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Phil Humor

Rückblicke historischer Persönlichkeiten





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Inhalt

 

Rückblicke historischer Persönlichkeiten

 

Historische Persönlichkeiten erinnern sich, ziehen Bilanz, wenden sich dem Geleisteten zu. Mut zum Resümieren; wie ehrlich ist man sich selbst gegenüber? Das Leben einmal nicht als Aneinanderreihung von Tagen, sondern als Gesamt-Konzept begutachtet.

 

41 Storys und Gedichte über:

 

Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Miguel de Cervantes, Casanova, Sandro Botticelli, Alexander Puschkin, Marcel Proust, Alexander der Große, Georg Friedrich Händel, Edgar Allan Poe, Isaac Newton, Mozart, Sarah Bernhardt, Hernán Cortés, Meister Eckhart, Demetrius, Leonardo da Vinci, Marco Polo, Fürst Pückler, Prinz Eugen, Heinrich Heine, Goethe, Dante, Rembrandt, Michelangelo, Napoleon, Martin Luther, König Saul, Jules Verne, Georges Bizet, Ludwig XIV., Lola Montez, Ludwig I., Hildegard von Bingen, Barbarossa, Matthias Claudius, Paul Gerhardt, Homer, Kassandra, Octavian, Kleopatra

 

 

 

Es herbstet für Fjodor Michailowitsch Dostojewski

 

Herbst des Lebens - mal schauen, welchen Ernte-Ertrag kann ich verzeichnen? Wird der Name Fjodor Michailowitsch Dostojewski dereinst mit geziemendem Respekt gehandelt, oder hat die Historie nichts Besseres zu tun, als meine Werke zu zermalmen mit dem Gewicht künftiger Ereignisse? Wird es standhalten können, ist es ephemer? Man überhäuft mich nun mit Ehrungen, Ehrenmitgliedschaften. Am Zarenhof bin ich willkommen; ich, den sie nach Sibirien geschickt haben - für vier Jahre in Ketten - wegen unwillkommener Meinungsäußerung; wollte ich den Umsturz? Keineswegs, mir schwebten Verbesserungen vor - aber wie verbessert man, ohne das Bestehende unvorsichtigerweise vollends zu zerstören? Behutsam vorgehen ... Was sollen diese Ernte-Gedanken - wahrscheinlich befinde ich mich in einer anderen Jahreszeit: dem Winter.

 

Wie lange will ich noch in Heilbäder und Kurorte flüchten? Den Sommer herbeisehnen, dass man zu allem die Kraft hat. Nicht sehr glaubwürdig, wenn einem elend zumute ist; dabei jubilieren meine Gedanken, ich bin in so ausgelassener Stimmung, da meine Rede so begeistert aufgenommen wurde. Kann der Körper nicht mitziehen, bereitwillig mit in Festlaune sein? Aber er winkt ab, ihm ist nicht nach Tanzen. Seltsamer Kontrast: Meine Gedanken sind voller Schwung - sie sollten sich nach einem anderen Körper umsehen. Alexander Puschkin zu Ehren hielt ich die Rede - sein Denkmal wurde enthüllt; donnernden Applaus geerntet. Sie drängen mir die Ehrungen auf, als ob sie sich beeilen müssten, als ob alle Welt ahnt, dass die Zeit drängt.

 

Viel zu viel Zeit dem Glücksspiel gewidmet; alles verspielt. Was ist das für eine Leidenschaft, die mich jedes Mal elender zurücklässt, wie kann man Gefallen daran finden, wie kann man ernsthaft glauben, dass sie das Glück verwahrt? Ich hätte Briefmarken sammeln sollen so wie meine Frau. Wann habe ich dem Friedsamen abgeschworen? Aber es hat etwas Faszinierendes, wenn das Roulette-Rad beschließt, in Deinem Willen zu agieren; es neckt Dich zunächst, opponiert gegen Dich; wie kann man so überzeugt sein, dass man gewinnt, da doch jeder Tag das Gegenteil beweist? Man erntet gewissermaßen auch Unkraut; wie hat man das Feld bestellt?

 

Ich hätte mehr schreiben sollen - die Befindlichkeit Russlands analysieren, Ratschläge erteilen; tja, in meiner Puschkin-Rede ist mir das vorzüglich gelungen: Ein Mahner, ein Beschwörer - es hatte etwas von einer Predigt, eindringlich, die Zukunft in ihre Köpfe projizierend - in meinem Alter kann ich mir das Prophetische anmaßen, es wird einem zugestanden. Das ist der Vorteil des Herbstes: Man gilt auf den ersten Blick hin als weise; bejahrt, man kann punkten mit Glaubwürdigkeit. Und das sollte ich mir nicht zunutze machen, Rücksicht nehmen auf die Westler und Slawophilen? Ach was, ich zeige ihnen auf, dass sie gar nicht so uneins sind. Soll sich Russland am Westen, an Europa orientieren - oder sucht es sich seine Vorbilder in den eigenen Reihen? Ich habe sie auf Puschkin verwiesen, der es verstand, sich hervorragend in die Seelen anderer Nationen zu versetzen, sie zu durchschauen, sich nicht scheute, sie nachzuahmen - um vom Universellen einen Eindruck zu bekommen. Man kann sich nicht im eigenen Land verschanzen - es gibt überall Vorbilder.

 

Ich konnte die Begeisterung schüren - doch was stell ich jetzt damit an? Dem Propheten zittert die Hand, mit der er die Richtung weist - und doch sind es dieselben Gedanken, die ich schon vor zwei Jahrzehnten hatte - doch erst dem Alter bescheinigt man Visions-Wahrhaftigkeit, alles andere seien Fantastereien. Es endet hier; der Winter ist nicht dazu gemacht, dass einen Frühlingsgefühle beleben. Seltsam dieser Kontrast: Die Innenwelt Frühlings-offensiv, doch mein Äußeres winkt ab - das macht es nicht mit.

 

Gibt es das: dass verschiedene Jahreszeiten in einem sind? Gesprenkelter Mensch, zusammengesetzt aus vielen Bereichen. Woran soll man die Moral festmachen, da Darwin uns zu den Tieren gesellt? Ich will nicht auf das Christentum verzichten; wie es integrieren? Es scheint, es habe keinen Platz mehr, die Menschen sind bemüht, sich Ismen auszudenken - allen voran der Nihilismus. Jetzt gerade bin ich erfüllt vom Sinn meines Lebens, die Ovationen scheinen mir recht zu geben, dass Denken zu etwas nütze, dass die Literatur es vermag, neue Konzepte anzubieten, Gegensätze zu überbrücken, Brückenschlag ins Jenseits, erahnen, was Aufgabe eines jeden Volkes sei - sich die Andersartigkeit zunutze machen und davon profitieren. Große Worte - beherzige ich sie denn?

 

Ich halte zum Zaren; so sollte das Bewusstsein gleichermaßen regieren können - und nicht, dass ihm Affekte eine Revolte bereiten. In mir ist es am Gären, ich bin uneins mit mir - war ich schon immer. Die Epilepsie als Verhöhnung des selbstbestimmten Menschen. Mich durch tausend Leidenschaften gewunden; aber lohnt es denn, einem Eremiten nachzueifern, ein Starez sein in unablässigem Gebet? Wenn man es nun vermag, sich selbst Zar zu sein, in der Gewissheit, dass die Befehle nicht unerhört verhallen …? Davon bin ich weit entfernt, ich höre meine Kommandos und ignoriere sie. Was für ein Herbst wäre es, wenn ich folgsam gewesen wäre, wenn mein Wille stark genug gewesen wäre - was hätte ich vollbringen können? Ich aber jage meinen Leidenschaften hinterher, als sei ich ein Hund, der eine Katze jagt - überlassen seinem Instinkt, einer Jagdlust, die erbärmlich ist. Er könnte sich mit der Katze anfreunden. Ein Traum, Illusion. Wir werden immer bereit sein, den uns dargebotenen Feinden kläffend hinterherzurasen.

 

Man warf mir vor, dass ich mich zu großzügig bei hochklassigen Autoren bediene, abkupfere - um mir selber Glanz zu verleihen. Aber man muss ja erst seinen eigenen Weg finden, da braucht man Kartenmaterial. Ich habe nie ein Hehl daraus gemacht, wen ich bewundere, wem ich Ehrerbietung zolle. Und dass mir es vergönnt war, Alexander Puschkin zu ehren mit meinen Worten, gibt mir die Hoffnung, dass ich ihn erreiche - wenn ich mich auf die Zehenspitzen stelle. Die Ehre, dass auch ich Vorbild sein könnte. In einer Kette, deren Glieder immer zugleich Lehrer und Schüler sind - Belehrte und die, die das Wissen weiterreichen und vermehren. Auf dass meinem Winter ein Frühling folgt - nicht mein Frühling, aber dessen, den man inspiriert hat - sodass der Geist niemals stirbt; ähnlich einer Pflanze, die sich in immer neuen Ablegern neu erfindet. Dann sollte mir das Verfärben der Blätter kein Anlass zur Sorge sein.

 

Schon seltsam, dass dann meine Romane und Novellen für mich sprechen sollen; meine Figuren haben ihre eigenen Ideen, Meinungen - es sind nicht die des Autors, er distanziert sich davon, hat seine Meinungen unzählige Male revidiert - er braucht die vielen Stimmen der Figuren, sie sind Chor, verstärken seine Stimme - sie hallen weiter, der Autor verlässt die Bühne; nur noch umgeben von Echos. Wie könnte man Echo nicht lieben? Es sei denn, man ist Narziss und bevorzugt die eigene Präsenz.

 

***

 

Acht Monate nach der Puschkin-Rede starb Fjodor Michailowitsch Dostojewski.

 

ENDE

 

Fjodor Michailowitsch Dostojewski zwischen Anna und Polina


Anna Snitkina hat meinen Heiratsantrag angenommen; das ist ein Erfolg, nachdem Polina Suslowa meine beiden Heiratsanträge abgeschmettert hat. Ist Anna ein Trostpreis? Sie interessiert sich für mich, meine Werke, sie sieht in mir Fjodor Michailowitsch Dostojewski, den großen russischen Literatur-Künstler, sie blickt zu mir auf. Diese Blickrichtung gefällt mir entschieden besser als Polinas Sichtweise: Bin ich ein hechelnder Hund, der auf ihre Liebkosungen, das Gekrault-Werden lauert? Sie hat mich verdammt noch mal zu respektieren! Aber mach das mal einer Femme fatale klar. Denkmäler habe ich ihr gesetzt in meinen Werken, jetzt gerade wieder: In 'Der Spieler' - ein Romänchen, kein ausgewachsener Roman, hingepfeffert in 26 Tagen unter äußerstem terminlichem Druck, sonst wäre eine Konventionalstrafe fällig; aber ich habe es geschafft - dank Anna, ich habe ihr diktiert, sie hat meinem Diktat gehorcht ... Eine Stenotypistin ... In ihrer Gegenwart fühle ich mich wie ein Potentat, der zum Herrschen berufen ist, vertrauensselige Untertanen erwarten von ihm nur das Beste. Was wird das hier? Ein Rechenschafts-Bericht? Wem, außer meinem Gewissen, wäre ich Rechenschaft schuldig? Gott? Ich wollte mich von ihm lossagen, fand ihn in Sibirien wieder; ein ungewöhnlicher Ort, aber etwas Seelenwärme brauchte ich - es wäre kein Weiterbestehen möglich. Für 4 Jahre das Neue Testament als einzige Lektüre; Gehirnwäsche? 4 Jahre in Ketten, das hat mir einen Begriff davon gegeben, was es heißt, wenn der Geist in Ketten liegt; er steckt im Weltlichen fest, befreie ihn. Erlösungs-Metaphern - stattdessen begebe ich mich geradewegs in die Hölle, in die feine Hölle der Spielhallen; schön ausgekleidet mit Samt, Brokat, Glamour. 3000 Rubel - und kein Gegenwert - nur Ratlosigkeit sitzt mit mir am Roulettetisch; meine Überzeugung, zu gewinnen, dass ich mittels der Rechenkunst und der Intuition dem Schicksal ein Schnippchen schlage. Ich habe mich verkauft - für 3000 Rubel, Anleihen genommen auf meine Zukunft, stehe im Dienste, habe mir selber diese Ketten angelegt; ein Sklave des zu Erbringenden. Fortuna schuldet mir nichts, ich habe geglaubt, sie bezirzen zu können durch Gelichgültigkeit gegenüber ihren Reizen, mich unempfindlich zeigen gegenüber dem Charme des Geldes. So wie Aleksej in 'Der Spieler': Das Gewonnene, die Glückssumme nicht horten, sondern alles verjubeln in einem Rausch, in einer Orgie des Schenkens; Menschheitsbeglückung steht auf meinem Programm - vormals gedachte ich es zu erreichen mit Sprengung der Monarchie, jetzt klammere ich mich an sie. Wo sind meine Meinungen, wechsel ich sie so rasch? Wo ist Beständigkeit? Aber wenn man Krisen als Stromschnellen ansieht - plötzlich geht alles schneller; das Flusswasser bleibt nicht geruhsam im Bett, es tritt über die Ufer, es reißt die Hütte mit. Warum bin ich spielsüchtig, suche ich darin Gefühle, die Ausgangsmaterial sind für meine Romane? Das Leben langweilt mich; das Außerordentliche, das das Roulette-Rad demjenigen bietet, der es wagt, mitzubieten - es ist wie eine Eintrittskarte in eine Welt, die der unseren verwandt ist, als ob sie ihr großer Bruder sei. Es ist, als sei diese Welt nicht erwachsen - und meine Sehnsucht richtet sich auf große Gedanken, so wie Gemüse, das man auf dem Markt als zu mickrig empfindet. Ich liebe das Glücksspiel - aber es scheint mich nicht zu lieben - oder ist es ein Segen, Zeitdruck geerntet zu haben? Verleger, die mir im Nacken sitzen, Zeitschriften-Redaktionen, die gierig sind auf neue Kapitel ... Alles verspielt, ich verspiele die Grundlagen meiner Existenz, es bröckelt unter mir, und ich muss es rasch ersetzen durch Geschriebenes.


Brauche ich den Zeitdruck? Ist das der eigentliche Grund, warum ich mich in so missliche Lage bringe? In die Ecke gedrängt, wird die Ratte zum gefürchteten Gegner. Ich nehme es dann auf mit den großen Dichtern, lasse mich nicht ängstigen durch ihren Schatten - und schreibe wie der Teufel. Mein Roman 'Der Spieler' handelt von Wartenden - eigentlich handelt er von mir, meiner Liebe zu Polina, die ich nicht verstehe; sie bricht herein in mein Leben, eine Naturgewalt; man sagt dem Sturm nicht, geh weiter; man sagt dem Blitz nicht, verschone mich. Urgewalt der Liebe - und wenn Du den triffst, der Dir als Inbegriff Deiner Sehnsucht erscheint, die Verkörperung eines vorgegebenen Ideals, dann achtest Du auf die Abweichungen - und weißt nicht, ob Du Dich freuen sollst oder ärgern, dass sie nicht vollkommen ist: Es erschiene einem sonst göttlich; aber sie nimmt es Dir übel, wenn Du sie an ihre Fehler gemahnst - Polina hätte mich bewundern sollen, ich, ihr Professor, ihr Lehrmeister - sie, die Studentin, in einer Zeit, da Frauen nicht studieren, sie fordert die Zeit heraus.


Bin ein Süchtiger - selbst nach Vollendung dieses Sucht-Romans, in dem ich dezidiert und minutiös beschreibe, was das Glücksspiel mit dem anstellt, der ihm in die Tentakel gerät. Fangarme - was anderes ist denn die Liebe als ein Krake? Bloß sind ihre Arme hübscher ... Da hänge ich Betrachtungen nach über Polinas Schönheit - und komme doch gerade von Anna, ihr Jawort als Beute bei mir; was fange ich jetzt damit an? Auf was hat sie sich eingelassen? Sie weiß von meiner Epilepsie; als ob das die einzigen Anfälle wären; Spielleidenschaft. Der Wunsch, die Welt zu ordnen mittels meiner Werke, sie im Kompakt-Modus den notwendigen Betrachtungen zugänglich zu machen, dass die Situation anschaulich wird, man klarere Schlüsse zu ziehen in der Lage ist. Nicht mal ich selbst bin fähig, mir das zunutze zu machen, was ich auf dem Papier offeriere: Man kann Weisheit nicht aufklauben wie wilde Beeren; umsonst, dass ich meine Erkenntnisse in Handlungen, Geschichten zwänge. Herr sein über sich selbst - die Leibeigenschaft aufheben; welchem Diktat gehorche ich hier? Auf dieser Ebene bin ich es, der diktiert - und das in beachtlichem Tempo. Anna hat mich gerettet, ihre Stenografie hat dieses Tempo ermöglicht. Nachts erdacht, am Tage zu Papier gebracht; das schwebende Wort - wie eine Feder - sie greift danach und steckt die Federn zusammen zu einem passablen Vogel. Hat sie gelitten, da ich so intensiv sprach von der Liebe zu Polina? Wie viel hat mein Protagonist Aleksej mit mir gemein? Bin ich auch so ein Trottel, der das Geld einer Mademoiselle Blanche schenkt? Er sollte sich was daraus machen; vielleicht will er das Geld nicht, weil dann der Reiz des Spielens nicht mehr da ist? Der Nutzwert des Geldes ist höher, wenn man nichts hat; es von einer Million Rubel auf zwei zu steigern, das ist nicht so prickelnd; der Totalverlust, die Angst muss als Einsatz da stehen. Auf dem Feld Manque oder Passe. Mit dem Rücken zur Wand; verdammt! Kann ich nicht ohne Zeitnot meine Romane schreiben, wozu das Drängen? Not macht erfinderisch - ich muss mit meiner Existenz einstehen - erst dann wird es wahrhaftig. Anna bewundert mich - aber ist es gleichwertig mit Liebe? Ich habe das Gefühl, ich kann ohne sie nicht mehr sein, sie stützt mich, hält zu mir, obwohl ich ihr alle meine Schwächen offenbart habe; verdammte Liebe! Warum findet man sie nicht dort, wo sie sein sollte, wo es vernünftig wäre. So macht sie doch gar keinen Sinn. Polina richtet mich zugrunde, Anna richtet mich auf. Und ich werde Polina weiterhin Briefe schreiben, ängstlich besorgt, dass unsere Verbindung abbrechen könnte; die Brücke zur Vergangenheit abbrechen - wenn das nun ganz gezielt möglich wäre - würde ich das wollen? Will ich meine Jahre in Sibirien vergessen? Aber sie bedeuten mir etwas; erst die Scheinhinrichtung - der Schrecken steckt mir immer noch in den Gliedern. Aber es ist verwertbar; so kostbar war mir noch nie das Leben; wie in den Momenten, die den Epilepsie-Anfällen vorangehen: pures Glück in Erwartung des Schrecklichen, Verschmelzung mit der Gesamt-Masse Welt, nicht vereinzelt, ein Alles-Versteher. Darauf arbeite ich doch hin als Schriftsteller - andere wählen den Weg der Wissenschaft.


Wir werden aus Sankt Petersburg fliehen müssen, ich sehe es kommen; es macht einen Unterschied, ob man freiwillig auf Reisen ist oder von Gläubigern gejagt. Und immer wieder soll mein Schreiben das richten, fliehe in das Fiktionale, nehme mir aus dem Realen ein paar Möbel mit, extrahiere das Wesen und verpflanze es ins Fiktionale. Ist das Wesen das Wesentliche? Wenn ich mich also alles Zufälligen entledige, dann bleibt das Wesen, die Seele des Ganzen - wie ein Bildhauer etwas freimeißeln? Die Skulptur aus dem Marmorblock befreien. Was schleppe ich denn da ins Fiktionale - sind es Doppelgänger, verzerrte Wesen, erbärmliche Karikaturen? Ist es Rache an Polina, dass ich sie im 'Spieler' als Überreizte, ja Kranke porträtiere? Anna wartet gewiss darauf, dass ihr Gleiches widerfährt: Sich wiederzufinden in einem Roman, von Seiten begrenzt. Vermag sie es, Muse zu sein? Belaste ich sie nicht mit Unerfüllbarem?


Was für eine Tat - ein Buch in 26 Tagen - und das verdanke ich meiner Schuldenlast. Die Schulden plädieren auf schuldig. Für 9 Jahre hätte mein Verleger Stellowski das Verwertungsrecht an meinen Büchern - und striche die Summe ein. Dank Anna bin ich gerettet, dank ihrer Geschwindigkeit, ihrer Auffassungsgabe, ihrer unverhohlenen Begeisterung für mein Schaffen. Das muss einen Mann entzücken - gleichwohl finde ich sie nicht entzückend. Sie ist phänomenal - seltsames Phänomen die Liebe. Anna - alle ihre Vorteile summieren sich nicht zum Gesamtergebnis 'Liebe'. Liebenswert schon - ach, dass ich immer das begehren muss, was mich zugrunde richtet. Wo finde ich Heilung? Diese Raserei der Spielsucht; Polina - ihre furiose Macht über meine Sinne; zur Hölle mit ihr! Aber ich würde wie Orpheus versuchen, sie von dort zurückzuholen - vielleicht nicht mit Gesang, aber mit Beschwörungs-Sätzen. Worte als Magie. Man vertraut darauf als Schriftsteller, dass sie magisch tätig sind, sie sollen bewerkstelligen, was man als Person nicht vermag. Worte, die wirkungsmächtiger sind, über die Statur eines Einzelnen sich zu einem Koloss versammeln.


Man hat aus unsinnigeren Gründen geheiratet: Dankbarkeit wäre in nicht allzu schlechter Gesellschaft. Dankbar dafür, dass sie mir ein nicht-furioses Leben ermöglichen würde. Ich bin die Streiterei leid, Polinas Ausspähen nach meinen Fehlern, ihre Vorhaltungen - das verbessert mich nicht, es macht mich zu einem schlechteren Menschen; sie kehrt die dunkle Seite in mir hervor - und das will mir nicht gefallen, stört kolossal meine Fantasie-Gebäude; ich brauche Klebstoff - wie bei Kartenhäusern, dass sie stoßsicher stehen, Zusammenhalt, Festigkeit. Die Femme fatale trampelt auf meiner Seele rum, vollführt ihre Salon-Tänze darauf - durchaus stilvoll. Anna, rette mich! Rette mich vor mir selbst.


ENDE


Miguel de Cervantes‘ Testament


Da noch ein wenig Zeit und da die Poesie

mir etwas schuldet: sei in meiner Kompanie,

marschieren wir gemeinsam in das Abendrot.

Du meine große, unerfüllte Liebe; Not

hat ich mit dir – ach ja, was haben wir gerungen.

Oh, Poesie, hätt Welt so gern mit dir besungen.

Doch Prosa hielt zu mir, mein treuester Kumpan.

Kometenhaft mit ihm hinauf; auf schönste Bahn.

Erfolg aus heit‘rem Himmel? Eher Blitz und Donner.

Ich fror - und trage nun ganz stolz mein SiegesBanner.


Erfolg kommt anders, als man denkt; dem wilden Schicksal

das Zaumzeug anzulegen? Töricht; sehr fatal.

Dein Schicksal beißt und bockt und bäumt sich epochal.

Wirst abgeworfen. Flüster ihm gut zu. Die Wahl

musst scheinbar du ihm überlassen; zügle dich.

Wer spornstreichs durch sein Leben reitet leidenschaftlich,

als Don Quijote will er Illusionen fangen.

Wo war es abenteuerlicher: Mein Verlangen,

als Mann mich zu bewähren auf dem Feld der Ehren

mit Ritter-Idealen die Welt ganz keck belehren

ja über Wert, Vorzüglichkeit vom Ich; als Ware

mit Gold kaum aufzuwiegen. Waren‘s Handels-Jahre?

Ein Krieger? Kaufmann! Handel mit dem Ich, statt handeln.

Die linke Hand hat‘s mir versehrt. Zurückverwandeln?

Dem, was gewesen, nachzutrauern? Nostalgie.

Gab mir der Don Quijote recht? Denn mir gedieh

beim Weiterkämpfen manch ein schöner Sieges-Baum.

Ich nährte ihn mit Hoffnung; Keim gepflanzt im Traum.


Mit rechter Hand geschickt Geschick links liegen lassen.

Geschrieben Vorzeigbares. Fantasie verprassen.

Wer reich an Fantasie, kann solche Münzen prägen.

Was geb ich an! Mehr Geld, daran wär mir gelegen!

Von ungerechten Herrn zu Unrecht ins Gefängnis

gebracht. Die Ausweglosigkeit! Ich hass Bedrängnis!

Doch Hass verwandeln; nicht von ihm verwandeln lassen.

Bat Gott um Rat: Wie überwind‘ ich Welt? Zu hassen,

wer mich versklavt, mir meine Freiheit nimmt mit Fesseln,

die Seele, Körper binden - Fegefeuer prasseln -

und dennoch diese lieben - himmelaufwärts zielen?

Ach, Don Quijote, gleich ich dir und deinen Mühlen?


In Algier halb‘ Jahrzehnt, ‚ne halbe Ewigkeit

gedient als Sklave; wahrte ich mir Seelen-Ganzheit?

Ich werd‘ es bald erfahren, denn meine Seelen-Glanzzeit

ist am Verdimmen. Lebenslicht. Leg nach ein Scheit!

Es flackert unruhig, aber ich bin ruhig. Grube.

Gemütlicher ist‘s in der trauten, warmen Stube.

Vertraut ist mir die Grube; wie oft reingestolpert?

Auf meinem Lebensweg Fortunas Karren holpert.

Verschaukelt von den hohen Herrn, dem hohen Herrn.

Mein Glück tritt ein? Die Glücks-Tür zuschlag‘n und versperr‘n.


War Kriegsheld in Lepanto - große Ambitionen.

Empfehlungsschreiben an den König, könnte thronen

in Luftschloss. Doch Korsaren nahmen mir die Freiheit.

Man sagt, ich hätte andren Mut gemacht; bereit,

in Algier König Hassan Pasha kühn zu trotzen.

Erfuhr von meinem größten Mut; ich konnte strotzen

vor Mut und Lebensenergie. - Woher kam sie?

Ganz Algier wollte ich erobern. Ist Magie.

Im größten Ungemach entdeckt man das Gemach,

was Seele bislang blieb verborgen. Dank der Schmach.

Es ist im Dunklen schwaches Licht mit einmal sichtbar?

Dukaten, 1000 Stück, beendeten Gefahr.

Ein hohes Lösegeld, doch wer erlöst die Seele?

Verrat, dass ich mein Seelen-Schiff nicht selber stehle.


Sind die Korsaren immer aus, uns zu versklaven?

Korsaren kapern schnell dein Lebensschiff; die Braven

erwischt es ebenso wie Böse; Frommheit sinnlos?

Wie soll man steuern in dem Chaos-Meer? Mein Los:

nur lose schwankend in dem Auf und Ab? Wo fest

sich täuen? Unsinkbares Schiff? Ist Leben Test,

ob man den richt‘gen Kahn auswählt? Mit Dir im Boot,

oh Gott, ist Zuversicht berechtigt, keine Not

kann solchem Boot dann schaden? Uneinnehmbar sein.

Spricht so ein Kriegsheld? Sei doch sichtbar und erschein.

Vielleicht wird mir dies Privileg schon bald gewährt?

Hätt Dich in meinen Schriften gerne mehr geehrt.


Mein Lebens-Schiff, es steuert letzten Hafen an.

Dass ich vor ruhiger Bucht vor Anker gehen kann?

Erwarte ich das wirklich? Erstens kommt es anders

und zweitens als man denkt. Ich fand mich stets woanders,

als ich es mir erdacht. Hast mir es zugedacht,

trotz allem ein erfülltes Leben; große Pracht.

Bin reich - auch wenn Beförderungen ausgeblieben.

Ich konnt‘ mit Schicksal fechten und die Finten üben.

Hab angetäuscht und hab mich selber überlistet.

Gewiss, hab manches Jahr in Kümmernis gefristet.


Der Don Qujote hat am meisten profitiert.

Mein Wissen, Lebensweisheit wurde ihm serviert.

Er saß an reicher, intellektueller Tafel.

Und ohne meine Gruben, gäb‘ es bloß Geschwafel.

Und auch als zweiter Band als Plagiat erschien,

als Invektive - wurde mir es zum Rubin:

Nicht Zornesröte ob der Schmähung, sondern Anlass,

um daran weiter zu gesunden. Aderlass.

Durch Mangel, neue Stärke aufbau‘n, mir erwerben.

Ich schließ den Brief, sei es mein Testament; könnt erben.

Sei Euer Erbteil das, was ich erfahren und

Euch mitgeteilt - ich schließ die Augen und den Mund.


Was Ihr noch hört, so Ihr es wollt, sind meine Werke:

Wenn Ihr so auf mich hört und mir nicht grollt; ich merke:

Der Don Quijote führt sie alle an, folgt ihm.

Vielleicht ist er ja unser aller Pseudonym.


ENDE


Du Casanova


Giacomo Casanova geht in der Bibliothek des Schlosses Dux auf und ab. Er ist allein in der Bibliothek. "Ich bin nicht allein! Wie kann jemand, der seit acht Jahren an seinen Memoiren tüftelt, Einsamkeit für sich beanspruchen? Ich habe Euch eingeladen: Vertraute, Freunde, meine Alter Egos. Und insbesondere ein Alter Ego steht mir im Geiste gegenüber: der junge Casanova, der unternehmungslustige - was hätte ich ihm anzubieten an Weisheit? Das zumindest hätte ich doch auf der Habenseite meines Lebenskontos jetzt vorfinden müssen, da ich das andere meiner Kameradin, der Zeit, aushändigen musste. Was die Zeit verwahrt; mit Erinnerungen ist's möglich sich etwas auszuleihen - ich habe es weidlich genutzt, wie Jäger auf Pirsch in meinem Memoiren-Revier. Will es trefflich schildern. Ach, was scheren mich die Leser; erzählte es mir selbst ... war mir Genuss; da um mich Argwohn, Gleichgültigkeit. Ja, es ist Flucht in ein Paradies, was ich mir selber schön gestaltet habe mit dem Federkiel - die Worte aufs Papier gebettet, so träume ich von dem, was ich mir errungen habe - dennoch ist es bloßer Sand, der mir zwischen den Fingern durchrinnt. Ist nichts Kostbares daran; bin auch bald Sand ... oder ist da mehr? Meine Erinnerungen sind dann noch lebendig - durch das Festhalten mittels des Papieres, ganzer Papierberge; türmt Euch gewaltig. Es ist Wahnsinn, so lange zu brüten über der Vergangenheit; welches Ei ... welches Küken ... wird es jemals die Schale verlassen, in die Welt hinaustreten? Lasse ich es zu? Steht so vieles darin, was lieber ungesagt bliebe; aber sie sind ja längst gegangen. ... Schikanieren sie mich oder bilde ich's mir ein? Freche Diener? Ein Dutzend Jahre verweile ich hier schon. Immer wieder ankämpfen gegen den Zorn, mich beruhigen, mich meinen Erinnerungen voll und ganz zuwenden können mit glattem Seelenspiegel; das ist wichtig. Will mir nicht auch noch Erinnerungen verzerren zu garstiger Grimasse, so wie mir Gegenwart erscheint. Fratze alles; grobe Gefühle; wo sind sie hin die Feinheiten, das Wortspiel? Geist braucht Klangraum, so wie Stimme; will vibrieren, Opernsaal erklingen lassen. Sie schmähen mich! Bin selber Diener. Bibliothekar. Nicht Gast in diesem Schloss."

Er bleibt vor dem großen Wandspiegel stehen. "1797 … 72 Jahre schauen Dich an; ich drehe am Zeitrad kraft meiner Gedanken. Ist meine jetzige Situation so elend, dass ich immerfort flüchte in goldene Ära, wo Lust und Lebenshunger gigantisch bleiben? Es ist ein Dahindämmern. Vielleicht sollte ich dankbar sein für die Boshaftigkeiten, das Sticheln ... bewirkt, dass ich mich zurückziehe in meine Memoiren-Festung, sie weiter ausbaue, verstärke ... sie ist mir prächtig gelungen; stattliche Burg, zeigt was her. Wenn sie falsch wäre, sie würde zusammenstürzen wie Karten-Haus. Aus Spielkarten mein Glück gemacht? Habe das Risiko geliebt, nun ja, corriger la fortune war stets dabei; ja, ich bin ein Gauner, ein Spitzbube. Aber das Leben verlangt nach List, jedenfalls, wenn man es ordentlich leben will, soll heißen, nach Herzenslust. - Und Andacht, Läuterung soll jeder Wonne-Moment sein; das Leben als Reigen der Wonne; warum nicht? Warum sich kasteien? Ich habe es versucht, nicht mein Gusto."

Er spricht zu seinem Spiegelbild. "Könnte ich den jungen Casanova sehen - von ihm Abschied nehmen - was wird bleiben, mehr als erhofft? Mir ist so endzeitmäßig zumute. Ich trete ein ins Land jenseits des Spiegels; wäre doch großartig, wenn es weiterginge, mit neuen Lustigkeiten - würde Gott mit am Pharao-Tisch sitzen, er hält die Bank; wissen, welche Karten kommen ... Casanova, wende Dich der Zukunft zu, Du kannst es, sieh: Die Karten sind nicht verdeckt, drehe sie Dir zurecht; schau, welche Zeichen sie tragen; dass ich mystisch werde; Frevel an Gottes Ordnung? Die habe ich ganz schön durcheinandergebracht - das behaupten die in der Ordnung Lebenden. Ist es Gottes Ordnung - ist es Ordnung, diktiert von Bedürfnis nach Zuwendung, Geborgensein? Ich bin Solitär. Wie Baum auf Feld. Stehe nicht im Wald; um mich keine Schonung, Setzlinge. Zerzaust. Keine Schonung, sie gehen mit mir hart ins Gericht; wodurch ihren Unmut hervorgerufen, wie ihn besänftigen?"

Sein Spiegelbild verwandelt sich. "Mein Spiegelbild verjüngt sich!"

Er fasst sich in sein Gesicht. "Gehen wir ab hier getrennte Wege? Willst mich nimmer spiegeln, wie ich bin, sondern wie ich war? Ist das der Segen des Wahnsinns, wenn man übergroßen Kummer hat, dass Gott Erscheinung bringt?"

"Man nennt das Mobbing", meint sein Spiegelbild und klettert aus dem Spiegel. "Psycho-Terror. Ich könnte es genauer diagnostizieren ... Deinem prekären Seelenzustand verdanke ich meine Existenz. Gestatten, ich bin Dein Alter Ego, aber ich bin noch mehr. Das ist die Überraschung."

Casanova: "Das ist doch schon allerhand an Überraschung."

Er reibt sich die Augen. "Was tu' ich denn! Sollte dankbar sein für diese Manifestation meiner nostalgischen Träumereien. Bleibe nur! Fühle Dich wie zu Hause!"

Er deutet auf einen Stuhl. Sein Alter Ego steigt vom Stuhl auf die Tafel. "Hier servieren sie Dir das Essen?! Fordere Deine Rechte! Na ja, Vorwurf meinerseits: warum das Glücksspiel? Geld investieren ins Glück, das ja. Genauso ist es mit Beziehungen: Man erhält schönen Gegenwert in Form von bürgerlicher Solidität. Was ist es Dir Abscheu, Gräuel? Die Tücken, die Schikanen würde man mit derlei Polster als sanfte Knüffe empfinden. Dich aber zwickt und zwackt es bei jeder störenden Bewegung eines Mitmenschen. Bewegung baut Stress ab."

Casanovas Alter Ego tanzt Kasatschok auf dem Tisch. Das Geschirr vibriert. Casanova: "Dass Sehnsucht sich dergestalt projiziert. Ich will's für ein Wunder halten. Warum an meinem Verstand zweifeln, da momentan die Wunder rar geworden sind in meiner Zaubershow. Die Frauen haben mich bezaubert, ich sie - es gehört auch dazu die Bereitschaft, den Zauberer gelten zu lassen - vielleicht hapert es daran: Man spottet über mich ... ich poche auf Größe und diskreditiere mich durch das Festhalten an dem, was ich früher gelernt habe. - Du leuchtest."

"Es ist wie mit dem Katzenauge", entgegnet Casanovas Alter Ego, "ich reflektiere, was Du mir so anbietest an Lumineszenz, Strahlkraft. - Kommen wir zur Überraschung: Du sprichst mit Deinem Ideal. Habe demgemäß Kontakt zum Weltwissen, gastiere nicht nur in zeitgebundener Form."

Casanova: "Jetzt werde ich auch noch von meinem Ideal von oben herab behandelt. Komm da runter vom Tisch."

Er umfasst dessen Handgelenk, zieht, doch sein Alter Ego zieht ihn zu sich herauf. "Kräftemessen. Wer ist in der Realität stärker? Ideal oder derjenige, der sich im Herrschaftsbereich der Realität aufhält und um die Königin Realität scharwenzelt?"

Sein Alter Ego richtet sich auf. "Könnte es Dir den Rücken stärken, wenn ich Dir zusichere, dass die Mühen, die du mit Deinen Memoiren hattest, entlohnt werden? Die Abenteuer eines Ganoven avancieren in die Liga der Weltliteratur; ist das magnifiker Schelmenstreich, der Dir Lachen herbeizaubert?"

Er kneift ihn in die Wange. Casanova: "Per aspera ad astra - durch Mühsal gelangt man zu den Sternen; wobei ich die Ars amatoria gar nicht so sehr als Mühe betrachte. Als Fleiß. Die Liebeskunst zu feiern, ihrer zu gedenken, ein Denkmal aus Buchstaben getürmt, meine Memoiren als Weihestätte lustvollen, prallen Lebens. Ach, ich steigere mich da grotesk hinein ... was soll mir Begeisterungsfähigkeit, Jubel des Herzens und sonstiger Körperteile, wenn ich bereits beim Treppensteigen nach Luft schnappe? - Ich gestehe es: Egoismus ist der Stern, dem ich gefolgt bin. Habe mich in Situation manövriert ... Gegenwind; keine Ruderkräfte, die mir beistehen, sitze alleine in meinem Boot, völlig allein."

Casanova stolpert, sein Alter Ego stützt ihn. "Darin habe ich Übung: Für Dich da zu sein, Dich zu halten, damit Du nicht umkippst. Oder aber mein Spezialgebiet: wenn Du am Boden liegst, Dir die Kraft zu geben, dass Du weiterkämpfen kannst. Sieh an, ich idealisiere mich gerade, huldige mir auf unverschämte Art. - Ja, Deine Memoiren werden ein Erfolg! Dank konstanten Mobbings hier auf dem Schloss Dux, hinterhältiger Neider und daraus resultierender Schmutz-Atmosphäre zogst Du es vor, Dich zurückzuziehen in das Refugium 'Erinnerung'. Neun bis zehn Stunden am Tag sich besonnen auf die innere Sonne; Gedanken umkreisen als Planeten den Ort, von woher Lebensglut stammt. 'Geschichte meines Lebens' - 1800 Doppelseiten, eine Mammutleistung. Ich gratuliere Dir."

Sein Alter Ego verbeugt sich und zieht seinen Hut mit schwungvoller Geste. Casanova: "Vielleicht war es Suche nach Schutz; wenn man näht, dann ist ein Fingerhut hilfreich."

"Oder eine Nähmaschine", meint sein Alter Ego lächelnd, "ja, ich bin ein Wissender; kann lesen im Zukunfts-Buch; wird Maschinen geben, die den Menschen überlegen sind bei mancher Arbeit; doch eine Autobiografie zu verfassen, die die Menschen fasziniert, - auf dem Gebiet wird der Mensch unschlagbar sein ... Mag sein, es gibt eines Tages Computer, Maschinen, die das Rechnen so vervollkommnet haben, dass sie jeden Gedanken, jedes Gedankengebäude in Rechenbausteine transformieren können."

Casanova kippt vom Tisch. "Mach nur weiter so, mir ist schwindelig; glückserfüllt, weil Du mir attestiert, dass mein Werk den Menschen etwas bedeuten wird - aber andererseits besteht gute Wahrscheinlichkeit, dass ich vor Gram, Ermüdung, Überdruss wie wild fantasiere und an das Reich des Wahnsinns poche, mit Vehemenz den Zutritt wünsche, fordere. Was hat das bewirkt? Warum erscheint mir Welt so unwirklich, dass mich Deine Anwesenheit nicht schreckt? Zu lange im Fantasie-Reich mich aufgehalten? Gewiss, Erinnerungen haben Fundament, sind nicht vollends Luftgespinste. Fühle mich wie Läufer bei Schach: Kann nur diagonal mich bewegen, begrenzt auf eine Farbe. Durch Dich eröffnet sich mir die Möglichkeit, sämtliche Felder betreten zu können? Spiegelwesen."

Casanova streckt seine Hand aus und streicht seinem Alter Ego über die Wange. "Als Sahnetupferl: Du wirst sprichwörtlich. Du Casanova."


ENDE


Casanova und die Sylphe


"Wie real magst du sein? Bist der erste Luftgeist, den ich zu Gesicht bekomme. Gesichte haben. Es wäre entschuldbar, wenn sich mir Visionen anbieten: als Ausflucht. Da an Flucht nicht zu denken ist. Und dennoch denke ich ununterbrochen daran. Halblautes Geschwätz. Kannst du mir folgen? - Du lächelst. Habe Fieber. - Mein Gewissen könnte Beichte vertragen. Willst mir zuhören? Vielleicht dich äußern?" Giacomo Casanova streicht sich über seinen Bart, will seine Haare ordnen, seine Hände sinken nieder.

"Bin 'ne Sylphe. Passend für deinen Geschmack. Du bevorzugst das Ätherische, die Schönheit ohne die Verbindlichkeit des Fassbaren - es in der Schwebe halten, es nicht dahin kommen lassen, dass man ehelicht. Du Casanova. Bist Legende. Noch nicht. Aber dereinst. Für mich sind die Zeiten durchlässig. - Frage mich, was das Künftige dir verkünden wird." Die Sylphe schwebt neben ihn auf seine Lagerstatt. Casanova reicht ihr Stroh. "Mach's dir bequem. Als Gastherr würde ich dich gerne verwöhnen mit Pracht, dekadentem Luxus, übertriebener Essens-Fülle. Ein paar Brotkrumen." Er schnipst diese zu ihr. "Willkommen im Dogenpalast. Oberstes Stockwerk - unterm Bleidach: die nie richtig temperierten Bleikammern von Venedig. Ort für Geister? Die Lebensgeister zumindest suchen das Weite. Sei ein gnädiger Luftgeist ... Sylphe ... bleibe eine Weile. Bis ich mich gefangen habe. Ha! Gefangener - doch meine Gedanken sind elend frei. Suchen Orte auf, an denen es Glück gab für meinen Geist. - Wenn der Körper so schlaff, in Erbärmlichkeit vegetiert das Körperliche, dann strebt der Geist in Regionen, die alles widerlegen sollen: Nach großem Sinn steht der Sinn, der alles zurechtrückt, was im Leben durcheinandergeraten ist." Die Sylphe reicht ihm eine Kelle Wasser. Er versucht ihre Hand zu erreichen; die Sylphe stützt ihm das Kinn. "Mächtiger Bartwuchs; seit Monaten schon hier eingesperrt. Kammer kann es mit deiner Größe nicht aufnehmen: gehst gebeugt darin. Lorenzo, dein Wächter, lässt dir Freiheiten; einige Bücher; doch das Buch, was ich mit dir schreiben könnte, das überträfe sie an Ablenkungs-Potenzial. Flieh mit mir in Visionen-Welten, lasse sie als realer gelten als die Maja-Welt."

wenn ich dich damit einreib.

Der Feenstaub ist so praktisch.

Komm wag's und sei mir gleich."

Sie hat etwas Feenstaub auf ihrer Hand und pustet es ihm zu. "Es glitzert. Tolle Gaben. Ja, ich tauche ein in Feenstaub-Aura. Vermutlich Fieber-Wahn - aber gehört mit seiner plastischen, präzisen Art zu meinen Favoriten-Halluzinationen. Ein bisschen schweben - ja, das könnte mich herausreißen aus dem Trübsinns-Morast. Lass mich bloß nicht los. An dich hänge ich mein ganzes Gewicht, du ätherisches Wesen. Verlange vom Himmlischen, dass es meine Sündenlast hochhieve." Casanova sackt auf sein Bett zurück. "Ich habe nicht den Mut zu Objektivität und dem Schwebe-Manöver - es wird funktionieren, ja - aber ich werde mich wahrscheinlich danach entsetzt von mir abwenden. Bin kein Elementargeist. Mein Element ist der Lebens-Rausch. Benebelt von einem Zuviel an Lebens-Üppigkeit. Und wie nach jedem Rausch ist der Suchtfaktor gestiegen - könnten Götter solches Übermaß ad infinitum steigern? Ich versuche gerade, es mir zu visualisieren und es zu spüren." Er greift nach der Sylphe, küsst ihren Arm. Der Feenstaub verteilt sich im Raum.

"Mir ist, als würden die Kammerwände fortgerissen. Wenn Luftgeist mir es möglich machen möchte, dann wage ich den Flug, will mich anvertrauen meiner Sylphe. - Mag sein, dass es solche Bilder sind, solche Reisen, die einen Mann überleben lassen das Dunkle, das was da zerrt an ihm, um in Orkus ihn gefangen zu halten. Da kommt Feenstaub, glitzert - und die Gedanken sind frei - befreit. Bereit zu Objektivität und einem Schwebezustand, der ihn in Höhen führt, die für einen Astralleib zu bewältigen sind. - Werde mir Rechenschafts-Bericht anschauen - meine Bilanz begutachten. Man erntet, was man sät: Meine Ernte wird in gewisser Hinsicht sehr mager sein. Vielleicht vermag ich literarisch einiges vorzuweisen - wenn ich denn ein Leben damit verbringen kann, memoirens-werte Episoden zu planen und auszukosten." "So ist es recht; erhöhe es ins Literarische; dann wird dir viel verziehen. Die Sphären-Geister tauchen gerne auf in Erlebenswertem, Erzählenswertem. Sei stolz auf: die 'Geschichte meines Lebens'."

ENDE