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Peter Bernhardt

Roter Romeo

Thriller





BookRix GmbH & Co. KG
81371 München

Titel und Einleitung

 

 

 

 

ROTER

ROMEO

 

 

STASI GIGOLOS UND

DIE SPIONJÄGERIN

VON DEUTSCHLAND

 

 

INSPIRIERT DURCH TATSÄCHLICH ZUGETRAGENE EREIGNISSE

 

 

 

PETER BERNHARDT

 

 

Copyright ©2016 Peter Bernhardt

 

Titel der englischen Originalausgabe:

 

Red Romeo

Stasi Gigolos and

the Spy Hunter of Germany

 

Inspired by Actual Events

 

Copyright ©2012 Peter Bernhardt

 

 

Alle Figuren, Organisationen und Vorgänge in diesem Roman sind entweder ein Produkt der lebhaften Fantasie des Autors oder fiktional verwendet.

 

Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk darf weder in Teilen noch im Ganzen ohne die vorherige schriftliche Zustimmung des Autors genutzt oder reproduziert werden, abgesehen von kurzen Auszügen, die in Besprechungen oder Literaturkritik zitiert werden.

 

 

https://sedonauthor.com

 

 

1. Auflage 2017

 

Übersetzung ins Deutsche vom Autor

 

Korrektorat: Kathrin Brückmann (lekto-ratio.de)

 

 

 

 

Für Agnes und Rolf

 

In liebevoller Erinnerung

 

 

 

Ich möchte mich herzlich bei den Mitgliedern der Sedona Writers Critique Group, des Internet Writing Workshops und meinen Betalesern für ihre konstruktive Kritik bedanken, die diesen Roman ungemein verbesserte.

 

Das Titelbild ist einer Fotografie der Berliner Mauer von Ian Kindred entnommen. Ich bedanke mich herzlich für seine großzügige Genehmigung.

 

Besonders dankbar bin ich für Marilyns scharfe Einsichten die mich zu höchsten Leistungen anspornten, für ihr wohlüberlegtes Feedback bei der Geburt jedes Kapitels und für ihre standhafte Unterstützung.

 

 

Glossar

 

Hauptfiguren

 

Sabine Maier, Agentin beim Bundesnachrichtendienst in Pullach.

Stefan Malik, Journalist/Schriftsteller in der DDR, als Stasi Romeo rekrutiert. Tarnung: Günter Freund, Journalist für Gemeinschaft Unbegrenzt, eine fiktive Wiener Friedensorganisation.

Werner Heinrich, Generalleutnant, Stasi Spionagechef, Leiter der Hauptverwaltung Aufklärung.

Monika Fuchs, Chefsekretärin vom Chef des Bundeskanzleramts.

Horst Kögler, Computerfachmann.

Helga Schröder, General Heinrichs Sekretärin.

Traude Malik, Stefans Tochter.

Bernd Dorfmann, Sabines Chef.

Gisela Sturm, Chefsekretärin vom Minister des Auswärtigen Amtes der Bundesrepublik Deutschland.

Hans Mertens, Agent beim Bundesamt für Verfassungsschutz in Köln.

 

Organisationen

 

STASI: Ministerium für Staatssicherheit.

HVA: Hauptverwaltung Aufklärung der Stasi.

BND: Bundesnachrichtendienst mit Sitz in Pullach, Bayern; dem Bundeskanzler unterstellt.

BfV: Bundesamt für Verfassungsschutz mit Sitz in Köln; dem Bundestag unterstellt.

ASBw: Amt für die Sicherheit der Bundeswehr, 1956-1984. Seit 1984: MAD: Militärischer Abschirmdienst mit Sitz in Köln.

BKA: Bundeskriminalamt mit Sitz in Wiesbaden, dem Innenministerium unterstellt.

RAF: Rote Armee Fraktion.

BRD: Bundesrepublik Deutschland.

DDR: Deutsche Demokratische Republik.

 

 

Definitionen

 

Maulwurf: ein Spion, der sich sich in eine feindliche Regierung oder Spionageorganisation einschleicht.

 

Doppelagent: jemand, der gegen eine Nation spioniert, während er vorgibt, für sie zu spionieren.

 

 

 

INSPIRIERT DURCH TATSÄCHLICH ZUGETRAGENE EREIGNISSE

 

Laut seiner Autobiographie perfektionierte Stasi-Spionagechef Markus Wolf den Einsatz von Sex in der Spionage, indem er ostdeutsche Männer schulte, einsame westdeutsche Frauen in höchster Sicherheitsstufe anzuwerben und zu verführen, um aus Liebe zu spionieren. Während Wolfs 34-jähriger Amtszeit als Spionagechef der DDR täuschten seine Stasi-Romeos Liebe vor und enlockten den Frauen die am besten gehüteten westdeutschen und NATO-Geheimnisse. Romanze, Sex und das Heiratsversprechen veranlassten an die 50 Frauen, Staatsgeheimnisse an ihre Liebhaber zu verraten.

 

Wie die Stasi-Romeos einen Geheimdienst-Coup nach dem anderen anbahnten, inspirierte mich, diese Geschichte mit fiktiven Hauptfiguren zu schreiben.

 

In den folgenden Büchern werden aktuelle Fälle augezeigt:

 

Stasi: The Untold Story of the East German Secret Police, von John O. Koehler, 182 ff.

 

Man Without a Face: The Autobiography of Communism’s Greatest Spymaster, by Markus Wolf, Kapitel 8: “Spying for Love.”

 

 

 

 

 

 

Kapitel 1: Die Wahl

 

 

Gefängnis Rummelsburg, Ostberlin, Freitagnachmittag, 15. Juli 1977

 

Der Gefängniswärter stieß Stefan Malik über die Schwelle und schlug die Zellentür zu. Als der riesige Schlüssel den Riegel im Schloss zuschnappen ließ, dachte Stefan: Das ist der Klang der Ewigkeit. Der Gestank der Toilette mit ihrem zersplitterten Sitz durchzog die feuchte Zelle, aber der Geruch nach Fäkalien war das geringste seiner Probleme. Drei Häftlinge musterten ihn misstrauisch. Zwei von ihnen lauerten hinter einem kräftigen Rothaarigen, dem offensichtlichen Herrscher im Raum.

Ein hässliches Grinsen verzerrte das fleischige Gesicht des korpulenten Mannes – kaum sichtbar in dem schwachen Licht, das durch ein kleines, vergittertes Fenster strömte. »Was ist los, Hübscher, noch nie Scheiße gerochen?«

Seine zwei Zellengenossen, die sich gegen eines der Etagenbetten lehnten, lachten meckernd – das gezwungene Lachen von Untertanen über den üblen Witz eines Vorgesetzten.

Der Rothaarige fragte: »Wie heißt du?«

»Stefan.«

»Na dann, Stefan. Wir sind deine neuen Freunde. Ich bin Emil.« Er drehte sich nach links: »Anton«, dann nach rechts: »Hans.«

Bei der Erwähnung ihrer Namen nickten beide kurz. Doch Stefan konzentrierte sich auf Emil, der auf das Geräusch der Stiefel des Wärters im Gang zu horchen schien.

Sobald der Ton verklungen war, wandte sich Emil an seine Zellengenossen. »Glaubt ihr nicht, dass unser Stefan hier einen schönen Arsch hat? Was sagt ihr, Jungs, sollen wir ihn näher kennenlernen?« Er warf Stefan einen lüsternen Blick zu. »Viel näher.«

Stefan wich zurück. Er hatte schon von schwulen Häftlingen in Rummelsburg gehört, die der Staat als Sozialschädlinge brandmarkte; jetzt war er gleich unter drei geraten. Schwul oder nicht, sie hatten Vergewaltigung im Sinn. Bevor er reagieren konnte, hatten ihn Hans und Anton umkreist. Einer verdrehte seinen rechten Arm gegen seinen Rücken, während der andere ihn auf die Knie drückte. Stefan kämpfte gegen die unerträglichen Schmerzen. Es fühlte sich an, als ob sein Arm aus dem Gelenk spränge.

»Ganz ruhig, Junge.« Emil ließ seine Anstaltshosen herunter. »Mach, was ich dir sage, und wir kommen zurecht.«

Stefan starrte auf die Beule in Emils grauer Unterhose. Die nächsten Sekunden würden sein Schicksal bestimmen. Er brach in kalten Schweiß aus. Vergewaltigt im Gefängnis? Falls er jetzt erlag, würde es kein Ende nehmen. Nach den Wärtern zu rufen, war sinnlos. Selbst wenn sie ihn hörten, würden sie sich wahrscheinlich keinen Dreck darum kümmern. Er war auf sich selbst angewiesen.

Stefan stemmte sich nicht mehr gegen den Griff der zwei Häftlinge. »Du willst einen Blowjob?« Er täuschte ein Lächeln vor. »Das hättest du gleich sagen können.«

Aber Emil ließ sich nicht so leicht überlisten. »Anton, bring ihn rüber. Hans, halt ihn fest.«

Stefan überwand sein Ekelgefühl über die gelben Flecken an Emils Unterhose. Er blickte weg und entspannte seine Muskeln. Der Trick funktionierte. Sobald sich die Griffe an seinem schlaff gewordenen Körper lockerten, riss er sich los. Er sprang auf und versetzte Emil einen harten Stoß in den Unterleib.

Der Schläger stolperte rückwärts und knurrte durch zusammengebissene Zähne: »Dafür wirst du mir büßen. Schnappt ihn, Jungs!«

Stefan kehrte sich gegen Emils Spießgesellen, aber zu spät, um einen kräftigen Tritt an sein rechtes Bein abzuwehren. Er stürzte und schrammte sich das Knie am Betonboden auf. Bevor er zur Seite rollen konnte, saß einer der Sträflinge rittlings auf ihm und hielt ihn nieder, während der andere sein Gesicht zu Boden drückte. Er konnte kaum atmen.

Emils zornige Stimme dröhnte in Stefans Ohren. »Großer Fehler, Bursche. Ich zeig dir, wer hier herrscht.«

Ein brutaler Ruck an seinen Haaren zwang Stefans Kopf zurück. Den Blick auf die bedrohlich näherrückenden Unterhosen fixiert kämpfte Stefan gegen seine Panik an. Er würde nicht aufgeben. Falls notwendig, würde er das Glied des brutalen Kerls abbeißen. Aber halt, warum wich Emil zurück?

Das schabende Geräusch, als der Riegel zurückgeschoben wurde, war die Antwort. Emil zog seine Hose hoch. Die Zellentür flog auf, und zwei Wärter stürmten herein.

Einer zog Stefan auf die Beine. »Du prügelst dich am ersten Tag?«

»Diese Perversen –«, versuchte er, sich zu verteidigen.

Der Wärter stieß ihn aus der Zelle. »Heb dir die Ausrede für den Direktor auf.« Er schob Stefan den Gang entlang, während der andere die Zelle abschloss.

Jede Erklärung wäre zwecklos; die ganze Sache stank. Die Wärter waren so schnell gekommen, als hätten sie die Schlägerei erwartet.

Vor einer Stunde erst war die Polizei in seine Wohnung gekommen. Nur etwas aufklären solle er, hatte es geheißen. Sicher doch! Er wusste von zu vielen, die ins Schleppnetz der Geheimpolizei geraten waren. Die Stasi war aus gutem Grund die gefürchtetste Institution, und etwas aufzuklären, war ein Euphemismus für harte Verhöre, Foltern, lange Gefängnisstrafen oder Schlimmeres. Würde bald auch sein Name auf der wachsenden Liste von vermissten Ostdeutschen stehen?

Während der Fahrt im Zivilfahrzeug durch Berlin war er im Geiste noch einmal seinen Artikel, den er Anfang der Woche eingereicht hatte, durchgegangen. Er hatte doch nichts geschrieben, das gegen offizielle Parteidoktrin verstieß. Aber man konnte nie wissen, wann der Wind im totalitären Staat umschlug. Vielleicht hatte er, ohne es zu ahnen, bei einem Parteioberen Anstoß erregt.

Der Wärter eskortierte ihn durch das Zellentor in einen Trakt, in dem vermutlich die Verwaltungsräume lagen. Stefan fragte sich, was für eine Form der Disziplinierung ihn erwartete. Der Gedanke, wieder mit den Vergewaltigern eingesperrt zu werden, war unerträglich. An einer Tür, deren Beschilderung auf das Büro des Gefängnisdirektors verwies, verlangsamte er seine Schritte, aber der Wärter stieß ihn weiter auf eine unmarkierte Tür zu und klopfte.

»Herein«, brüllte eine tiefe Stimme.

Der Wärter öffnete die Tür und schob Stefan hinein. Er stolperte über das schäbige Linoleum in das kleine Büro. Der abblätternde olivgrüne Anstrich an den kahlen Wänden verlieh dem Raum eine trübe Stimmung. Hinter einem großen Schreibtisch aus Teakholz-Imitat saß ein Mann in grauer Uniform, das schwarze Haar ordentlich gescheitelt. Dunkle Augen starrten Stefan durch eine Nickelbrille an.

Weg war des Wärters überlegene Art. Er sprach den Mann, der um die fünfzig war, demütig an: »Generalleutnant, Insasse Stefan Malik.«

Der Offizier befahl ihm: »Schließen Sie die Tür hinter sich und warten Sie im Gang.«

Als der Wärter den Raum verließ, deutete der General auf einen eckigen Metallstuhl, der sich als genauso unbequem erwies, wie er aussah. Aber wichtigere Sachen beschäftigten Stefans Gedanken. Das war kein gewöhnlicher Armeegeneral, sondern ein Stasioffizier. Was konnte er nur von ihm wollen? Was es auch sei, von einer Auseinandersetzung mit der Stasi kam nie etwas Gutes.

♫ ♫ ♫

Während der Gefangene sich setzte, musterte ihn Generalleutnant Werner Heinrich. Bis jetzt funktionierte sein Plan. Malik wirkte vorsichtig, doch nicht so unterwürfig wie der Gefängniswärter. Die Aufgabe, für die er ihn rekrutieren wollte, erforderte Courage. Er konnte niemand Zimperlichen oder Zaghaften gebrauchen. Maliks Blick zeugte von Intelligenz, und am wichtigsten: Er war so attraktiv, wie seine Akte es versprochen hatte. Seine ebenmäßigen Gesichtszüge unter dem vollen, schwarzen Haar waren offen, vertrauenerweckend, und welche Frau könnte schon einem so athletischen Körperbau widerstehen?

Anfangs Freundlichkeit, dann Druck, das würde auch hier funktionieren. »Ist es Ihnen recht, wenn ich Sie mit Stefan anrede?« Nach Maliks wortlosem Nicken fuhr Heinrich fort: »Ich bin Generalleutnant Heinrich. Sie dürfen mich mit General anreden.«

Keine Antwort.

Heinrich öffnete die dicke Akte vor sich auf dem Schreibtisch. »Falls Sie so klug sind, wie es hier steht, dann sind Sie schon darauf gekommen, dass ich ein Stasioffizier bin.«

Keine Reaktion.

»Aber Sie wissen nicht, warum Sie hier sind.«

Stefan verlagerte sein Gewicht im Stuhl.

»Nicht wegen Ihrer Schreiberei. Ihre Artikel sind unterhaltsam. Sie halten sich an die Parteilinie, sonst würde Neues Deutschland sie nicht veröffentlichen.«

Heinrich beobachtete Stefan. Würde er Anzeichen von Nervosität oder Angst erkennen lassen? Falls Stefan diese Gefühle hatte, versteckte er sie. Perfekt. Die Mentalität eines Pokerspielers wäre ideal.

Beinahe Zeit für die Rekrutierung, aber zuerst noch ein bisschen Lob. »Sie sind hier, weil wir Ihr Talent gut gebrauchen können.«

Stefan hob seine Augenbrauen, sagte aber nichts.

Heinrich tat, als ob er die Akte auf seinem Schreibtisch gründlich studierte. »Sie sind ein regelrechter Don Juan, nicht wahr?« Er schaute auf. Immer noch keine Reaktion. »Wir wissen von mindestens einem Dutzend Frauen die – um das taktvoll zu sagen – Ihrem Charme erlegen sind.«

»Sex haben ist nicht illegal, oder?« Stefans Bariton klang gemessen, aber standhaft.

Noch ein Pluspunkt.

»Illegal? Normalerweise nicht.« Heinrich machte eine Kunstpause. »Außer …« Er fixierte Stefan. »Erstens: Mehrere Frauen, die Sie verführt haben, sind verheiratet. Zweitens: Sie haben sich Geld von ihnen geben lassen, weil Ihre Schreiberei nicht für Ihren Lebensunterhalt ausreicht. Und drittens: Unser Staat duldet keine Schmarotzer, die nichts zur Gesellschaft beitragen.«

Ein ungläubiger Blick aus blauen Augen. »Deswegen haben Sie mich in eine Zelle mit Schwulen gesteckt?«

»Ich stelle hier die Fragen.« Heinrich neigte sich vor. Jetzt unter Druck setzen. »Ich dachte, wir könnten das alles durch eine freundliche Plauderei klären. Leider haben Sie Ihre Zellengenossen attackiert.«

»Aber die haben mich angegriffen!«

»Das behaupten Sie. Allerdings steht Ihre Aussage gegen die von zwei Wärtern und drei Häftlingen.« Nach einer Pause, um seine Botschaft eindringen zu lassen, fuhr Heinrich fort: »Nun gut, ich kann Ihnen einen Ausweg aus Ihrer misslichen Lage anbieten. Stellen Sie Ihren Charme in den Dienst unseres Staates.«

»Ein Spitzel für die Stasi?«

Heinrich ließ seine Zunge schnalzen. »Etwas, das wichtiger und schwieriger ist. Es ist eine gewaltige Herausforderung, bereitet aber, wenn man es richtig macht, größtes Vergnügen.« Er genoss Stefans verwirrte Miene. »Falls Ihre Verführungskünste so groß sind, wie es in dieser Akte steht, dann können Sie Weiber flachlegen und gleichzeitig Ihrem Land dienen. Es wird gut genug bezahlt, dass Sie Ihre Freundinnen nicht mehr um Geld anpumpen müssen.«

»Sie wollen mich als Stasi-Spion anwerben?«

»Wir nennen’s ›Ficken fürs Vaterland.‹ Das ist doch ein schönes Privileg, oder nicht? Sie sind als Verführer einzigartig qualifiziert, und die Spionagepraxis bringen wir Ihnen schon bei.«

»General, selbst mit Ihren, äh … Nebenleistungen habe ich keinerlei Interesse daran, für Sie zu spionieren.«

Heinrich sprang von seinem Stuhl auf, lief um den Schreibtisch herum und sah auf den sitzenden Gefangenen hinab. »Dann will ich mal Klartext reden, Stefan. Entweder Sie dienen Ihrem Land, oder Sie verrotten in diesem Gefängnis. Was da auf sie zukäme, haben Sie doch gerade zu fühlen bekommen. Eine leichte Wahl, meinen Sie nicht auch?«

Stefan rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Wollte er bestreiten, seine Zellengenossen angegriffen zu haben? Nein, er hielt den Mund. War offensichtlich klug genug, um zu erkennen, dass aller Protest vergeblich wäre; das Gericht würde das von der Stasi vorgeschriebene Urteil fällen. Heinrich kehrte zu seinem Stuhl zurück, behielt aber den Häftling im Auge.

Schließlich erwiderte Stefan seinen Blick. »Was muss ich tun?«

»Ich dachte mir, dass Sie die richtige Entscheidung treffen würden«, sagte Heinrich, als hätte sein Gegenüber jemals eine wirkliche Wahl gehabt.

Er stand auf, schritt um den Schreibtisch herum und schüttelte Stefans Hand. »Willkommen. Melden Sie sich Montagmorgen um neun bei mir in der Stasi-Zentrale. Und kein Wort davon an irgendjemand. Ist das klar?«

»Jawohl, Herr General.«

»Draußen wartet ein Wagen auf Sie.«

Heinrich begleitete Stefan in den Gang hinaus und beauftragte den Wärter, ihn zu entlassen. Obwohl die beiden schon längst um eine Ecke verschwunden waren, ging ihm das Bild seines neuesten Rekruten nicht aus dem Kopf. Stefan Malik war wirklich gut aussehend, vielleicht einer der attraktivsten unter seinem Kommando. Er würde zweifellos ein verführerischer Romeo werden.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 2: Der Auftrag

 

 

Bundesnachrichtendienst [BND], Pullach, Bayern, Freitagnachmittag, 15. Juli 1977

 

Sabine Maier fuhr ihren VW am blau beschrifteten Schild des Bundesnachrichtendienstes vorbei, das vor einer massiven Mauer stand, in die ein überdimensionaler Bundesadler eingraviert war. Sabine winkte dem jungen Pförtner am offenen Tor zu. Mit einer fragenden Geste erinnerte er sie an seine mehrmaligen Einladungen zu einem Drink nach Feierabend.

Einen Augenblick dachte sie daran, ihn zu ermutigen. In wenigen Jahren wäre sie vierzig. Wie lange würden Männer sie noch attraktiv finden? Aber sie wollte ihre Unabhängigkeit nicht für ein lockeres Verhältnis aufgeben, also schüttelte sie den Kopf und lächelte ihm freundlich zu. Der Pförtner schnitt eine Grimasse und winkte sie durch.

Sie stellte den Wagen auf dem für sie reservierten Parkplatz ab. Aus den dunklen Wolken fielen erste schwere Regentropfen. Schnell schloss sie das Verdeck. Den ganzen Tag über war es schwül gewesen, und jetzt kam ein Wolkenbruch. Sie konnte sich nicht entscheiden, ob sie die kühleren Temperaturen begrüßen oder ihr vor einem trüben, regnerischen Wochenende grauen sollte. Wie war sie auch auf die Idee gekommen, ein Käfer-Cabrio zu kaufen? Deutscher Sommer – ein Widerspruch in sich.

Nachdem sie den Wagen abgeschlossen hatte, hielt sie sich die Handtasche zum Schutz vor dem immer stärker prasselnden Regen über den Kopf und eilte zu dem Gebäude am Ende des Hofs. Nach der Eingangskontrolle ging sie am Fahrstuhl vorbei und nahm zwei Treppenstufen auf einmal bis hinauf zum zweiten Stock. So war sie etwas außer Atem, als sie den Gang entlangschritt, vorbei an den offen stehenden Zimmern der Sekretärinnen. Vor ihrem Büro verharrte sie. Durch die offene Tür erblickte sie ihren Chef, der auf dem Besucherstuhl saß.

Dorfmann, wie immer im blauen Anzug, weißen Hemd und gestreifter Krawatte, wandte sich ihr zu. »Vom Wolkenbruch erwischt?« Er war um die fünfzig, und das sah man ihm auch an. Er war schon früh ergraut.

Verlegen betupfte Sabine ihre feuchten, kastanienbraunen Locken, rückte ihre rote Bluse zurecht, die an ihrem Körper klebte, und glättete ihren schwarzen Rock. Doch ihre Versuche, sich präsentabel zu machen, erwiesen sich als zwecklos. Sie stellte ihre Handtasche auf den Schreibtisch und ließ sich in den Lederstuhl fallen. »Tut mir leid –«

Mit einer Handbewegung brach Bernd Dorfmann ihre Entschuldigung ab. »Noch ein regnerisches Wochenende. Ideal zum Arbeiten, meinen Sie nicht auch?«

Sie musterte seine Miene. Er scherzte öfter, aber diesmal nicht.

»Sie haben doch nichts vor, das sich nicht aufschieben ließe?«

Sie beantwortete die rhetorische Frage mit einem Kopfschütteln, sagte aber nicht, dass sie ihrer Mutter einen Opernbesuch für Samstagabend versprochen hatte. Auf keinen Fall würde sie Don Giovanni verpassen, ausverkauft wie die meisten Aufführungen der Münchner Opernfestspiele. Sie hatte nicht stundenlang Schlange gestanden, um das Ereignis jetzt zu versäumen. Ihre Opernabende waren ihr geradezu heilig. Sie würde die Arbeit vorher erledigen, selbst wenn sie die nächste Nacht durchmachen müsste.

»Gut.« Dorfmann neigte sich vor. »Ich trage Ihnen etwas Neues auf.«

»So?«

Ihre mangelnde Begeisterung musste ihr anzusehen sein. »Ich bin mir bewusst, dass Sie überarbeitet sind. Das haben Sie Ihren großartigen Leistungen zu verdanken.«

»Nur den Maulwurf zu entlarven, ist mir noch nicht gelungen.«

»Machen Sie sich keine Vorwürfe, Frau Maier. Wenn es einen Maulwurf in einem unserer Geheimdienste gibt, werden Sie ihn ausfindig machen.«

Falls ihr Chef ihre Kompetenz bezweifelte, würde er es ihr sagen. Trotzdem konnte sie es sich nicht verkneifen, in seiner Miene nach Zeichen von Unaufrichtigkeit zu suchen.

Er sprach weiter: »Wir müssen unsere Methode ändern.«

Überrascht richtete sie sich auf.

»Was wissen Sie über Rasterfahndung?«, fragte er.

»Nicht viel. Da entwirft man am Computer Profile von eventuellen Terroristen. Eine Art von Schleppnetzfahndung.«

»Genau. Es ist mühsame Kleinarbeit, durch die der Bundeskriminalpolizei aber schon einige Mitglieder der Roten Armee Fraktion ins Netz gegangen sind.«

»Sie beauftragen mich doch nicht etwa, RAF-Terroristen zur Strecke zu bringen?«

Er winkte ab. »Nicht doch! In fünf Jahren haben Sie mehr Spione erwischt als sonst jemand. Sie machen den BND stolz. Aber trotz all Ihrer Festnahmen werden wir immer noch von Stasi-Agenten überlaufen. Der Kanzler setzt uns unter Druck, diese Flut mittels Rasterfahndung zu stoppen.«

Sie zögerte, ihm ihre aufkommenden Bedenken mitzuteilen, aber er hatte sie immer ermutigt, offen ihre Meinung zu sagen. Daher erwiderte sie nun frei heraus: »Ist das denn legal?«

Datenmengen, in Computer eingegeben, aus denen dann Profile erstellt wurden – widersprach das nicht dem Datenschutz?

Er winkte abermals ab. »Egal. Solange das Verfassungsgericht in Karlsruhe es nicht verbietet, werden wir auf dieses Mittel nicht verzichten.«

Sie sah ihn verdutzt an. »Was hat das mit dem Enttarnen von Spionen zu tun?«

»Berechtigte Frage. Sie müssen Ihren Blickwinkel ändern. Wir dachten, dass nach der Verhaftung von Guillaume keine Stasi-Spione mehr in unsere Ministerien eindringen könnten. Da haben wir uns geirrt!«

»Günter Guillaume«, sagte Sabine mit gedämpfter Stimme. Als vor drei Jahren die rechte Hand des Kanzlers als Stasi-Spion aufgeflogen war, hatte das den Niedergang von Willy Brandt herbeigeführt.

»Aber jetzt ist klar, dass die Stasi noch immer Zugang zu Dokumenten höchster Geheimhaltungsstufe besitzt, fast so, als ob sie im Osten die Korrespondenz unserer Minister läsen und an unseren Kabinettsitzungen teilnähmen.« Dorfmann ballte die Faust. »Sie müssen dem ein Ende machen.«

»Und Sie denken, Rasterfahndung kann das fertigbringen?«

»Ehrlich gesagt, habe ich so meine Zweifel, aber ich habe Anweisung festzustellen, ob es möglich wäre.«

»Sie meinen, ich soll mein Wochenende opfern, um etwas zu eruieren, von dem wir beide wissen, dass es nichts bringen wird?«

Dorfmann hob seine Hand. »Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse. Sie wissen das genauso wenig wie ich.«

»Sie sind sich hoffentlich darüber im Klaren, dass ich von Rasterfahndung keine Ahnung habe.«

Er tippte auf eine dicke Akte auf dem Schreibtisch. »Es geht doch nichts über ein regnerisches Wochenende, um das zu beheben.« Seine strenge Miene wurde ein wenig milder. »In einer Woche sind Sie Expertin.«

Sie suchte sein Gesicht vergeblich nach einem Lächeln ab und seufzte. »Sie meinen es ernst? Also gut, sagen Sie mir, wonach ich suchen soll. Stasi-Agenten allgemein oder etwas Spezielleres?«

Er zuckte mit den Achseln. »Schön wär’s, wenn wir einen besseren Anhaltspunkt hätten.«

»Wer, vermuten Sie, ist infiltriert worden?«

Dorfmann lehnte sich zurück und musterte sie, als erwöge er, was er preisgeben durfte. Nach einer langen Pause sagte er: »Wir können niemanden ausschließen. Aber die Art von Geheimnissen, die im Osten landen, deuten auf das Außenministerium, das Kanzleramt und die Geheimdienste, selbst unser BND.«

»Ein großer Auftrag für eine einzige Person.« Mehr konnte sie nicht sagen.

»Denken Sie an die Belohnung. Sie würden damit das Stasi-Netz weitgehend zerstören, und ich werde dafür sorgen, dass Sie eine stattliche Gehaltserhöhung bekommen.« Jetzt lächelte er. »Höchste Zeit, dass Sie den Käfer gegen ein größeres Auto eintauschen, sodass Sie sich beim Einsteigen nicht mehr in eine Brezel verdrehen müssen.«

»Ein silberner Mercedes oder ein roter BMW wäre schön.« Sie lachte. »Diese Aussicht spornt mich zur Wochenendarbeit an.«

»So ist’s recht.« Er wurde ernst. »Studieren Sie die Akte und bringen Sie sich auf den neuesten Stand, was Rasterfahndung angeht. Beweisen Sie, dass wir beide falsch liegen. Sollten Sie aber zu dem Schluss kommen, dass sich auf diese Weise keine Spione enttarnen lassen, geben Sie mir triftige Gründe, warum nicht. Dann müssen Sie sich allerdings etwas ausdenken, das funktioniert. Der Kanzler hört das Wort ›Nein‹ nicht gern.«

Dorfmann stand auf. »Gleich als Erstes Montag früh will ich etwas Geniales von Ihnen hören, wie wir diese Stasi-Geheimagenten außer Gefecht setzen können.« Er schritt zur Tür und trat in den Gang.

Sabine drehte die mindestens fünf Zentimeter dicke Akte herum. Wenn sie trotz Opernbesuch am Montagmorgen Bericht erstatten wollte, durfte sie keine Zeit verlieren.

 

 

 

 

 

 

Kapitel 3: Die Scheidung

 

 

Bonn, Freitagabend, 15. Juli 1977

 

Mit einem Schwung, den sie seit Monaten nicht gefühlt hatte, stieg Monika Fuchs die Rolltreppe der Stadtbahnstation hinauf. Sie hielt ihren Schirm fest – Schutz gegen den Regen, der den ganzen Nachmittag auf Bonn heruntergeprasselt war. Manche Frauen mochten Regen angemessen für den Tag der Ehescheidung finden, sie aber nicht.

Ein linder, sonniger Abend grüßte sie beim Verlassen der Station. Der Regen hatte aufgehört, als hätte sich das Wetter entschieden, ihrer guten Laune am Tag ihrer zurückgewonnenen Freiheit zu entsprechen. Sie bändigte ihren Impuls, den Gehweg entlangzuhüpfen; stattdessen sprang sie über vereinzelte Pfützen. Nach ein paar hundert Metern stand sie vor dem Café Diplomat. Ein blöder Name für ein Restaurant, der eigentlich nur nach Bonn passte. Seine internationale Küche trug dem Geschmack der ausländischen Diplomaten, welche die westdeutsche Hauptstadt bevölkerten, Rechnung.

Monika schalt sich fast selbst, weil sie das Wort Hauptstadt nicht mit ›vorübergehend‹ oder ›vorläufig‹ garniert hatte. Alle Politiker, die wiedergewählt werden wollten, mussten dies bei jeder Gelegenheit tun. Weder Monikas Kollegen noch die höheren Tiere im Bundeskanzleramt glaubten daran, dass es jemals ein wiedervereintes Deutschland gäbe. Bonn, nicht Berlin, würde auf lange Zeit Regierungssitz bleiben. Vielleicht für immer.

Aber warum an Politik denken an diesem Tag ihrer Wiedergeburt? Heute sollte nichts ihre Stimmung trüben. Sie stieß die Tür so heftig auf, dass sie fast einen älteren Herrn über den Haufen gerannt hätte. Er verschwand, bevor sie sich entschuldigen konnte.

Die Dame am Empfang, die sie beobachtet hatte, ließ sich nichts anmerken, sondern fragte Monika, ob sie reserviert hätte.

Sie nannte den Namen Sturm.

»Frau Sturm ist bereits hier.«

Monika folgte den roten Pfennigabsätzen und dem schwingenden Hintern im blaugrünen Minirock. Die langbeinige Servicekraft deutete auf einen Ecktisch, und da stand Gisela auch bereits auf. Eine rotbraune Pagenfrisur umrahmte ihr rundes Gesicht. Sie umarmten sich.

»Gratuliere!« Gisela küsste sie auf die Wange. »Jetzt bist du den Rohling endlich los.«

Sie setzten sich, und Monika deutete auf ein halb volles Glas Rotwein. »Bin ich spät dran?«

»Nein. Ich hab früher Feierabend gemacht.«

»Wie hast du das geschafft? Du sagst doch immer, das Außenministerium sei ein Ausbeuterbetrieb.«

»Normalerweise schon, aber der Minister ist schon am Spätnachmittag gegangen, und ich bin gleich danach verduftet. So, wie der mich auf Trab hält, wenn er da ist, dachte ich mir, dass ich das Blaumachen verdient habe.«

»Gute Rechtfertigung.« Monika warf einen Blick auf das Weinglas. »Was trinkst du?«

»Beaujolais. Den trinkst du doch am liebsten.« Sie winkte den Kellner herbei. »Das Gleiche für meine Freundin und noch ein Glas für mich, bitte.«

Nachdem der Kellner sich entfernt hatte, fragte Gisela: »Sag, wie ist es gelaufen? Hat Jochen Schwierigkeiten gemacht?«

»Das hatte ich erwartet nach dem wochenlangen Gefeilsche von ihm und seinem Anwalt. Doch er war überraschend anständig.«

»Hat sich der Scheißkerl tatsächlich mal benommen?«

»Kaum zu glauben, ich weiß. Das Ganze war ziemlich ereignislos, wenn du mich fragst. Der Richter stellte ein paar routinemäßige Fragen und unterzeichnete das Scheidungsurteil. Ich fühle mich befreit. Grund zum Feiern.«

Wie gerufen brachte der Kellner ihre Getränke, und sie stießen an. Monika nippte mit wahrer Wollust an dem süffigen französischen Wein, entspannte sich und griff zur Speisekarte.

Nachdem der aufmerksame Kellner ihre Bestellungen aufgenommen hatte, erhob Gisela ihr Glas. »Auf dich und die romantischen Abenteuer, die dich erwarten.«

Während des Trinkspruchs musterte Monika ihre Freundin. Fachmännisch aufgetragenes Make-up, das die Falten ihrer vierzigjährigen Haut verbarg, Bluse und Rock, die ihre üppige Figur betonten, doch die extra Pfunde vorteilhaft verdeckten – kurzum, Gisela war keine Schönheit, aber recht attraktiv.

Monika setzte ihr Glas auf den Tisch. »Romantische Abenteuer? Wenn du mit mir tauschen willst – deinen Mann nähme ich jederzeit.«

Gisela lachte. »Auf keinen Fall. Lass gefälligst deine Finger von ihm!«

Monika hob beschwichtigend die Hände. »Kennst mich doch! Dein Klaus ist aber ein toller Fang. Wer weiß, wenn Jochen und ich ein Kind gehabt hätten so wie ihr …«

Gisela runzelte die Stirn. »Rainer ist fast im Teenageralter, und das merkt man. Mir graust jetzt schon vor den kommenden Jahren.« Ihr Gesicht hellte sich auf. »Reden wir besser von dir. Gibt es denn keine annehmbaren Junggesellen im Kanzleramt?«

Monika spottete: »Ich hab die Wahl zwischen muffeligen Ehemännern – meist glatzköpfig und mit Bierbauch – und übertrieben ehrgeizigen Aufsteigern, die in die Politik verliebt sind. Wenn die sich eine Frau nehmen, dann nur für eine Nacht.«

»Ja, das ist im Außenministerium genauso. Das soll aber nicht heißen, dass ich auf der Suche wäre.« Gisela langte über den Tisch und drückte Monikas Hand. »Du bist jung und hübsch. Bei deiner Figur werden die Verehrer bald Schlange stehen. Triff aber beim nächsten Mal eine bessere Wahl.«

»Darauf kannst du dich verlassen.« Monika erwiderte den Händedruck, ließ aber los, als der Kellner das Essen und mehr Wein servierte.

Nachdem sie etwas von ihrem Nudelgericht gegessen hatte, wischte Gisela sich den Mund mit ihrer Serviette. »Sag bloß nicht, dass du gleich in den Alltagstrott zurückkehrst. Etwas Spaß täte dir gut.«

Monika nahm einen Bissen Lachs, spülte ihn mit einem Schluck Beaujolais hinunter und lächelte geheimnisvoll. »Ich habe schon etwas vor.«

»Ich hab’s doch gewusst.« Gisela zielte scherzhaft mit der Gabel auf sie. »Sprich!«

»Ich mache vierzehn Tage Urlaub. Morgen reise ich ab.«

»Und … wohin?«

»Viareggio, an der italienischen Riviera. Es ist in der Nähe von Lucca und Florenz. Lange kann ich das am Strand Liegen nicht aushalten, ohne mich zu langweilen.«

»Klingt großartig. Schön wär’s, wenn ich dich begleiten könnte. Pass bloß auf, dass dich die feurigen Gigolos nicht kneifen. Sie schwärmen für Blondinen.«

Monika zwinkerte. »Vielleicht lasse ich den Bikini zu Hause.«

»Untersteh dich! Aber eine Urlaubsromanze wäre genau das Richtige für dich.«

Monika schüttelte den Kopf, plötzlich ernüchtert. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich dazu bereit bin.«

»Was hast du denn? Du siehst enttäuscht aus.«

»Du kennst mich zu gut. Ich wollte ïï in der Arena di Verona sehen. Das ist meine Lieblingsoper, und die Freiluftinszenierung auf der riesengroßen Bühne soll spektakulär sein. Aber sie ist ausverkauft.«

Gisela drückte ihr nochmals die Hand. »Tut mir leid. Vielleicht gibt jemand seine Karten zurück.«

Monika seufzte. »Wenn nicht, dann gehe ich zu den Puccini-Sommerfestspielen in Torre del Lago.«

»Und dein Hotel?«, fragte Gisela. »Komm, muss ich dir alles aus der Nase ziehen?«

»Warum willst du das wissen? Schickst du mir einen gut aussehenden Junggesellen?«

Gisela zögerte. »Na klar.« Sie lachte.

Da lag etwas in diesem Lachen, mit dem sie so gezögert hatte, das Monika zu denken gab. Doch Gisela war ihre Freundin. Warum sollte sie ihr etwas verschweigen? »Pensione Garibaldi.«

Gisela nickte. »Ich kann’s kaum erwarten, von deinen Abenteuern zu hören, wenn du zurückkommst.«

Sie plauderten noch ein Weilchen über dies und das und beendeten ihr Essen.

Auf der Treppe hinunter zur Stadtbahnstation fragte sich Monika abermals, warum Gisela sich so für ihre Italienreise interessiert hatte. Vielleicht wollte sie damit ihre Unterstützung zeigen. Aber sie war noch niemals so neugierig gewesen.

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel 4: Die Ausbildung

 

 

Stasi-Zentrale, Berlin-Lichtenberg, Montagmorgen, 18. Juli 1977

 

Stefan trat aus der U-Bahn-Station, blinzelte in die Morgensonne und brauchte einen Augenblick, um sich zurechtzufinden. Er wusste, dass die Stasi-Zentrale in der Normannenstraße lag, war aber nie in der Nähe der gefürchteten Gebäude gewesen. Jetzt hatte er keine Wahl. Wenn man erst einmal ins Visier der Stasi geraten war, gab es keinen Ausweg.

Ein Mann in den Dreißigern eilte den Gehweg entlang. Die graue Uniform, die Tasche aus Kunstleder, sichtlich Staatseigentum, und seine energischen Schritte bedeuteten, dass er auf dem Weg zur Stasi-Zentrale war. Stefan folgte ihm zu einem massiven Gebäudekomplex. Dort atmete er tief durch, um die Müdigkeit zu vertreiben.

Er hatte sich während des schlaflosen Wochenendes den Kopf zerbrochen, wie er die Aufmerksamkeit des Generals auf sich gezogen haben könnte. Außer seinen Artikeln, die in der offiziellen Zeitung der SED veröffentlicht wurden, gab es kaum einen Anlass. Das musste es sein. Doch dann war er aus dem Halbschlaf erschreckt in die Höhe gefahren. Hatte ihn eine seiner Liebhaberinnen bei der Stasi verpfiffen? Keine von ihnen hatte er schlecht behandelt, und alle waren nur allzu gern bereit gewesen, einem armen Schriftsteller finanziell unter die Arme zu greifen. Oder nicht? Diese Gedanken und die ständige Angst vor einer Rückkehr ins Gefängnis hatten ihn verfolgt.

Der Mann vor ihm verschwand in einem überdachten Eingang, der aus dem achtstöckigen Plattenbau herausragte. Stefan folgte ihm in das trostlose Gebäude. Als der Mann zwei bewaffneten Wachposten seinen Ausweis zeigte, winkten sie ihn anstandslos durch. Dann schritt der kleinere der Wachposten auf Stefan zu. »Können wir Ihnen helfen?«

»Ich soll mich bei Generalleutnant Heinrich melden.«

»Name?«

»Stefan Malik.«

Der Wachposten hob die Hand. »Augenblick.« Er machte kehrt und betrat ein Büro hinter dem Tisch.

Stefan hörte das Drehen einer Telefonwählscheibe und dann eine gedämpfte Stimme. Innerhalb einer Minute erschien der Mann wieder. »Bitte Arme hoch!«

Stefan gehorchte.

Nachdem er ihn gründlich abgetastet hatte, sagte der Wärter: »Warten Sie hier, bis Sie zur HVA in Gebäude 15 geführt werden.«

»Was ist HVA?«

Der Mann schaute ihn an, offensichtlich erstaunt, wie jemand das nicht wissen konnte. Ob er Stefan sympathisch fand oder sich beim Herumstehen langweilte, aus welchen Gründen auch immer, er gab eine Erklärung. »Hauptverwaltung Aufklärung.« Dann nahm er seinen Sitz hinter dem Tisch wieder ein.

Also war Heinrich Generalleutnant im Auslandsnachrichtendienst der Stasi. Das hätte er sich denken können.

Eine halblaute Stimme unterbrach Stefans Gedanken. »Herr Malik?«

Er wandte sich dem Mann im Rentenalter zu. »Jawohl.«

»Kommen Sie mit.«

Der Wachposten hinkte vor Stefan durch ein Gängelabyrinth, wobei die Pistole in seinem Halfter bei jedem Schritt mitschwang. Das langsame Tempo stellte Stefans Geduld auf die Probe. Beim Blick auf eine Wanduhr, die ein paar Sekunden vor neun anzeigte, wurde er nervös und wäre dem Alten, der beim Treppensteigen das kranke Bein nachzog, am liebsten vorausgerannt. Der General würde ihn für seine Verspätung zum ersten Termin schön anscheißen. Das Geräusch einer ratternden Schreibmaschine trieb ihn zur Eile an. Sobald der Alte die letzte Treppenstufe bewältigt hatte, verstummte die Maschine. Stefan folgte ihm über den Fliesenboden eines Foyers.

Eine Frau in ihren Dreißigern, die an einem kleinen Schreibtisch saß, sah ihm neugierig entgegen. »Herr Malik?«

Stefan nickte, während er sie abschätzte – üppiger Busen, kurz geschnittenes, braunes Haar, hohe Wangenknochen. Während der Wachposten sich zurückzog, sprach sie Stefans Nachnahmen mit gedämpfter Stimme in ein gelbes Tischtelefon. Dann stand sie auf und deutete auf eine Tür, die er bislang nicht bemerkt hatte, da ihr Ockerfarbton sich kaum von der tristen Wandfarbe abhob. Ein Schild auf Augenhöhe verkündete Namen und Titel des Generals in Blockschrift. Sie klopfte, und als eine tiefe Stimme antwortete, öffnete sie die Tür. Stefan betrat mit zögernden Schritten das Linoleum, wobei er Heinrich, der hinter einem großen Schreibtisch saß, im Auge behielt. Als das Türschloss einrastete, schaute der General auf und deutete auf einen kleinen Tisch mit vier Stühlen am Fenster. Stefan setzte sich unter die Porträts von Staats- und Parteichef Erich Honecker und Stasi-Chef Erich Mielke.

Während der General sich mit Papieren beschäftigte, bemerkte Stefan, dass keine gerahmten Bilder auf dem Schreibtisch standen. Entweder war Heinrich nicht verheiratet, oder er zog es vor, sein persönliches Leben nicht zur Schau zu stellen. Stefan schaute sich in dem Büro kurz um. Obwohl es größer und besser möbliert war als das im Gefängnis, entsprach es nicht dem Bild, das er sich von dem eines Stasi-Generalleutnants gemacht hatte. Die Wandtäfelung aus hellem Holzimitat passte so gar nicht zu dem dunkelbraunen Schreibtisch und olivfarbenen Linoleum. Das eingerahmte Stasi-Emblem, eine Hand am Gewehr mit aufgepflanztem Bajonett, umrandet von den Worten Ministerium für Staatssicherheit, hing hinter Heinrich an der Wand. Groß genug, um ein Safe zu verbergen? Stefan hörte auf zu spekulieren, als Heinrich mit einer Akte zu ihm an den Tisch kam.

Der General setzte sich auf den Stuhl Stefan gegenüber und legte die Akte auf die Glastischplatte. Er starrte Stefan an. »Ich sagte neun Uhr.«

Stefan blickte auf die Uhr über der Tür. Fünf nach neun. »Ich wusste nicht, in welchem Gebäude –«

»Ich habe Sie nicht gefragt, warum Sie spät dran sind, Genosse.« Heinrich schlug mit der Faust auf die Akte. »Ich akzeptiere keine Ausreden. Sie werden immer pünktlich sein. Ist das klar?«

»Jawohl.« Stefan verkniff sich das Verlangen, darauf hinzuweisen, dass er sich schon mehrere Minuten im Büro befand.

»Erste Lektion – missachten Sie Anweisungen oder Prozeduren, und Sie werden enttarnt. Vergessen Sie das niemals.«

Stefan nickte.

»Haben Sie irgendjemandem gesagt, dass Sie hierhergekommen sind?«

Die Frage überraschte Stefan, sodass er zögerte. »Nein, ich … das habe ich nicht.«

»Das klingt so, als ob Sie darüber nachdenken mussten. Sind Sie sich dessen sicher?«

»Jawohl.« Stefan hielt des Generals Blick stand.

»Niemand außerhalb der Agentur darf wissen, wo Sie arbeiten. Kapiert?«

»Jawohl.«

Heinrich zog ein Blatt Papier aus der Akte, schob es über den Tisch und reichte ihm einen Stift aus seiner Jackentasche. »Unser Standardvertrag beschreibt das ausführlich.«

Stefan war dabei, den ersten Paragrafen zu überfliegen, als der General ihn anherrschte: »Umdrehen und unterschreiben. Sie können Ihre Kopie später lesen.«

Dieses Mal heuchelte der General nicht vor, dass Stefan eine Wahl hätte. Also gehorchte er und reichte das unterzeichnete Dokument zurück. Weiß Gott, was er alles zugestimmt hatte.

»In den nächsten Wochen werden Sie die Spionagepraxis von den Besten unserer Branche lernen.« Des Generals Gesicht strahlte vor Stolz.

»Unterrichten Sie –?«

»Nein. Die Schule ist in Golm, westlich von Potsdam, etwa vierzig Kilometer.«

»Aber –«

»Ich weiß, dass Sie kein Auto besitzen. Ein Fahrer holt Sie um eins in Ihrer Wohnung ab. Packen Sie für einen mehrwöchigen Aufenthalt. Es ist alles arrangiert. Noch Fragen?«

Stefan schüttelte den Kopf.

»Sie werden dort mit den notwendigen Spionagewerkzeugen vertraut gemacht. Aber das ist nur der Anfang. Ich werde Sie danach zum Stasi-Romeo ausbilden.«

Heinrich blätterte durch die Akte. »Da steht es.« Er deutete mit dem Zeigefinger auf eine Stelle. »Methoden, wie Sie westdeutschen Sekretärinnen näherkommen, wie man sie umwirbt, wie man eine Beziehung herstellt, wie man ihr Vertrauen gewinnt, wie man ihnen den Kopf verdreht, wie man sie dazu überredet, Staatsgeheimnisse zu verraten.«

Stefan musste gegen widerstreitende Gefühle ankämpfen. Er genoss eine Romanze und Sex, solange die Frau attraktiv war. Sicher hatte er sich von manch einer Geld gepumpt, aber nie Liebe vorgetäuscht, um sie zu manipulieren. Der General wollte ihn für etwas Grundverschiedenes aufbauen. Würde er es fertigbringen, eine plumpe Frau zu umwerben, mit ihr zu schlafen, ihr Liebe vorzuspielen, nur damit sie Dienstgeheimnisse verriet und am Ende als Informantin im Netz der Stasi zappelte?

Heinrich fuhr in seinen Anweisungen fort. »Heute Morgen behandle ich nur ein paar Themen. Nehmen Sie diese Akte daher mit. Ich rechne damit, dass Sie nach Ihrer Rückkehr von Golm bis ins kleinste Detail informiert sind.«

»Jawohl.«

Heinrich musterte ihn eine geraume Weile, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder auf die mit seinem Daumen markierte Seite richtete. »Wir interessieren uns hauptsächlich für Sekretärinnen, die im Kanzleramt, in Ministerien und anderen westdeutschen Institutionen beschäftigt sind. Sie wissen oft mehr, als man denkt, und viele sind für Geheimsachen verantwortlich. Abgeordnete und Minister kommen und gehen, Sekretärinnen bleiben. Deshalb sind sie eine langfristige Investition wert.« Heinrich schaute auf. »Können Sie mir bis jetzt folgen?«

»Jawohl.«

»Wir richten unser Augenmerk auf ledige oder geschiedene Frauen, was nicht allzu schwer ist. Ob Sie es glauben oder nicht, etwa dreißig Prozent der Sekretärinnen in Bonn, die bei der Regierung oder Parteien beschäftigt sind, fallen in diese Kategorie.« Heinrichs Stimme hatte einen triumphierenden Klang.

Die Selbstgefälligkeit dieses Mannes ging Stefan auf die Nerven, dennoch brachte er es fertig herauszuplatzen: »Hervorragend, Herr General.«

»Ideales Jagdrevier für Sie, würde ich sagen.« Heinrich beugte sich vor. »Ins Visier wollen wir einsame Frauen nehmen, die sich schwer damit tun, Freunde zu finden. Falls sie auf der Suche nach einem Ehemann sind, umso besser.«

Der General klappte die Akte zu und schob sie über den Tisch. »Das war’s für heute. Sie studieren den Rest. Noch Fragen?«

»Nein, Herr General.«

Heinrich stand auf. »Meine Sekretärin führt Sie nach unten, wo Sie Ihren Ausweis bekommen. Dann gehen Sie sofort nach Hause und packen. Punkt eins müssen Sie bereit sein.«

»Geht in Ordnung, Herr General.« Stefan nahm die Akte und ging zur Tür.

»Ich erinnere Sie daran, dass Sie niemandem sagen dürfen, was Sie tun, wo Sie hingehen oder für wen Sie tätig sind. Verstanden?«

Stefan drehte sich noch einmal zu Heinrich um. »Jawohl, Herr General.«

»Das gilt auch für Traude. Sie wollen ihr doch sicherlich keinen Schaden zufügen, oder?«

»Nein, auf keinen Fall.«

Die Erwähnung seiner Tochter und die angedeutete Drohung bestürzten Stefan. Wenn er bloß auf diesen Schweinehund losgehen und ihn über seinen großen Schreibtisch zerren könnte! Aber das war ausgeschlossen, wenn er nicht wieder im Gefängnis landen wollte. Er packte die Türklinke so fest, dass seine Finger abrutschten. Beim zweiten Versuch gelang es ihm, die Tür zu öffnen und den Raum zu verlassen.

Auf dem Weg zur Sekretärin brütete er über der verschleierten Drohung. Was könnte Heinrich Traude antun, falls ihr Vater nicht nach des Generals Pfeife tanzte?

 

 

 

 

 

 

Kapitel 5: Rasterfahndung

 

 

Bundesnachrichtendienst, Pullach, Montagmorgen, 18. Juli 1977

 

Sabine war im Begriff, ihr Büro zu verlassen – Kaffeetasse in einer Hand und Akte in der anderen –, als ihr Chef eintrat. Er trug ebenfalls eine Tasse vor sich her. »Bleiben Sie. Wir können hier sprechen.«

Sie kehrte um und verschüttelte fast ihren Kaffee, als sie sich schwungvoll in ihren Schreibtischstuhl setzte.

Dorfmann ließ sich im Besucherstuhl nieder und lächelte schief. »Dieses Wochenende hatten Sie Gelegenheit, unsere Expertin für Rasterfahndung zu werden. Eigentlich sehen Sie dafür recht ausgeruht aus.«

»Sehr witzig, Chef.« Sie tippte auf die Akte. »Ich bin vielleicht keine Expertin, aber ich weiß alles, was hier drin steht. Und ich kann Ihnen eines versichern: Rasterfahndung ist eine Sackgasse, was das Ausfindigmachen von Stasi-Spionen betrifft.«

Dorfmanns Lächeln schwand. Er stützte die Ellenbogen auf die Schreibtischplatte. »Das darf doch nicht wahr sein.«

Sie zuckte mit den Achseln. »Es wird nicht funktionieren.«

»Sind Sie da so sicher?«

»Tatsache ist, dass die Rasterfahndung vom Bundeskriminalamt für die Enttarnung linksgerichteter Terroristen entwickelt wurde, und selbst dafür hat sie sich nur in wenigen Einzelfällen als erfolgreich erwiesen.«

»Bitte begründen Sie Ihre Schlussfolgerung, warum uns mit dieser Methode keine Spione ins Netz gehen werden.«

Sabine heftete ihren Blick auf eine Stelle an der gegenüberliegenden Wand und konzentrierte sich darauf, wie sie ihre Meinung am besten erklären könnte. Sie atmete tief durch und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Dorfmann zu. »Wenn es funktionieren soll, müssen wir erst einmal einzelne Individuen innerhalb unserer Tätergruppe ausfindig machen und bei diesen nach gemeinsamen Eigenschaften suchen, das heißt, ein entsprechendes Profil entwickeln. Dann erst können wir eine Rasterfahndung durchführen, die dieses Profil mit Daten von Wohnsitzregistrierungen, Polizeiakten, Versicherungsunterlagen, Mietverträgen, Telefonaufzeichnungen, Zahlungen an Stadtwerke und so weiter vergleicht.«

Dorfmann rutschte auf die Kante seines Stuhles. »Augenblick mal, ist das alles wirklich notwendig?«

»Oh ja.«

»Dazu bräuchte man mehr Leute, als wir zur Verfügung haben.«

»Selbst wenn wir das Personal hätten, diese Methode wäre für uns undurchführbar.«

Dorfmann runzelte die Stirn. »Warum?«

»Weil sich, im Gegensatz zu linksgerichteten Terroristen, Stasi-Agenten nicht ohne Weiteres in ein Profil zwängen lassen. Wir besitzen nun mal leider keine Informationen, mit denen wir einen Computer füttern könnten, damit er uns bedeutsame Ergebnisse liefert.« Die Kiefer verkrampft hielt sie dem Blick ihres Chefs stand. »Wie sagen die Amerikaner so schön?« Sie machte eine Kunstpause. »Garbage in, garbage out.«

»Auf gut Deutsch: Wenn man Müll hineinsteckt, kommt auch Müll heraus.« Seine strenge Miene lockerte sich, und sie hätte schwören können, dass er sich ein Schmunzeln verkniff. Er blickte sie immer noch an und sagte: »Also gut. Sie haben unsere Zweifel an der Tauglichkeit der Rasterfahndung bestätigt. Sie kann uns nicht helfen, Spione zu enttarnen. Aber das löst unser Problem nicht, oder?«

»Kaum.«

»Der Kanzler wird jeden Tag ungeduldiger. Er will, dass wir diese Stasi-Spione umgehend außer Gefecht setzen. Haben Sie sich eine neue Methode einfallen lassen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Leider habe ich das ganze Wochenende über herauszufinden versucht, ob und wie die Methode der Rasterfahndung für uns funktionieren könnte.« Sie unterdrückte die Gedanken an den Opernabend und sagte: »Um mir etwas anderes auszudenken, hatte ich keine Zeit.«

Sein Gesicht nahm einen schelmischen Ausdruck an.

Sabine stöhnte. »Sie brüten doch etwas aus, Chef, und ich glaube nicht, dass mir das gefallen wird.«

Er faltete die Hände über dem Bauch und lehnte sich zurück. »Es kann sein, dass ich von jetzt auf gleich nach Bonn zitiert werde. Und wer als unsere neueste Expertin würde sich besser dafür eignen, dem Kanzler zu verdeutlichen, warum wir die Rasterfahndung nicht benutzen?«

Sie drohte ihm scherzhaft mit dem Finger. »Ich hatte schon öfter den Verdacht, dass Sie eine gemeine Ader haben.«

Dorfmann grinste. »Gut gekontert. Aber im Ernst – Sie sollten mich nach Bonn begleiten. Und auf keinen Fall wollen wir ohne einen Vorschlag hinfahren, wie wir Stasi-Spione enttarnen können. Sie sind kreativ und haben Ideen. Sie können sich bestimmt etwas ausdenken, das funktionieren wird.«

Sabine hielt seinem Blick stand. Er verließ sich auf sie, also musste sie dafür sorgen, dass sie nicht mit leeren Händen dastanden. »Okay. Ich werde Tag und Nacht nur an Stasi-Spione denken, sogar wenn ich eigentlich schlafen sollte.«

Dorfmann nickte zufrieden, stand auf und deutete auf die Akte. »Zurück ins Archiv, bitte.« Er nahm seine Tasse und ging zur Tür. Dort drehte er sich noch einmal um. »Immer schön an den silbernen Mercedes denken.«