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Petra Steps

Mörderisches Erzgebirge

11 Krimis und 125 Freizeittipps

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2019

(Originalausgabe: Wer mordet schon im Erzgebirge?)

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung: Julia Franze

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © dedi / Fotolia.com, © Edith Czech / shutterstock.com

ISBN 978-3-8392-5410-3

Petra Steps:
Was für ein Auftrag!

Adina betrat die Lobby des Hotels »Chemnitzer Hof« 1. »Wow«, sagte sie gerade noch so leise, dass der Portier ihre Begeisterung nicht hören konnte. »Was für ein Auftrag! Ich bin doch nur zum Glück auf der Welt«, dachte sie sich und ging nach rechts an die Rezeption. Zum Auftakt ihres Erkundungstrips ins Erzgebirge wollte sie es ein wenig mondän. Ihre Reisekasse ließ den Aufenthalt im besten Haus am Platz locker zu. Draußen im Gebirge konnte sie dann ein bisschen sparen. »Wahnsinn. Das Haus kannte schon meine Urgroßmutter Adina, deren Name ich trage«, setzte sie ihre Gedanken bis zur Ankunft am holzgetäfelten Empfangstresen fort. Der Portier begrüßte sie mit einem freundlichen »Guten Tag, was kann ich für Sie tun?« »Einen wunderschönen guten Tag. Mein Name ist Adina Pfefferkorn, ich hatte ein Einbettzimmer reserviert.« Es dauerte nicht lange, bis Adina die Formalitäten erledigt und ihr Zimmer bezogen hatte. Bevor sie sich für die nächsten Tage häuslich einrichtete, raffte sie die Gardine zurück und blickte auf den Theaterplatz mit der St. Petrikirche, dem Opernhaus und dem König-Albert-Museum. Nach einem erneuten »Wow« wandte sie sich wieder dem Hotelzimmer zu, legte ihren Koffer auf das Bett, entnahm die Waschtasche und begab sich ins Bad.

Den Chemnitzer Hof hatte sie wegen ihrer Urgroßmutter ausgewählt. Wie oft mochte die Adina von damals hier entlanggegangen sein? War sie eine Theaterliebhaberin und Stammbesucherin des Opernhauses? Oder mochte sie eher die Ausstellungen im Museum am Theaterplatz mit den Städtischen Kunstsammlungen 3? Auf diese und andere Fragen hätte Adina nur zu gern Antworten gefunden. Doch sie schraubte ihre Erwartungen nicht sehr hoch. Zu wenig wusste sie über ihre Urgroßmutter. Während Adina das heiße Wasser über ihre müde Haut laufen ließ, kehrten ihre Gedanken zur Kunstsammlung zurück. Der gute Ruf des Hauses hatte sie sogar in Berlin ereilt. Und das wollte angesichts der übergroßen Fülle an Kunstausstellungen in der Bundeshauptstadt etwas heißen! Richtig beschäftigt mit dem Thema hatte sie sich jedoch erst, als sie den Auftrag für das neuartige Tourismusportal bekommen hatte. Der Trennung von Sascha und damit auch von ihrem Job waren mehrere Monate des Herumtingelns und Durchschlagens mit kleineren Aufträgen gefolgt, mehr schlecht als recht. Dann hatte ihre Freundin Mia sie auf ein Angebot der Firma eines Freundes aufmerksam gemacht. Zuerst hatte Adina die Beschreibung der Unternehmensphilosophie belustigt. »Storytelling« war das Zauberwort, das die Publikation dominierte. Als ob das etwas Neues wäre! Sie kannte es schon aus ihrer Studienzeit, in der sie sich mit Journalismus, Medienproduktion sowie Tourismus- und Eventmanagement beschäftigt hatte. Und in ihrem Job hatte sie auch nichts anderes gemacht. Sie wusste, dass man die Menschen am besten über ihre Vorstellungskraft und ihre Emotionen packen konnte. Jetzt, genau zehn Jahre später, hatte eine Marketingagentur diese Methode als Allheilmittel entdeckt. Das Berliner Unternehmen griff die Idee des Geschichtenerzählens auf. Es bedeutete, nicht mehr ein Hotel, ein Museum, eine Werkstatt, einen Wanderweg als Produkt zu bewerben, sondern Geschichten darüber zu erzählen, die neugierig machten. Adina wusste nicht mehr, an welcher Stelle des Prospektes es bei ihr gefunkt hatte. Noch am Abend schrieb sie ihre Bewerbung und eine Beispielgeschichte, schickte die Unterlagen per Mail und am kommenden Morgen zusätzlich per Post an die Agentur. Ein Anruf am Nachmittag zeigte ihr, dass sie sich das Papier hätte sparen können. Für die Einladung zum Vorstellungsgespräch hatte die E-Mail vollkommen ausgereicht. Ob Mia im Hintergrund ein bisschen an der Schraube gedreht hatte, wusste Adina bis heute nicht. Auch Freundinnen haben bisweilen Geheimnisse voreinander. Nach dem Gespräch hatte sie mit ihr auf den Großauftrag angestoßen. Adina konkurrierte mit einem Reisejournalisten aus Köln, der sich auf die alten Bundesländer stürzte. Sie sollte mit dem Erzgebirge beginnen und sich dann den Weg in weitere Regionen des Ostens bahnen.

Adina rubbelte mit dem flauschigen Baumwollhandtuch ihre Schultern ab und arbeitete sich nach unten vor. Dabei ließ sie die Vorarbeiten für das Projekt noch einmal vor ihrem geistigen Auge Revue passieren. Die Unterschrift unter ihrem Vertrag war noch nicht getrocknet, da hatte sie schon einen Blog eröffnet, indem sie sich und ihre Pläne vorstellte. Danach hagelte es Nachrichten mit Vorschlägen und Geheimtipps. Sie hatte sich schon beim Durcharbeiten in das Erzgebirge verliebt. Und in Julian, aber das war eine andere Geschichte. Ein Stich ließ sie zusammenzucken. Die kurze, aber heftige Affäre hatte sie noch nicht wirklich verarbeitet. Da war sie bei ihrem Auftrag deutlich erfolgreicher, denn sie hatte sich mit vollem Enthusiasmus in die Arbeit gestürzt, Informationen gesammelt, gesichtet, Vorrecherchen betrieben. Schon wieder zuckte sie zusammen, denn Julian war bei einigen Kurztrips dabei gewesen. Diesmal begab sie sich allein auf Reisen. Ein Schleier legte sich über ihre Augen. »Dumme Kuh, du kannst nicht mit und nicht ohne. Der nächste wird nur noch ambulant aufgenommen, nicht mehr stationär«, legte sie fest. Das Gefühl von Einsamkeit und Verlassensein war das Letzte, was sie jetzt brauchte. »Auf ins Chemnitzer Nachtleben«, befahl sie sich.

Adina hatte nach dem Einchecken im Hotel einen Blick auf die Abendkarte des Restaurants geworfen. Ihr waren locker vier oder fünf Gerichte aufgefallen, die sie reizten. Sie beschloss jedoch, die Entscheidung auf den nächsten Abend zu vertagen und zuerst das »Schalom«  zu erkunden. Ihre Wahl fiel auf einen engen Rock zum blau-weiß gemusterten Oberteil. Sie schminkte sich sorgfältig. Nach ein paar am Hals verteilten Spritzern aus dem Euphoria-Flakon warf sie ihren Mantel über, zog die Zimmertür ins Schloss, fuhr mit dem Lift in die Lobby und verließ das Haus. Adina lief in Richtung Zentralhaltestelle, um von dort aus zur Heinrich-Zille-Straße zu gelangen. An einer der Haltestellen wartete eine Gruppe von Frauen auf einen Bus, der gerade um die Ecke bog. Kinder mit großen Sporttaschen stiegen aus und berichteten euphorisch vom Sieg über die »Lappen«, mit denen vermutlich die gegnerische Mannschaft im Fußball gemeint war. Die Fanklamotten vom Chemnitzer Fußballclub legten den Schluss nahe. Adina bewegte sich weiter in Richtung Dunkelheit. Schnell musste sie feststellen, dass am unteren Ende des Busbahnhofes Zäune den Weg versperrten. Sie drehte um und bog in die Georgstraße ein. Der Weg führte sie über den Brühl, auf dem leer stehende Gebäude mit zur Sanierung eingerüsteten oder schon sanierten Häusern wechselten. Da Adina nicht genau wusste, welche Querstraße sie benutzen musste, schaltete sie die Navigation auf ihrem Smartphone ein. »Mist, zu weit«, knurrte sie, doch da stand sie bereits auf der Müllerstraße. Sie sah sich einer Gruppe junger Männer gegenüber, die sich nicht für sie zu interessieren schienen. Was sie gerade trieben, konnte sie wegen der Entfernung und der etwas spärlichen Beleuchtung in diesem Bereich nicht erkennen. Adina blickte auf ihre Navi-App und vernahm die Stimme der Frau, die sie Uschi nannte. »Drehen Sie wenn möglich um«, forderte diese mit Vehemenz. Es blieb ihr nichts anderes übrig als bis zur Elisenstraße zurückzugehen und die nächste Querstraße zu nehmen. Von dort aus sah sie das jüdische Restaurant bereits. Durch die Scheiben erblickte sie das bunte Wandbild mit einer siebenarmigen Menora, prallen Früchten sowie Abbildungen von markanten Gebäuden in Jerusalem und Chemnitz. Dass die Stadt auf der rechten Seite Chemnitz war, erkannte sie am Karl-Marx-Monument 5.

Während Adina das Restaurant betrat, machte sie, was sie immer machte, wenn sie allein eine Gastwirtschaft besuchte: Sie blickte kurz, aber zielgerichtet in die Runde, um den für sie angenehmsten Platz zu finden. Die Tische vor dem Wandbild waren reserviert. In der hinteren Ecke saß ein Mann, der ziemlich finster vor sich hin blickte. »Einladend sieht das nicht gerade aus. Er will bestimmt den Tisch für sich alleine beanspruchen«, dachte Adina und machte erst gar keine Anstalten, ihn nach einem freien Platz zu fragen. Sie wandte sich nach rechts und gewahrte einen freundlich lächelnden Mann hinter dem Tresen. »Schalom«, hauchte sie ihm entgegen. »Darf ich hier Platz nehmen?« »Schalom! Natürlich. Suchen Sie sich einen Stuhl aus, es sind genügend da«, antwortete der Herr im schwarz-weißen Outfit. Dass er eine Kippa trug, sah sie erst jetzt. Es machte ihn doppelt sympathisch. Adina mochte Menschen, die zu ihrer Weltanschauung standen, auch wenn sie in bestimmten Kreisen damit aneckten oder sich gar Anfeindungen aussetzten. Hier schien die Welt jedoch in Ordnung zu sein. Zumindest glaubte das Adina zu diesem Zeitpunkt noch. Koscheres Bier hatte sie noch nie getrunken, deshalb bestellte sie zum Essen eine Flasche Simcha aus der Hartmannsdorfer Brauerei. Dazu las sie in der Karte einen kleinen Text über die Braukunst im Allgemeinen und über die besonderen Anforderungen an ein Bier, das jüdischen Speisegesetzen genügte. Adina wählte Falafel und Hummus als Vorspeise sowie Latkes mit Gemüse als Hauptgang. »Sicher ist dann noch Platz für gebackene Apfelspalten auf Zimtjoghurt«, ergänzte sie die Bestellung. Danach nahm sie den ersten Schluck Simcha und wischte sich den Schaum von den Lippen. Die Zeit bis zum Eintreffen der Vorspeise nutzte sie für ein wenig Smalltalk mit dem Kippa-Mann, der sich ihr dabei als Hausherr vorstellte. Sie erfuhr etwas zur Geschichte des Restaurants und zu den Gründen für den Standortwechsel vor wenigen Jahren. Ihr Heile-Welt-Bild von Chemnitz bekam die ersten Kratzer. Während sie genüsslich die Falafel in den Hummus tauchte und dazu vom Fladenbrot abbiss, hörte sie Kellner und Geschäftsführer über den Mann in der hinteren Ecke tuscheln. Sie fuhr ihre Lauscher aus, konnte aber nur etwas von »komischer Kauz« verstehen. Dann hatte sich der Kellner bereits wieder seiner Arbeit zugewandt und ihr das köstlich duftende Gemüse mit den Latkes serviert.

Das Lokal hatte sich langsam geleert. Auch der Mann mit dem verbitterten Gesichtsausdruck hatte seinen Platz längst verlassen. Sie hatte ihn nicht gehen sehen. Aber er war ohnehin kein Typ, zu dem sie freiwillig Kontakt gesucht hätte. Adina beschloss, sich noch einen Absacker zu gönnen und bestellte einen Schoppen vom funkelnden Shiraz. Den Rotwein kannte sie von einem Besuch in einem israelischen Weingut. Während sie den edlen Tropfen in kleinen Schlucken trank, unterhielt sie sich weiter mit dem Mann hinter dem Tresen. Ihre Zunge hatte sich ein wenig gelockert und sie erzählte bereitwillig von ihrer Suche nach Spuren jüdischen Lebens in Chemnitz. Beim Gang zur Toilette bemerkte sie die Wand, an der sich viele israelische oder jüdische Künstler verewigt hatten. Als Datum erschien immer wieder der Monat Februar. Der Kellner, der hinter sie getreten war, klärte sie auf. »Im Februar finden in Chemnitz die Tage der jüdischen Kultur statt. Mehrere Wochen ist hier ein Treffpunkt für Künstler aus aller Welt. Viele von ihnen sind Juden und kommen gern zu uns ins Restaurant.« Adina hatte davon gehört, aber den Zeitpunkt nicht so recht auf dem Schirm. Der Inhaber des »Schalom« gab ihr noch ein paar Tipps mit auf den Weg. »Danke. In die Städtischen Kunstsammlungen gehe ich morgen. Den Termin habe ich von Berlin aus vereinbart. Ich bin extra schon Sonntag angereist, weil Montag dort geschlossen ist. Da bleibt mehr Ruhe für ein Gespräch«, klärte Adina auf. Sie versprach, im Laufe ihres Aufenthaltes mindestens noch einmal ins Restaurant zu kommen und verabschiedete sich. Dann lief sie zur Straße der Nationen, wie ihr die freundlichen Herren empfohlen hatten, und gelangte so auf direktem Wege zum Hotel zurück. Das blinkende Blaulicht auf dem Theaterplatz fiel ihr schon von Weitem auf. Adina wusste sofort, dass der folgende Tag ganz und gar nicht nach ihrem Plan verlaufen würde. Bevor sie mit dem Lift nach oben fuhr, leistete sie sich noch einen Cocktail in der Lounge und hörte etwas vom Einbruch in den Kunstsammlungen. Außer von einem fehlenden Gemälde und einem verletzten Wachmann war jedoch noch nichts durchgesickert.

Adina hatte sich bei ihren Vorrecherchen für die Chemnitz-Reise intensiv mit den Kunstsammlungen beschäftigt und dabei große Namen entdeckt, zum einen in der Dauerausstellung, zum anderen in den wechselnden Sonderschauen. In den Sammlungen befanden sich Werke aus dem 16. bis 21. Jahrhundert, Gemälde der klassischen Moderne, Bilder von Künstlern der Vereinigung »Brücke« und vielen anderen, deren expressionistische Werke während des Naziregimes den Stempel »entartete Kunst« aufgedrückt bekamen. Edvard Munch, Caspar David Friedrich, Georg Baselitz, Lyonel Feininger, Karl Schmidt-Rotluff, Erich Heckel, Ernst Ludwig Kirchner, Max Beckmann waren nur einige Namen aus dem Bestandsverzeichnis, die sich Adina eingeprägt hatten. Eine Verbindung zu jüdischen Künstlern und Israel lag durch die Beziehung zu entarteter Kunst nahe. Immer wieder wurden in den Sonderausstellungen Themen aufgegriffen, die damit im Zusammenhang standen. Bilder von der jüdischen Gemeinde in Shanghai, zu der auch Chemnitzer Juden geflohen waren, Jerusalem Faces von Oskar Kokoschka, Alexander Dettmars Darstellungen von zerstörten Synagogen – Adina hatte davon gelesen und Bilder gesehen. Doch das war längst nicht alles. Andy Warhols »Death and Disaster«, Zeichnungen von Joseph Beuys und Pablo Picasso, Pieter Bruegels Darstellungen des Theaters der Welt, Malerei von Pierre-Auguste Renoir, Edvard Munch und Henry van der Velde, Wolfgang Mattheuer, Neo Rauch – das Who is Who der Kunstszene mehrerer Jahrhunderte hatte sich dauerhaft oder zeitweise in Chemnitz versammelt, zumindest was die Werke betraf. Bob Dylan, sonst eher durch seine durchdringende und bisweilen krächzende Stimme sowie Gitarre und Mundharmonika bekannt, hatte den Chemnitzern zu einer besonderen Premiere verholfen – mit seinen erstmals ausgestellten kolorierten Bildern. Zu gern hätte Adina diese Ausstellung gesehen, doch 2007 hatte ihr Lebensmittelpunkt gerade völlig andere Koordinaten. Er hieß Sascha, war fast zehn Jahre älter als sie und dummerweise ihr Chef bei einem der führenden Reise- und Lifestyle-Magazine Deutschlands. Sie hatte ihn zusammen mit ihrem ersten Job nach dem Studium erobert. Sascha … Adina dachte an den Mann, der die Liebe ihres Lebens bleiben sollte, den Platz jedoch verwirkt hatte.

Je mehr sich Adina in die Namen und deren Biografien vertiefte, umso mehr war ihre Freude auf den Besuch der Kunstsammlungen und ein Gespräch mit der Generaldirektorin gestiegen. Der Termin mit der Kunsthistorikerin hatte den Ausschlag für die Zeitschiene des Chemnitzbesuches gegeben. »Wenn diese Frau keine Geschichten erzählen kann, wer dann?«, hatte Adina den Bogen zu ihrem Projektauftrag gespannt.

Adina saß mit Blick zum Theaterplatz und zu den Kunstsammlungen beim Frühstück und erblickte dort das rot-weiße Flatterband der Polizeiabsperrung. Gerade hatte sie realisiert, dass ihr Termin heute ausfallen würde, da vibrierte ihr Handy. Eine Mitarbeiterin der Kunstsammlungen bestätigte, was Adina längst wusste. Sie würde ihren Plan einfach umstellen, denn Anlaufpunkte hatte sie hier in ausreichender Zahl. Schon länger wollte sie auf den Spuren ihrer Vorfahren wandeln und ihre jüdischen Wurzeln entdecken. Mit dem Projekt konnte sie vieles verbinden. Sie hatte ihre Chemnitzer Urgroßmutter nie bewusst kennengelernt, denn sie war bei deren Tod erst vier Jahre alt gewesen, doch sie trug den Vornamen der Frau, die in der Familie niemand so richtig verstanden hatte. Nach dem Krieg war sie ganz allein in ihre Geburtsstadt zurückgekehrt. Ihr Mann war tot, die Kinder blieben den neuen Heimatorten quer über den Erdball treu. Ein Treffen der Großfamilie in der DDR erwies sich spätestens ab 1961 als schwieriges, wenn nicht gar unmögliches Unterfangen. Und die betagte Urgroßmutter nach Israel oder in die USA einladen, dafür war die Reise zu beschwerlich. Adinas Eltern waren Anfang der 80er Jahre nach Berlin gegangen, weil ihr Vater dort die Außenstelle seines Unternehmens leiten sollte. In Berlin hatte sie die meiste Zeit ihres Lebens verbracht. Ihr Großvater hatte keine Jüdin geheiratet und auch bei ihren Eltern spielte die jüdische Vergangenheit keine besondere Rolle. Doch irgendwann hatte Adina ein Bild ihrer Urgroßmutter in jungen Jahren entdeckt und Fragen gestellt. Ihre Ähnlichkeit mit der Ahnin war nicht zu übersehen.

Adinas Vater war von Westberlin aus ab und an nach Chemnitz gefahren. Die Stadt hieß zu dieser Zeit Karl-Marx-Stadt, der von Einheimischen liebevoll »Nischel« genannte Karl-Marx-Kopf auf der Brückenstraße erinnert heute noch daran. Das trutzige Monument war ihr gleich bei ihren ersten Recherchen über Chemnitz aufgefallen. Damals hatte sie noch überlegt, ob sie die Stadt überhaupt in ihr Tourismusportal aufnehmen sollte. Doch dann war sie mehrfach auf die Bezeichnung »Tor zum Erzgebirge« gestoßen. Und auf Zeugnisse jüdischen Lebens. Sie hatte beschlossen, sich diesem Schwerpunkt zu widmen und dabei gleichzeitig nach Spuren ihrer Urgroßmutter zu suchen. Es musste ja keiner erfahren, dass in ihr jüdisches Blut floss – es war ohnehin verdünnt. Wer ein wenig Ahnung von der Materie hatte, erkannte die Herkunft ohnehin an ihrem Namen.

Adina blickte in ihre Aufzeichnungen, die alle Anlaufpunkte enthielten. »Dann gehe ich heute ins smac, ähh, zu Schocken« 6, legte sie die erste Station des Tages fest. Das Gebäude konnte sie zu Fuß erreichen. Für den nächsten Tag hatte sie im Vorfeld einen Termin auf dem Jüdischen Friedhof  vereinbart. Adina hatte schnell begriffen, dass die Chemnitzer lieber »Schocken« als smac sagten, obwohl das Staatliche Museum für Archäologie Chemnitz abgekürzt so hieß und in seinen Publikationen mit der Abkürzung warb. Mit »Schocken« ließen sich eher Geschichten erzählen. Da war sich Adina sicher. Sie hatte ihren Auftraggeber wissen lassen, dass sie sich hin und wieder Inkognito bewegte, um die Orte erst einmal kennenzulernen und sich nicht dem Erwartungsdruck einer positiven Beschreibung auszusetzen. Adina löste ihre Eintrittskarte und ließ sich einen Audioguide einstellen. Als Pfand übergab sie ihren Führerschein. Der war deutlich unverfänglicher als ihr Journalistenausweis.

In der ersten Ebene lernte gerade eine Schulklasse etwas über die Jäger und Sammler der Altsteinzeit und deren Umgang mit Kalt- und Warmzeiten. Adina schlüpfte an der geführten Gruppe vorbei und fand sich vor einer Tür wieder, die wie von Geisterhand bewegt wurde. Schnell realisierte sie, dass sich hier der Zugang zur Erkerausstellung befand. Sie schlüpfte durch die Öffnung und sah sich der Fensterfront des früheren Kaufhauses gegenüber. In dem gebogenen Schlauch drehte sich alles um Erich Mendelsohn, den Architekten des Gebäudes. Adina las die Biografie und schaute sich die Modelle der Mendelsohn-Bauten an. Den Einstein-Turm in Potsdam kannte sie. Dass Mendelsohn sogar das Hadassah-Universitäts-Krankenhaus in Jerusalem entworfen hatte, überraschte sie ein wenig. Sie war dort wegen der Chagall-Fenster gewesen. Von Modell zu Modell nahm ihre innere Anspannung zu und sie wusste nicht warum. Den Höhepunkt erreichte das ungute Gefühl, als ein Mann aus einer Nische aufsprang und zum Ausgang eilte. »Den hab ich schon mal gesehen«, dachte sich Adina und lief zu der Nische, in der der Mann gesessen haben musste. Sie erschrak, als eine Stimme erklang, die jedoch zu einem Video gehörte. Es hatte sich eingeschaltet, als Adina die Wandvertiefung betrat. Auf dem Sitzpolster lag ein Zettel. Darauf stand in großer Schrift: »Lasst uns das wenige, das wir noch haben.« Adina steckte den Zettel ein, marschierte zum Ausgang und quer durch die Ausstellung zum Treppenaufgang. In der zweiten Ebene wendete sie sich sofort der Erkerausstellung zu. Sie war der Familie Schocken gewidmet, einer Kaufhausdynastie, die neben Tietz und Wertheim Geschichte geschrieben hatte, bis zur Vertreibung durch die Nazis. Adina las Dokumente aus dem Leben von Salman und Simon Schocken, machte sich mit der Unternehmensphilosophie vertraut, lernte Produkte aus der damaligen Zeit kennen und … erstarrte. Aus einer der Vitrinen schrie sie der Name Adina förmlich an. Adina hieß die hauseigene Fotomarke bei Schocken. Und auch eine Yacht soll diesen Namen getragen haben. Adinas Kopfkino spulte einen Film in affenartiger Geschwindigkeit ab. Die Hauptrolle spielten dabei ihre Urgroßmutter und einer der Schocken-Brüder. Wie ein Wolf hatte sie Witterung aufgenommen und blitzschnell ein paar Notizen in ihren Block geschrieben. Den Mann und den komischen Zettel vergaß Adina, während sie im Erker der dritten Etage alles über Salman Schockens Büchersammlung, die Bibliothek in Jerusalem und seine Tätigkeit als Verleger in sich aufsog. Die Bibliothek war ihr in Jerusalem verborgen geblieben, genau wie andere Gebäude, die an die aus Deutschland geflohene Familie erinnerten. Dass ein Schocken-Enkel dem Erbe getreu Herausgeber der »Ha’aretz« war, nahm sie nur noch flüchtig wahr, genauso wie die archäologischen Funde sowie das durch alle Etagen und durch 300.000 Jahre Kulturgeschichte schwebende Sachsen-Modell. In ihrem Bauch hatte sich ein Gefühl von Wut breit gemacht, das sie immer spürte, wenn sie an die Folgen der Judenvernichtung und -verfolgung dachte.

Im Foyer bestellte Adina einen Milchkaffee und setzte sich mit dem Pott an einen der Tische, um in Ruhe nachzudenken. Angesichts des Besucherverkehrs gelang ihr das nur bedingt. Sie wollte allein sein, oder wenigstens ungestört, und keinesfalls in einem Raum gefangen. Beim Blick auf ihre Besuchspläne fiel ihr der Wasserwerkspark  auf. Adina kaufte sich schnell ein Sandwich, lief zurück zum Hotel und setzte sich ins Auto. Über den Südring und die Annaberger Straße gelangte sie an die Zwönitz und parkte am Fuße des Pfarrhübels. Von dort waren es nur wenige Schritte bis zum Parkeingang. Schon nach wenigen Metern umgab sie eine wohltuende Stille, wie sie Adina bei relativ naturbelassenen Anlagen immer empfand. Nur sie, das Rauschen der Zwönitz und das Zwitschern der Vögel. Die Tafeln des Lehrpfades fanden heute nicht das Interesse, das sie ihnen normalerweise gewidmet hätte. Nur die Vögel vermochten sie aus ihren Gedanken zu reißen. Sie hörte einen lauten, hohen Pfiff. Dann sah sie ihn, den Eisvogel, der gerade über die Wasseroberfläche des Teiches flog. Am Ufer entdeckte sie ein Wasseramsel-Pärchen. Sie überquerte die Zwönitz und freute sich über die Fledermaushöhlen, die für zweibeinige Lebewesen tabu waren. Adina lachte noch über das Schild, das das Paddeln in dem Flüsschen verbot, als sie die Reste eines abgeschlagenen Schwefelporlings vor einer alten Buche liegen sah. Sie wandte ihren Blick in Richtung Baumkrone und erschrak. Dass auf dem angenagelten Zettel die gleiche Schrift stand wie auf dem in ihrer Hosentasche, hatte sie sofort bemerkt. In der Ferne lief ein Mann, der sie an irgendwen erinnerte. Auf dem Zettel las sie: »Auch wir haben Rechte!« Diesmal zückte Adina ihr Handy und fotografierte den Wisch. Sie wollte eine Begegnung mit dem Fremden vermeiden, deshalb nahm sie den Weg oberhalb des Parks und fuhr zum Wasserschloss Klaffenbach 9. Den Abend verbrachte sie im Hotel-Restaurant und bei ihren Aufzeichnungen. Im Hotelzimmer begann sie nach ihrem eher seltenen Vornamen zu googeln.

»Ich habe Sie schon erwartet«, rief ihr eine ältere Dame vom Eingang des Jüdischen Friedhofs zu und fügte »diese Ähnlichkeit – unwahrscheinlich« an. Adina stutzte. Was meinte die fremde Dame, die sich ihr als Frau Rosenkranz vorgestellt hatte? »Sie wollen sicher das Grab sehen, auf dem Ihr Name steht. Kannten Sie sie überhaupt noch?«, setzte sie nach. Jetzt fiel es Adina wie Schuppen von den Augen. Die Betreuer des Friedhofs der Jüdischen Gemeinde hatten natürlich ihren Namen gelesen und daraus geschlossen, dass sie das Grab ihrer Urgroßmutter besuchen wollte. Ursprünglich hatte sie sich ja für den ganzen Friedhof interessiert und nach einer Führung gefragt. »Nein, ich kannte sie nicht wirklich. Ich war erst vier, als sie gestorben ist. Bei uns in der Familie hat keiner verstanden, was sie allein im wilden Osten wollte«, klärte Adina auf. »Dann kannte sie wohl keiner so wirklich«, sprach die Friedhofsführerin mehr vor sich hin als zu Adina. »Was wissen Sie von ihr?« Adina bückte sich und hob einen Stein auf, den sie auf den Grabstein legen wollte. »Nicht so viel. Wie Sie sehen, bin ich ja deutlich jünger. Nur dass sie nach Chemnitz zurückkam, wegen ihres Herzens.« »Wegen ihres Herzens?« Frau Rosenkranz senkte ihren Blick auf den Hauptweg, den sie liefen. »Wegen ihres Herzens?«, hakte Adina noch einmal nach. »Sie muss es hier verloren haben. Mehr weiß ich nicht. Und den Namen des Glücklichen oder Unglücklichen hat sie nie erwähnt«, antwortete die Frau. Adina wurde blass. Ihr Gedankenkarussell überschlug sich schon zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit. »Die Fotomarke, die Yacht, das verlorene Herz. Mein Großvater wurde 1934 geboren. Was, wenn er nun gar kein leiblicher Pfefferkorn war? Hatte Adina nicht in einem der jüdischen Kaufhäuser gearbeitet?« Eine Menge Fragen stürzte auf sie ein. Mit einer Umarmung verabschiedete sie sich von der Frau, die sie zur Schabbatfeier in die Synagoge 10  einlud. Dort könne sie auf Menschen treffen, die viel Zeit mit ihrer Urgroßmutter verbracht hatten. Adina antwortete mit einem unverfänglichen »Wenn es meine Termine erlauben«. Als sie den Friedhof verließ und zu ihrem Auto schlenderte, hätte sie den Zettel an der Mauer beinahe übersehen. »Sie sind doch auch so eine und nur hinter Ruhm her!«, stand darauf. Von dem Mann fehlte diesmal jede Spur. Mit einem unguten Gefühl betätigte Adina die Fernbedienung für den Wagen erst, als sie unmittelbar an der Tür stand und drückte auf die Innenraumverriegelung, noch bevor sie sich angegurtet hatte. Den Zettel hatte sie in der Aufregung weder fotografiert noch mitgenommen. Sie notierte sich den Satz, der darauf stand. So langsam wurde ihr die Sache unheimlich. Dass sie ausgerechnet in der Stadt der Moderne, wie sich Chemnitz nannte, pausenlos über Zeugnisse der Vergangenheit, noch dazu ihrer eigenen, stolperte, hatte Adina nun wirklich nicht erwartet. Und noch weniger, dass sie verfolgt wurde. Adina beschloss, zur Polizei zu gehen.

»Sie wollen eine Anzeige aufgeben?«, fragte sie der Beamte am Einlass. »Ich … ich weiß nicht …«, stotterte Adina. »Also ja oder nein? Oder sagen Sie mir einfach, was Sie wollen«, ermunterte er sie zum Sprechen. Adina erzählte ihm von den Zetteln, von dem fremden Mann. »Ich sehe schon, das wird etwas Größeres«, unterbrach sie der Diensthabende und rief einen Kollegen, der Adina mit in sein Dienstzimmer nahm, nachdem er sich als Kriminalkommissar Matthes vorgestellt hatte. Adina war beeindruckt, dass sich ein Kommissar ihres Problems annahm. Sie wiederholte, was sie schon am Einlass berichtet hatte. Der Beamte machte sich Notizen. Inte­ressiert schaute er auf den Zettel und auf das Foto vom Wasserwerkspark. »Ich schicke gleich einen Streifenwagen zum Jüdischen Friedhof. Vielleicht ist der Zettel ja noch da und wir können ein paar Spuren sichern«, ließ sie der Ermittler an seinen Gedankengängen teilhaben. Nachdem er die Kollegen instruiert hatte, stellte er Adina weitere Fragen zum Aussehen des Mannes. »Er sah aus wie der aus dem Schalom«, hörte sich Adina sagen und bemerkte im gleichen Moment, was sie von sich gegeben hatte. Erst während des Redens war ihr klar geworden, an wen sie die Gestalt im Schocken und im Wasserwerkspark erinnert hatte. Sie versuchte, sich den ersten Abend in Chemnitz ins Gedächtnis zurückzurufen. Ihr kam es so vor, als liege das Jahre zurück, so viel hatte sie in der kurzen Zeit erlebt. Sie sprach vom Verlaufen am Brühl, vom leckeren Essen und der Unterhaltung mit dem Kellner, von ihrer Ankunft im Hotel. Der Kriminalkommissar hatte ihr aufmerksam zugehört. Als sie beim Einbruch in den Kunstsammlungen anlangte, hob er die Hand mit einem lauten »Halt«, griff zum Handy und bellte hinein: »Achtung, äußerste Vorsicht. Den Zettel nicht unsachgemäß berühren. Und auf Fußspuren achten. Ich schicke die Spurensicherung gleich nach. Das wird noch interessant.« Es dauerte nicht lange und die Stimme am anderen Ende meldete den Zettelfund. »Wir warten auf die Spusi«, verstand Adina noch. »Sagen Sie, Ihr Name, sind Sie Jüdin?«, fragte der Kriminalkommissar. Adina gestattete einen Einblick in ihren Stammbaum und verriet neben dem Grund für ihre Anwesenheit in Chemnitz etwas über den aufregenden Nebeneffekt in Sachen persönlicher Spurensuche. Der Beamte hielt alles fest, Adina übergab ihm ihre Visitenkarte. »Ich melde mich bei Ihnen, ganz sicher«, versprach er und drückte ihr eine Haftnotiz mit seiner Telefonnummer in die Hand. »Oder ich melde mich, wenn ich wieder eine Botschaft finde.« Adina verließ die Polizeidirektion, lief noch eine Runde um den Schlossteich und fuhr zum Hotel zurück. Den Abend verbrachte Adina im »Chemnitzer Hof«.

Obwohl sie schlecht geschlafen hatte, raffte sie sich am nächsten Morgen auf und unternahm einen Spaziergang zur Moritzstraße. »DasTietz« 11  war ihr Ziel. Sie hatte es schon nach kurzer Zeit erreicht. An den 1913 als vornehmstes Warenhaus Sachsens eröffneten Einkaufstempel erinnerte nur noch die Hülle. Adina hatte die Wahl zwischen Galerie und Museum für Naturkunde. Sie entschied sich für letzteres, vor allem wegen des versteinerten Waldes, der vor dem Umzug des Museums hierher am Zugang zum Theaterplatz aufgestellt war. Spuren ihrer Urgroßmutter fand sie nicht, dafür blickte sie im Lichthof in das Gesicht ihres Verfolgers, der zwei Etagen über ihr an der Brüstung lehnte. Adina bemühte sich, nichts Unüberlegtes zu tun. In der Damentoilette zückte sie ihr Handy und wählte die Nummer des Kriminalkommissars, die sie vorsorglich eingespeichert hatte. »Er ist hier«, flüsterte sie ins Mikrofon, »im Tietz.« Dann schlich sie aus der Toilette und aus dem Gebäude. Sie hörte die Signaltöne der Einsatzfahrzeuge, die aus allen Richtungen zu kommen schienen. Adina drückte den Beamten die Daumen.

Im Hotel schrieb sie eine Mail an ihre Freundin Mia.

Liebe Mia, wundere Dich bitte nicht, dass ich erst heute schreibe. Ich habe aufregende Tage hinter mir und weiß auch jetzt noch nicht, wie das enden soll. Stell Dir vor, ich bin hier an mehreren Stellen auf Spuren meiner Urgroßmutter Adina gestoßen. Du glaubst nicht, wie spannend das alles ist. Ich halte Dich auf dem Laufenden. Adina

Die Antwort kam prompt:

Liebe Adina, mach bitte keinen Unsinn und sei vorsichtig. Du weißt doch – nicht alle mögen an die Geschichte erinnert werden. Dein jüdischer Name kann schon reichen. Wir vermissen Dich – und Deine Berichte. Mia

Als sie die Nachricht las, fiel es Adina wieder ein. Sie hatte einen Blog schreiben und von ihren Stationen erzählen wollen. Das vertagte sie. Auch am kommenden Tag wurde erst einmal nichts daraus. Beim Frühstück erhielt Adina einen Anruf von Kriminalkommissar Matthes. »Frau Pfefferkorn, können Sie um 13 Uhr in die Kunstsammlungen kommen? Wir möchten gern mit Ihnen sprechen. Anschließend hat die Direktorin noch ein wenig Zeit für Sie freigeschaufelt«, sagte er. »Ja, natürlich«, erwiderte Adina knapp, obwohl sie in ihrer Neugier lieber ein paar Fragen formuliert und Antworten darauf bekommen hätte. Den Vormittag vertrieb sie sich im Museum Gunzenhauser 12. Dort wurde sie Zeuge eines Gesprächs von zwei Aufsichtskräften, die sich über das gestohlene Bild aus dem Museum am Theaterplatz unterhielten. »… wieder da …«, hörte Adina den einen sagen.

Kurz vor 13 Uhr öffnete sie die Eingangstür zu den Städtischen Kunstsammlungen. An der Kasse hatte sie den Eindruck, dass sie schon erwartet wurde. Ein Tusch ertönte, dann standen der Kriminalkommissar, die Generaldirektorin und die Chemnitzer Oberbürgermeisterin wie vom Himmel gepurzelt vor ihr, mit einem Blumenstrauß und einem Päckchen mit Katalogen. »Es sind sogar vergriffene dabei, Andy Warhol, Wolfgang Mattheuer, Bob Dylan«, erklärte die Direktorin. Adina wusste nicht, wie ihr geschah, vernahm nur Wortfetzen, während ein Blitzlichtgewitter über ihr herniederrauschte. Als ein Reporter des MDR ihr das Mikro hinhielt und sie fragte, wie sie das hinbekommen habe, wusste sie nicht, was sie antworten sollte. Erst nach und nach war ihr klargeworden, dass dank ihrer Hilfe das gestohlene Bild ins Museum zurückgekommen war. Es hatte auf der Liste der möglichen Beutekunst gestanden und war deshalb ins Magazin gewandert. Ihr Verfolger wollte, dass es in der Ausstellung bleibt und den Chemnitzern nicht verloren geht. Das hatte Kommissar Matthes auf Fragen des Reporters hin ins Mikro gesprochen. Als der Trubel vorbei war, folgte Adina der Direktorin und dem Kommissar ins Büro. Vor lauter Aufregung fiel ihr keine einzige der vorbereiteten Fragen ein. Für ihr Storytelling hatte sie ohnehin genug Stoff zusammen. »Können Sie mir sagen, wie der Mann das gemacht …«, setzte Adina in betont naiver Art an. »Natürlich nicht. Wenn das an die Öffentlichkeit gelangt, können wir uns vor Nachahmern nicht retten«, lautete die Antwort.

Am Abend schrieb Adina dann endlich ihren Blog.

Ihr Lieben, Adina meldet sich aus Chemnitz. Verzeiht mir, dass es mit dem regelmäßigen Bericht nichts wurde. Ihr werdet ohnehin bald aus allen möglichen Medien erfahren, was ich hier getrieben habe. Dank meiner Hilfe wurde der Diebstahl in den Städtischen Kunstsammlungen aufgeklärt. Stellt Euch vor: Der Täter hat mich für eine Beutekunst-Schnüfflerin gehalten. Und ich habe Spuren meiner Urgroßmutter Adina gefunden, die ich gern weiterverfolgen möchte. Dafür muss ich unbedingt noch einmal hierher fahren, zum Beispiel ins Industriemuseum 13, wo auch die jüdischen Fabrikanten von einst Eingang in die Ausstellung gefunden haben. Ansonsten kann ich Euch nur sagen: Chemnitz ist ganz anders. Kommt selbst her und überzeugt euch. Oder wartet auf meine Geschichten im Reiseportal und lasst Euch inspirieren. Eure Adina