufrichtiges Staunen versetzten. Zugleich war Dank der Tintenflecken klar erkennbar, dass dies nicht einfach nur ausgedruckte Meterware war, die aus falschem Anstand analog übermittelt wurde.

 

»Hochverehrte Frau Schultheiss,

 

wir sind uns nie begegnet, doch ich weiß um Ihre Meisterschaft. Mir ist klar, dass mein Wunsch, Sie zu treffen, töricht ist, doch lässt mir die Enge meines Herzens keine Ruhe. Vor einigen Tagen ist mein guter Freund Hieronymus Ballin verstorben. Er war im Programm so wie Sie und ich, sodass ich Ihnen nicht erläutern muss, dass es sich um einen Tod durch bedauerlichen Unfall handelt. Die Untersuchungen sind abgeschlossen, doch meine Unruhe besteht fort. Ich hoffe, dass vielleicht Sie mir die Ergebnisse der Ermittlung erklären können, sodass meine Zweifel beseitigt werden möchten.

Ich entschuldige mich für diesen unangemessenen Wunsch, hoffe aber, dass Sie mein Streben in Ihrem Inneren verstehen können. Bitte zögern Sie nicht, all Ihre Unannehmlichkeiten auf meine Kosten abzuwälzen.

 

Mit den besten Wünschen,

Der Ihnen tief ergebene

 

Constantin von Lorenz«

 

Verdattert drehte Ines das Papier herum. Die Rückseite war leer und ebenfalls mit Tinte gepunktet. Soweit zur Authentizität. Sie schnippte mit den Fingern. Kaum wahrnehmbar surrte die Terrassentür zur Seite.

»Sie haben gerufen?«

Ihr Haushaltsroboter stellte sich dezent neben den Beistelltisch und begann bei der Gelegenheit gleich damit, das Outdoor-Mobiliar zu säubern.

»Bitte stelle mit dem Holoemitter eine Verbindung zu Herrn Constantin von Lorenz her.«

Die Maschine verbeugte sich. »Wie Sie wünschen.«

Ines trank genüsslich ihren Morgenkaffee aus und legte den Brief zur Seite. Als sie aufstand, sah sie das prächtige Panorama der Nordseeküste vor den Wedemärkischen Inseln und dem Nordhafen Neu Hamburgs. Wellen umrissen wie tausend kleine Perlen die Neu-Halligen, die kaum ein Jahrzehnt alt waren und deren Fortbestand längst nicht als gesichert gelten konnte. Sie war nicht beeindruckt, eher gelangweilt, und ignorierte das allzu bekannte Schauspiel, als sie eilig den Teleholographieraum aufsuchte.

Ines fröstelte unter den exakt klimatisierten Bedingungen, die nötig waren, um die Ionen-Resonanz-Holographie zu ermöglichen. Bis auf den bequemen, doch einsamen Sessel in der Mitte des Raumes gab es keinerlei Einrichtung - nur kahle, leblose Wände. Doch gleich würde in pixeliger Approximation die Imitation ihres Wohnzimmers erscheinen, in der ihr Gesprächspartner Platz genommen hatte, obschon er weit entfernt in seinem eigenen Holographieraum saß. Es war die bevorzugte Art der Kommunikation geworden, denn persönlicher Kontakt wurde seltsamerweise als unrein und unkultiviert deklariert. Ines schüttelte den Kopf über die komplizierte Etikette einer Gesellschaft, derer sie so unverhofft teilhaftig geworden war, und setzte sich. Atmete kühle, ionisierte Luft.

Der Haushaltsroboter stand an der Kontrollkonsole und schüttelte resigniert den Kopf. Ines fand selten Gefallen an den simulierten Emotionen der Blechbüchse, doch diesmal wunderte sie sich.

»Was ist los?«

»Der Teilnehmer wünscht keine Verbindung. Stattdessen übermittelt er nur eine Textnachricht.«

»Wie bitte?«

Die Spracherkennung des Roboters vermochte die subtile Ironie in Ines’ Stimme nicht zu deuten, sodass die primitive Nachbildung von Mimik aus seinem Gesicht verschwand und lebloser, technischer Gleichgültigkeit Platz machte. »Ich habe Sie nicht verstanden", sagte er freundlich, doch Ines durchschaute den Versuch der heuristischen Routinen, sie zu einer Neueingabe zu bewegen. Allein, das würde nicht geschehen. Ausdruckslos wartete sie, wann der Roboter begreifen würde, was sie wollte. Sie machte sich keine Illusionen - die Roboter würden immer strohdumm bleiben, aber es gab immerhin so etwas wie leidliches Maschinenlernen durch wiederholte Error-Schleifen. Auch wenn das bedeutete, dass sie jeden Tag ein bis zwei solcher Situationen erlebte, würde es mit der Zeit besser werden. Und Zeit … davon hatte sie jede Menge.

»Soll ich die Nachricht vorlesen?«, fragte die weich surrende Maschinenstimme nun.

»Aber gern.«

»Kein elektronisches Gespräch. Direkt Treffen. 14 Uhr Maritim-Balkon angenehm?«

Ines stutzte. Das war wirklich merkwürdig. Es gab kein Gesetz gegen persönliche Treffen, und sie bildete sich sogar ein bisschen was darauf ein, nicht streng den Konventionen zu folgen, doch so eine direkte Aufforderung tangierte selbst ihr Intimgefühl. Es war einfach nicht üblich, Alte in personam zu treffen, erst Recht nicht mittags. Ein kleines Kribbeln bildete sich in Ines’ Magen. Neugier stieg in ihren Brustkorb auf und ließ ihr Gehirn an der Seltsamkeit des Tages schnuppern. Na schön. Es würde sicher interessant werden.

»Antwort lautet: ›Angebot angenommen.‹«, diktierte sie dem Roboter und ging dann wieder ins Freie.

 

# # #

 

Der Weg in die sogenannte historische Innenstadt dauerte mittels Transportkapsel nur zweieinhalb Minuten. Zweieinhalb Minuten, die sich seltsam, ja sogar falsch anfühlten. Was ging in diesem Constantin von Lorenz vor, dass er ihr so ein Treffen abverlangte? Im Kopf spielte sie die Wahrscheinlichkeit von Verfolgungswahn durch, doch sie verwarf die Möglichkeit. Das Geneworks-Genom stellte natürlich von allein die perfekte Balance der Hirnbotenstoffe ein. Niemand hatte so etwas wie Stimmungsschwankungen, geschweige denn echte psychologische Probleme. Ines spürte das wohlige Kribbeln der Ermittlerin außer Dienst. Hier gab es ein Rätsel. Und auch wenn es sich nur als klein oder unbedeutend herausstellen würde, so ließ es sie sich doch auf seltsame Art und Weise lebendig fühlen.

Die transparente Alu-Abdeckung der Kapsel surrte und flutete Licht ins Innere des Individualtransportmittels. Der Geruch des frischen Leders im Inneren wich der Meeresluft der Oberfläche. Ines stand auf und wusste, dass sie sich unter dem Trammplatz befand, direkt zwischen Rathaus und dem Maritim.

Sie hatte auf ihren Antigravgurt verzichtet und auch die traditionelle weiße Gewandung nicht angezogen, um sich unbeschwerter bewegen zu können. Nicht, dass sie keinen Wert darauf legte, doch sie fühlte sich damit unter normalen Menschen unwohl. Mühelos erklomm sie auch so die Treppenstufen und erreichte die sonnengetränkte Oberfläche. Die mit transparenten Solarpaneelen überspannte Bausünde, die mehr als ein Jahrhundert überdauert hatte, lag wie ein schlafender, auf seine ganz eigene Weise hässlicher Moloch in der Mittagssonne.

Ines nickte dem Pförtner zu und betrat kommentarlos die Lobby. Sie wusste, dass es nicht so sehr darauf ankam, ob man tatsächlichen Einfluss besaß, sondern viel mehr darauf, dass man glaubhaft den Eindruck erwecken konnte, dass es so sei. So fiel es ihr nicht schwer, auch ohne Gottes-Uniform eine ordentliche Behandlung zu erhalten. Schon als sie noch durch die Lobby laufend den Lift suchte, bemerkte sie den Alten, der davor schwebte. Die makellose Stirn ging in die glatten Gewänder über, die seine perfekt ausbalancierten Proportionen verbargen. Demonstrativ stellte sie sich daneben, sagte aber nichts. Der Mann, von dem sie nicht wusste, ob es Constantin von Lorenz war, reagierte nicht. Wenn er sie für eine Junge hielt, würde er sie zurechtweisen, sobald sie denselben Fahrstuhl zu nehmen versuchte. Ines erinnerte sich, dass es an sich schon außergewöhnlich war, dass Alte ihre Wohnung verließen. Wie unwahrscheinlich musste es also sein, dass es sich nicht um den Mann handelte, mit dem sie verabredet war?

Der Innenraum des Hotels hatte den Brutalismus seiner Erbauer abgelegt und eine Verkleidung im Gründerzeitstil übergestülpt bekommen, sodass der Fahrstuhl leise pingte, als er sich öffnete, und ein befrackter Lobby-Roboter zum Vorschein kam, der den Fahrstuhl auf altmodische Weise bediente. Die Aufmachung diente zweifellos dazu, die Konsistenz des Auftritts zu betonen, doch Ines fand es angesichts von vollautomatisierten Wohnungen albern, so zu tun, als würden Roboter für die einfachsten Arbeiten benötigt werden. Es war eine ganz eigene Art der Dekadenz, die nichtsdestoweniger perfekt zur Örtlichkeit passte.

»Wohin möchten die Herrschaften, bitte?«

»Aussichtsterrasse des Restaurants«, sagte der Alte neben ihr ohne Zögern und ohne sie eines Blickes zu würdigen.

Ines nickte dem Roboter zu und stellte sich neben ihn in die Aufzugsgondel. Leise surrten die Türen zur Mitte. Als sie geschlossen waren, drehte der Alte sich zu ihr und hob beide Augenbrauen. Sein Ausdruck schwankte zwischen Anerkennung und Abscheu.

»Ich dachte, ich wüsste, worauf ich mich einließ, als ich Sie um Hilfe bat. Auch wusste ich um Ihren Hang zur … Exzentrik. Doch Ihre Erscheinung ist ganz und gar … unerwartet.«

Ines musste unwillkürlich lächeln. »Ich hatte nicht vorgehabt, Sie zu provozieren«, sagte sie. »Doch Sie haben Recht, ich halte nicht viel von der Aura der Unnahbarkeit, mit der wir uns zu umgeben pflegen.«

»Dann sind Sie die, nach der ich gesucht habe.«

Sie sagte nichts und stellte fest, dass Constantin von Lorenz starr nach vorn blickte. Es war ihm unangenehm, auf diese Weise mit ihr und ihrer Erscheinung zu interagieren, doch das war der Preis, den sie ihm abverlangte. Sie würde kein Geld wollen, auch keine Gefälligkeiten. Unbeschwert und natürlich zu sein, das war der Luxus, den sie plötzlich realisierte.

Der Fahrstuhl pingte erneut und die prunkvollen Türen schwebten zur Seite. Die Überdachung der inneren Bereiche der Restaurantterrasse, die aus Gründerzeitschmiedeeisen hervorging, war ein völlig grotesker Stilbruch mit ihren Elementen aus Glas und Stahl. Es mochte Menschen geben, die die Symbiose als mehr oder minder geschichtsbewusste Satire priesen, doch Ines' Auge vermochte es nicht zu gefallen. Das Maritim war teuer, da überraschte es nicht, dass zur Mittagszeit kaum Tische besetzt waren. Selbst die Geschäftsleute des Finanzquartiers östlich von hier bevorzugten gentrifizierte Szene-Bars, und so hatte Constantin von Lorenz abgesehen von echten und elektronischen Kellnern keinerlei Indiskretion zu erwarten.

Sie hatten einen prächtigen Blick auf das neue Rathaus und den Maschsee, der in letzter Zeit bisweilen gar ›neue Alster‹ genannt wurde. Ines konnte nicht verstehen, wie es möglich war, dass eine Stadt eine andere so vollkommen dissimilierte.

»Sein Bau jährt sich in Bälde zum zweihundertsten Mal«, sagte Constantin von Lorenz und deutete auf die mit der Zeit grün angelaufene Kuppel des Rathauses. »Zweieinhalb Zeitalter trennen uns von den Menschen, die es erbauten, und doch scheint es mir beinahe manchmal so, als wären es nur zwei Tage.«

»Ein klares Zeichen dafür, wie sehr die Unsterblichkeit das Zeitgefühl verfälscht«, entgegnete Ines spitz, doch nicht zynisch. Sie liebte es, ihre Gegenüber durch implizite Assumtionen zu durchleuchten. Es war beinahe so, als wäre sie die Ermittlerin und von Lorenz ein Verdächtiger. Die Kriminalistin in ihr, schloss sie, würde niemals schweigen.

»Wir sind doch nicht hier, um über Architektur zu philosophieren«, sagte von Lorenz schroff und deutete ein winziges Stirnrunzeln an. Seine Aura der Unnahbarkeit bröckelte kurz, doch dann schien er sich zu erinnern, dass er ein unfehlbarer, unsterblicher Alter war, und lächelte Ines an. »Was Sie hierher bringt, ist weit bedeutender als dieser alte Haufen Deistersandstein.«

»Durch die geweckte Neugier erst ließ ich mich umstimmen«, sagte Ines und deutete damit an, dass er sich glücklich schätzen könne, ihre Gesellschaft zu genießen.

»Ich entschuldige mich für meine Geheimnistuerei«, sagte Constantin von Lorenz, »doch ist es in Ihrem Interesse.«

Ines versuchte sich an einem raubtierhaften Lächeln. Von Lorenz schien es darauf anzulegen, ausgehorcht zu werden. »Fahren Sie nur fort«, sagte sie.

Von Lorenz atmete tief ein, viel tiefer als notwendig, um den Sauerstoffgehalt seines Blutes aufzufüllen.

»Vor vier Tagen«, begann er, »starb Dr. Hieronymus Ballin.«

»Ich hörte davon«, sagte Ines knapp. Das war untertrieben. Ballin war einer der ersten Alten Norddeutschlands gewesen. Sein Tod hatte große Bestürzung in der gesamten Gemeinschaft ausgelöst.

»Nun, sein Wagen ist aufgrund einer Fehlfunktion der automatischen Lenkung in das Fundament der Leinebrücke im Stadtteil Ruthe-Wilhelmsburg gerast und er selbst durch den Aufprall gestorben.«

Ines nickte. »Kannten Sie ihn?«

»Ich weiß, dass wir uns viel darauf einbilden, übermäßige Emotionen zu ignorieren«, sagte von Lorenz und legte die Stirn endgültig in Falten. »Doch diesmal ist es anders. Hieronymus und ich haben zusammen die Vorbereitung auf die Sequenzierung durchgemacht … zu jener Zeit stellte sich heraus, dass es für mich noch keine Möglichkeit gab, ins Programm zu kommen, weil ich eine Inkompatibilität aufwies. Er fing mich auf, weil ich ob der Sterblichkeit beinahe von selbst aufgehört hätte, zu leben.«

»Mein aufrichtiges Beileid«, sagte Ines. ›Was für eine Ironie‹, dachte sie. Zwei Männer gingen gemeinsam den Weg der Unsterblichkeit und dann musste einer den anderen wegen eines Unfalls begraben. Unwillkürlich dachte sie an Michel Hansen. Wäre er irgendwann ins Programm gekommen? Womöglich schon. Viele Männer hatte sie kommen und gehen sehen, doch es lag in der Natur ihrer Arbeit, dass sie sich niemals gebunden hatte. Michael war nicht nur ihr Pathologe, sondern auch ihr Freund gewesen. Beide wussten sie, dass es niemals funktioniert hätte, und eines Tages dann hatte er Frau und Kinder und ein anderes Leben gehabt. Eines, das sie niemals hätte führen können. Und dann nahm ihre Torheit es auch ihm. Seltsam. Wieso vermisste sie ihn ausgerechnet jetzt so sehr?

»Ich danke Ihnen«, sagte Constantin von Lorenz nach einem Augenblick des Schweigens. »Sie fragen sich jetzt sicher, warum ich Sie hergebeten habe.«

Ines nickte. »Es gehört nicht viel Scharfsinn dazu, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben.«

»Ich erlaube sie, wenn Sie versprechen, die aufgesparte Rechenleistung in meine Frage zu investieren.«

Man musste ihm lassen, dass er eloquent war, dachte Ines. Es gab auch Alte, die nur arrogant waren.

»Ich bin gespannt«, sagte sie und wartete.

»Ich habe Zweifel«, antwortete er.

»Woran?«

Von Lorenz lachte auf eine bittersüße, belustigte Art, die seine innere Zerrissenheit für eine Profilerin, wie Ines es war, ganz und gar offenbarte. »An … wie sagt man, dem Ermittlungsergebnis?«

»Warum?« Ines machte sich langsam ein Bild von diesem Alten. Seine kontrollierte, arrogant-beherrschte Seite dominierte seine Äußerungen, doch wenn er sich räusperte und innehielt, konnte sie in seinem Gesicht eine Welt voller Zweifel erspähen, deren Ursprung sie noch nicht erkannte. Die routinemäßige Typisierung brachte die Profiling-Ausbildung mit sich, und gewiss hätte von Lorenz das nicht gefallen. Doch entweder stellte er sich als schrullig heraus, dann spielte es keine Rolle, oder es war etwas an dem dran, was er behauptete, so würde er es ihr vergeben. All diese Gedanken geschahen mehr unbewusst und in Sekundenbruchteilen, sodass sie bereits seine Mimik lesen konnte, die Unsicherheit signalisierte, bevor er aussprach, was er fühlte.

»Ich weiß es nicht.«

Ines wartete ab, ob sein Gesicht noch mehr verriet, ehe sie antwortete, doch die kühle Arroganz kehrte in seinen Blick zurück.

»Ich bin nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe«, sagte sie vorsichtig. Sie durfte ihn nicht vor den Kopf stoßen, wenn sie mit ihrer Neugier diesen ›Fall‹, wenn es denn einer war, nicht zunichtemachen wollte.

»Ich auch nicht.« Vor Ines’ innerem Auge spielte von Lorenz nervös mit den Füßen unter dem Tisch, doch in Wahrheit hatte nur ganz, ganz kurz seine linke Wade für einen Moment gezuckt. Er war wirklich unsicher. Doch warum?

»In Ordnung, Herr von Lorenz. Warum haben Sie mir diesen recht geheimnistuerischen Brief geschickt und mich hierher gebeten, wenn Sie nicht wissen, woher ihre Zweifel stammen? Sehen Sie das bitte nicht als Kritik an … Ich habe das Gefühl, dass dieser Aspekt uns voranbringen kann.«

»Vermutlich haben Sie Recht. Ich entschuldige mich für meine schlechte Vorbereitung.«

›Kein Problem‹, dachte Ines. ›Ich bin hier schließlich der Profi.‹ Sie hatte schon Kriminelle zum Sprechen gebracht, die gerade nicht wollten, dass sie etwas erfuhr. Und hier lag die Sache doch wesentlich einfacher, wenn sie nicht alles täuschte. »Gehen wir doch einmal von Anfang an alles durch«, sagte sie. »Wann haben Sie vom Tod ihres Freundes erfahren?«

Verwirrt blickte von Lorenz sie an. »Ich weiß nicht. Ich denke, dass ich einen Anruf bekommen habe. Mhh.«

Ines wurde schlagartig aufmerksam. Hatte sie zuvor angenommen, dass der Mann von seinen gesellschaftlich nicht akzeptierten Gefühlen für einen Freund übermannt war, stutzte sie jetzt. So wie jeder Alte noch genau wusste, wo er gewesen war, als die Bombe im Ulm-Stuttgarter Rathaus explodierte oder Seoung Lees Ultimatum durch die Kanäle ging, so hätte sich der Moment, da er die Nachricht über seines Freundes Tod bekommen hatte, eigentlich in sein Gedächtnis einbrennen müssen. Alte waren zwar nicht allwissend, aber sie hatten trotzdem ein normal funktionierendes Gedächtnis.

»Bitte überlegen Sie noch einmal genau«, sagte Ines aufmunternd. Obschon sie es besser wusste, fügte sie hinzu: »Das könnte wichtig sein.« Nicht, dass es jemals beim Erinnern geholfen hätte - Ines wusste, dass der Satz dafür sorgte, dass der Befragte sich ernstgenommen fühlte und offener verhielt.

»Ich … ich muss diese Frage zurückstellen, fürchte ich«, sagte Constantin von Lorenz konsterniert. »Es fühlt sich an, als wäre die Erinnerung da, aber immer wenn ich sie greifen will, windet sie sich hinweg. So was aber auch.«

Ines schüttelte den Kopf. »Ist nicht schlimm.« Sie würde später den zeitlichen Ablauf rekonstruieren. Auf jeden Fall war ihre Neugier geweckt. »Was können Sie mir noch erzählen?«

»Ich habe ihn identifiziert. In der Leichenhalle. Für die Behörden«, sagte er.

»Hatte er keine Verwandten?«, fragte Ines.

Von Lorenz schüttelte den Kopf. »Nicht mehr.«

Ines dachte kurz an ihre Eltern. An Michel Hansen und seine Kinder. »Das ist unser aller Schicksal, nicht wahr?«

»Das wissen wir vorher«, sagte von Lorenz gleichgültig.

Genau. Alle bis auf sie. Niemand hatte sie gefragt, ob sie ins Programm aufgenommen werden wollte. Und dann als große Heldin der Geneworks-Krise abzulehnen - unvorstellbar. Kurz dachte sie daran, wie sie im Universitätsklinikum von Ulm-Stuttgart auf die glänzenden Türme der süddeutschen Metropole hinunter geschaut hatte und plötzlich mit den Händen über die glatte Haut über den reparierten Rückenwirbeln gefahren war. Es hatte sich anders angefühlt damals. Wie ein Aufbruch. Die Welt … das Leben hatte vor ihr gelegen. Und heute?

»Also schön«, sagte Ines und kehrte mental auf die Maritim-Terrasse zurück. »Es ist womöglich schmerzhaft für Sie, doch bitte beschreiben Sie alles, woran Sie sich erinnern.«

»Er lag auf einem dieser blankgeputzten Tische, mit einem Schnitt vom Hals bis zum Bauchnabel. Leichenblass. Entschuldigung.«

Von Lorenz machte ein seltsames Gesicht, als er sich der unfreiwilligen Komik seines Ausdrucks bewusst wurde, doch Ines konnte sehen, dass er in Wahrheit mit den Tränen kämpfte. Nicht wie ein junger Mensch, sondern wie ein Alter. Und das bedeutete, dass nur ein kurzes Zucken der Augenwinkel verriet, wie es in ihm aussah. Er war erschüttert über den Verlust. Aber das war noch nicht alles.

»Ich verstehe«, sagte Ines. »Bitte fahren Sie fort, wenn Sie bereit sind.«

»Es fällt mir schwer, das einzugestehen«, sagte der Mann, »doch es tut gut, darüber zu reden. Man erwartet von uns, beispielhaft und vorbildlich zu sein. Jederzeit. Niemand versteht, dass auch wir menschlich sind, nicht wahr?«

Ines nickte. »Ich weiß, dass es ein schwacher Trost ist, doch auch ich habe mit der Zeit viele Freunde verloren.«

»Natürlich«, sagte von Lorenz und beruhigte sich. Aufmerksam beobachtete Ines, wie die kalte Anspannung in sein Gesicht zurückkehrte. Es fiel ihm schwer, doch die Aura der Unnahbarkeit war so eingeübt, dass es selbst unter diesen Umständen gelang. Sie wusste, dass es in gewisser Weise ungeschickt gewesen war, seine emotionale Aufgewühltheit nicht zu weiteren Fragen zu nutzen, doch auf lange Sicht war es wichtiger, sein Vertrauen zu gewinnen. Das hieß, wenn etwas dran war an seinen Vermutungen. Noch deutete nichts darauf hin.

»Es geht nicht um das, was ich erinnere oder nicht erinnere«, sagte er schließlich. »Wir bilden uns viel, sehr viel, auf unsere Rationalität ein. Wir sind immun gegen subjektive Launen.«

Ines nickte. »Manch ein Junger legt uns das als Schwäche aus.«

»Und damit haben sie womöglich auch recht. Frau Schultheiss, Sie sind hier, weil ich eine solch subjektive Laune verspüre. Ich kann Ihnen nicht mehr sagen als das, was ich fühle, und das ist: Irgendetwas stimmt an der Geschichte nicht.«

Constantin von Lorenz überraschte sie. In aller Deutlichkeit hatte er ein Geständnis gemacht, das manch anderem Alten die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätte, doch dieser vor Leben nur so strotzende Mann sah trotz faltenloser Stirn und aufrechter Haltung jämmerlich ratlos aus.

»In Ordnung«, sagte sie. Nicht mit Überzeugung und auch nicht mit Pflichtbewusstsein getränkt. Es war die stille Neugier auf ein Rätsel, die sie antrieb, dem Mann einen Gefallen zu tun. Eigentlich ging sie davon aus, dass es keine Verschwörung zu wittern, keine Unklarheiten zu beseitigen galt. Doch da war diese unnachgiebige Überzeugung in seinen erst auf den zweiten Blick traurigen Augen. »Ich sehe, was ich tun kann.«

»Danke«, sagte von Lorenz mit unverhohlener Erleichterung. »Wie bereits gesagt werde ich für all ihre … Unannehmlichkeiten aufkommen.«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Ines. »Das Rätsel ist Belohnung genug.«

Von Lorenz lächelte matt und erhob sich mit einem winzigen Surren des Antigrav-Skelettes. »Das ist also echtes Berufsethos«, sagte er.

Auch Ines stand auf und verbeugte sich. Er hatte ja keine Ahnung. Berufsethos hin oder her, ihr ging es in diesem Moment nur um ein Kleinod an Beschäftigung, dessen Ende nicht vorherzusehen war. Den weichgespülten Trott der überbehüteten Unsterblichkeit zu durchbrechen. Etwas zu erleben.

»Das wird sicher ein Spaß«, sagte sie.

2.

 

Nachdem sie sich mühsam und wenig würdevoll verabschiedet hatten, suchte sie rasch die Artikel der Lokalpresse heraus, die es zu dem Unfall gab. Die Behörden hatten wenig Greifbares veröffentlicht, doch das war in solchen Fällen normal. Missmutig schnippte Ines die Artikel über ihr Padphone. Sie konnte immerhin herausfinden, dass es sich um einen Unfall mit Todesfolge an der Rethener Leinebrücke gehandelt hatte, doch weder die Identität des Mannes noch die genauen Umstände wurden bekannt gegeben. Genug Gelegenheit also, sich selbst ein Bild davon zu machen.

Als Ines zurück zum Transporthub unter dem Trammplatz ging, bemerkte sie nur allmählich, wie beschwingt sie sich bewegte. Der Fall mochte wenig rätselhaft wirken und noch weniger Neugierde in ihr hervorrufen - die schiere Möglichkeit, 'mal wieder zu ermitteln’ schien sie doch mit … nun ja, Lebenskraft zu durchströmen. Für gewöhnlich war es nicht ihre Stärke, abzuwarten, bis eine freie Kapsel kam, und darüber hinaus wurden Alte natürlich bei der Wartezeit bevorzugt - nicht offiziell zwar, aber doch so, dass jeder es wusste - allein, diesmal war es ihr vollkommen egal, dass sie minutenlang auf ihren Slot warten musste. Sie hatte ja alle Zeit der Welt.

 

# # #

 

Rethen-Wilhelmsburg war ein seltsamer Ort. Früher zur südlichen Peripherie zählend, hatte sich der Stadtteil zum neuen Zentrum gewandelt, als die Hamburger gekommen waren. Die Häfen lagen natürlich im Norden, doch das Leben spielte jetzt hier. Ines’ Entschluss, ihr Luxus-Apartment im alten Stadtkern der Calenberger Neustadt zu suchen, war mehr irgendwelcher Nostalgie geschuldet als einer soziologischen Exzentrik. Sie hatte zwar Sympathie für die Jungen, die mehr oder weniger provokante Namewear mit aufgedrucktem »Neu Hannover« trugen, doch Revisionismus gehörte nicht zu ihren primären Charakterzügen. Sie sah es dem Transport-Operator nach, da er immerhin bewies, dass es Junge gab, die so etwas wie verbliebenen Idealismus hatten, auch wenn es gewiss während der Arbeitszeit verboten war, politische Statements zu zeigen. Egal.

Die Wilhelmsburger Luft war trocken, weniger meeresschwanger. Den Geruch der Leinemarsch zuzuordnen, fand Ines albern, immerhin stand auch hier eigentlich nur noch Brackwasser. Es war warm für November, doch auch diese Beobachtung kümmerte sie nicht weiter, sondern wurde vom Unterbewusstsein der Kriminalistin lediglich registriert und für unwichtig befunden.

Ihr Ziel, die Leinebrücke, war innerhalb des letzten Jahrzehnts dreimal verbreitert worden, sodass drei stilistisch unterschiedliche Bögen über den Brückenpfeilern lagen. Es passte zu einer Zeit, in der die Menschheit sich mehr darum kümmerte, Schäden auszubessern, anstatt neue zu verhindern. Doch wer war sie, das zu bewerten? Sollten doch die Historiker des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts in weniger als einer Dekade die abgeschlossenen Irrwege des einundzwanzigsten betrachten, Ines würde auch dann genau dieselbe sein, die sie vor achteinhalb Jahren gewesen war. Und auch daran würde sich nichts ändern.

Als sie den Blick von den unter ihr dahinmäandrierenden Wassermassen lösen konnte, musterte sie das Patchwork-Bauwerk erneut. Sie dachte kurz an das neu entstehende Korallenriff am ehemaligen Uelzener Bahnhof, das die prächtige, kakophonische Ästhetik der Entwürfe Hundertwassers langsam aufnahm und in etwas anderes, Natürlicheres, noch Verquereres verwandelte. Diese Brücke teilte gerade einmal die inkonsistente Bauweise damit, doch war sie ansonsten tadellos und blank geputzt - bis auf eine Stelle. Die schwere, geschmacklose Steinsäule zwischen den Brückenbögen zwei und drei zeigte einen etwa eineinhalb Meter breiten Schaden, wie er bei einem Fahrzeugaufprall entstehen würde. Neugierig trat Ines näher heran. Während außen Spuren von abgeplatztem Lack am Stein hafteten, wurden innen winzige Abschürfungen sichtbar, die dem geübten Auge verrieten, dass es sich nicht um einen frontalen, sondern tangentialen Aufprall gehandelt hatte, wie wenn jemand nicht die Spur gehalten hätte. Seltsam. Ines konnte kaum glauben, dass das Opfer seinen Wagen selbst gesteuert haben könnte. Niemand heute tat so etwas noch, nicht einmal fortschrittsgegnerische Junge. Einerlei. Ines konnte zumindest erst einmal glauben, dass hier ein Unfall stattgefunden hatte. Was den Rest anbetraf, so gab es hier keine Hinweis zu finden, keine Bremsspuren, nichts. Sie würde den offiziellen Bericht bekommen müssen, bevor sie von Lorenz noch einmal befragen konnte.

Doch wie sollte sie es anstellen? Seit auch ihr ehemaliger Chef pensioniert war, kannte sie praktisch niemanden mehr in der Kriminalistik von Neu Hamburg. Ines überlegte.

Fregüzli. Sie hatte seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen, doch auch er hatte die größtmögliche Belohnung erhalten. Wenngleich er ein Alter war, konnte sie dem Pathologen mit dem eigenwilligen schwäbischen Charme vielleicht doch einen kleinen Gefallen abverlangen.

 

# # #

 

Sie kehrte nach Hause zurück und betrat gespannt den Holovisions-Raum. Der Haushaltsroboter hatte bereits alles hergerichtet und diesmal kam die Verbindung gleich zustande.

Leicht überrascht darüber, dass ihr Gegenüber viel jünger aussah als in ihrer Erinnerung, nahm sie einen Schluck Kaffee und ging im Kopf noch einmal ihren Schlachtplan durch.

»Frau Kommissar«, sagte Damian Fregüzli in seinem schwäbisch gefärbten Hochdeutsch.

»Ich hoffe, Ihnen geht es gut«, flötete Ines.

Fregüzli lachte. »Wie es uns Alten eben so geht, nicht wahr?« Sie hatten Jahre nicht gesprochen, doch seine Begrüßung war herzlich und warm. Ines war überrascht. Als Fregüzli und sie gemeinsam gearbeitet hatten, war er ein mürrischer Mediziner gewesen, der alles und jeden in seiner Abteilung als Störung aufgefasst hatte. Er war ein brillanter Pathologe gewesen, doch er zählte zu den Menschen, die Ines mental als ›schwierig‹ markiert hatte.

»Was kann ich für Sie tun, Frau Schultheiss?«

Es fühlte sich seltsam an, dass sie nach all den gemeinsamen Erlebnissen immer beim Sie geblieben waren. Nicht, dass Ines Distanz störte. Sie wunderte sich nur.

»Niemals würde es Ihnen in den Sinn kommen, dass ich aus Höflichkeit nach Ihnen schickte«, sagte sie und lächelte. Ines war nicht ganz sicher, wie es um seine Ironie stand, sodass sie den eigentlich netten Satz noch durch Gesten unterstützen musste.

»Ist es denn so?«

»Nein.«

Ines lachte.

Fregüzli versuchte sich an einem leidvollen Gesicht, doch er zog ebenfalls die Mundwinkel verräterisch nach oben. Er freute sich über etwas Abwechslung. So wie alle Alten. »Also?«, fragte er.

»Bei uns ist letzte Woche ein Alter verblichen«, sagte sie pflichtschuldig.

»Und?« Fregüzli gefiel sich darin, einsilbig zu antworten.

»Ich … interessiere mich für die Umstände«, sagte sie.

»Soso.«

»Nun ja. Es ist keine offizielle Ermittlung. Ein … Freund hat mich nur auf einige Ungereimtheiten hingewiesen.«

»Und da wollen Sie, ganz un-offiziell natürlich, eine Einschätzung zum Obduktionsbericht?«

Sie hätte den defensiven Ton Fregüzlis aufgreifen können. Doch die Belustigung, die in seiner Stimme mitschwang, gab ihr Sicherheit.

»Das wäre schön«, sagte sie und ließ die Augenlider zwei-, dreimal zufallen. »Ich habe den Bericht noch nicht, sondern wollte erst mal hören...«

»Das ist kein Problem«, sagte Fregüzli. »Ich komme sicher schnell da ran.«

Die blaustichige Ionendarstellung seines Holovisionszimmers flackerte, als er kommentarlos aufstand. Verdattert starrte Ines auf den leeren, projizierten Stuhl ihr gegenüber. Fregüzli war noch immer ein altes Raubein - auch, wenn er es jetzt in anderen Disziplinen ausleben musste. Amüsiert vernahm sie ein gewisses Klappern aus den Hintergrundlautsprechern. Ob er wusste, dass jede Kleinigkeit aufgefangen wurde? Kurz schien sie sogar einen Fluch zu hören.

Dann kehrte seine jugendliche Gestalt vor die Kamera zurück und hielt ein großes Arbeitspad in den Händen.

»Die größte Herausforderung«, gluckste er, »ist es manchmal, sich die Arbeit zurechtzulegen, nicht wahr?«

Ines sagte nichts. Die Ordnung in ihrem Verstand fand ihre Entsprechung in der rücksichtslosen, aller Ästhetik zuwiderlaufenden Ordnung in ihrer Umgebung. Es war ihre Natur. Doch auch Empathie gehörte zu ihrer Profession und so konnte sie, wenn schon nicht teilen, doch zumindest Fregüzlis Situation nachvollziehen.

»Mal sehen …«, brummte er derweil. »Mehrere Knochenbrüche, zerebrales Schleudertrauma. Innere Verletzungen. Klingt nach einem harten Aufprall.«

Ines wusste nicht, woher er den Bericht jetzt bezogen hatte, doch es tat ihrer Befriedigung keinen Abbruch. Dass es so leicht gewesen war, eine Auskunft zu bekommen, war phantastisch. Fregüzli hatte sichtliche Freude am Studium des Berichtes. So hatte ihr Anliegen sogar ihm eine kleine Freude gemacht.

»Gibt es irgendetwas, das Zweifel an einem Unfall gegen einen Brückenpfeiler zuließe?«, fragte sie.

»Da ist sie also, die Kriminalistin in Ihnen«, sagte Fregüzli, blickte kurz von dem Pad auf und lachte.

Ines versuchte, beschämt auszusehen, argwöhnte jedoch, dass es nur bedingt gelang. »Man tut, was man kann«, sagte sie halb entschuldigend.

»Oh, schon gut«, sagte Fregüzli gönnerhaft. »So wie sich der Bericht für mich darstellt, lautet die Diagnose ›Kollision mit etwas Hartem‹. Ob es sich dabei um einen Autounfall handelt, kann ich ohne Ansicht der Leiche nicht sagen, denn nur die Haltung zum Zeitpunkt des Todes gäbe Auskunft darüber.«

»Gut", entgegnete Ines. "Bekommen Sie.«

»Halt, Moment mal. Was haben Sie vor? Frau Schultheiss, den Bericht zu … kopieren, ist eine Sache. Sie denken doch wohl nicht darüber nach, der Neu Hamburger Pathologie einen Besuch abzustatten? Es dürfte nicht gerade …«

Sie schnitt ihm das Wort ab. »Keine weiteren Fragen.«

Fregüzli warf die Hände in die Luft. »Wie Sie wollen. Ich sage ja nur …«

»Es war mir eine Freude, mit Ihnen zu sprechen, Damian.«

Verdattert blickte das Hologramm des ehemaligen Pathologen Ines an. Sie drückte einen der kaum sichtbaren Knöpfe an der Sessellehne und beendete die Verbindung.